2010–2019
Wahrhaft gut und ohne Falsch
April 2015


Wahrhaft gut und ohne Falsch

Die gute Nachricht des Evangeliums Jesu Christi besteht darin, dass sich unsere Herzenswünsche wandeln können und dass wir unsere Beweggründe schulen und veredeln können.

Leider hat es eine Zeit in meinem Leben gegeben, in der Titel und Autorität meine Antriebsfeder waren. Es begann ganz harmlos. Als ich mich auf meine Vollzeitmission vorbereitete, wurde mein älterer Bruder in seiner Mission Zonenleiter. Ich hörte so viel Positives über ihn, dass ich mir einfach nur wünschte, über mich solle man Ähnliches sagen können. Ich hoffte auf eine ähnliche Position und habe vielleicht sogar dafür gebetet.

Zum Glück lernte ich auf meiner Mission eine eindrucksvolle Lektion. Bei der letzten Konferenz wurde ich daran erinnert.

Im Oktober sagte Präsident Dieter F. Uchtdorf: „Im Laufe meines Lebens durfte ich einige der fähigsten und intelligentesten Menschen kennenlernen, die es auf dieser Welt gibt. Als ich noch jung war, war ich beeindruckt, wenn jemand gebildet, kultiviert und erfolgreich war oder den Beifall der Welt fand. Mit den Jahren aber ist mir bewusst geworden, dass mich doch all die wunderbaren und gesegneten Seelen weitaus mehr beeindrucken, die wahrhaft gut und ohne Falsch sind.“1

Mein Held aus dem Buch Mormon ist ein vollkommenes Beispiel für eine wunderbare und gesegnete Seele, die wahrhaft gut und ohne Falsch war. Schiblon war einer der Söhne Almas des Jüngeren. Seine Brüder sind uns ein wenig mehr vertraut: Helaman, der nach seinem Vater die Aufzeichnungen führte und der Prophet Gottes war, und Korianton, der traurige Berühmtheit erlangte, weil er als Missionar von seinem Vater zurechtgewiesen werden musste. Alma schrieb 77 Verse an Helaman (siehe Alma 36 und 37). Korianton widmete er 91 Verse (siehe Alma 39 bis 42). An Schiblon, seinen mittleren Sohn, richtete Alma lediglich 15 Verse (siehe Alma 38). Doch was in diesen 15 Versen steht, ist eindrucksvoll und lehrreich.

„Und nun, mein Sohn, vertraue ich darauf, dass ich an dir große Freude haben werde wegen deiner Beständigkeit und deiner Glaubenstreue vor Gott; denn wie du in deiner Jugend begonnen hast, auf den Herrn, deinen Gott, zu blicken, so hoffe ich auch, dass du fortfahren wirst, seine Gebote zu halten; denn gesegnet ist, wer bis ans Ende ausharrt.

Ich sage dir, mein Sohn: Ich habe schon jetzt große Freude an dir wegen deiner Glaubenstreue und deines Eifers und deiner Geduld und deiner Langmut unter dem Volk.“ (Alma 38:2,3.)

Zusätzlich zu den Worten, die er an Schiblon richtete, sprach Alma mit Korianton auch über ihn. Alma fragte: „[Hast] du nicht die Beständigkeit deines Bruders, seine Glaubenstreue und seinen Eifer im Halten der Gebote Gottes beachtet? Siehe, hat er dir nicht ein gutes Beispiel gegeben?“ (Alma 39:1.)2

Offenbar war Schiblon ein Sohn, der seinen Vater erfreuen wollte. Er tat stets das, was richtig war, eben weil es richtig war und nicht, weil es ihm um Lob, Stellung, Macht, Anerkennung oder Autorität ging. Helaman muss das über seinen Bruder gewusst und an ihm geschätzt haben, denn er gab Schiblon die heiligen Aufzeichnungen, die er von seinem Vater erhalten hatte, zur Verwahrung. Bestimmt vertraute Helaman Schiblon, weil er „ein gerechter Mann [war], und er wandelte untadelig vor Gott; und er war darauf bedacht, beständig Gutes zu tun, die Gebote des Herrn, seines Gottes, zu halten“ (Alma 63:2). Es scheint Schiblons Wesen voll und ganz zu entsprechen, dass in der Zeit, in der er die heiligen Aufzeichnungen verwahrte, nicht viel über ihn geschrieben wurde, bis er sie Helamans Sohn Helaman übergab (siehe Alma 63:11).

Schiblon war wahrhaft gut und ohne Falsch. Er war ein Mensch, der aus Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen seine Zeit, seine Talente und seine Kraft dafür hergab, anderen zu helfen und sie aufzurichten (siehe Alma 48:17-19; 49:30). Man kann ihn absolut zutreffend mit den Worten von Präsident Spencer W. Kimball beschreiben: „Den wahrhaft großen Frauen und Männern geht es immer mehr darum, zu dienen, als zu herrschen.“3

In einer Welt, in der man auf jede erdenkliche Art nach Lob, Stellung, Macht, Auszeichnungen und Autorität trachtet, würdige ich die wunderbaren und gesegneten Seelen, die wahrhaft gut und ohne Falsch sind, diejenigen, deren Antriebsfeder die Liebe zu Gott und ihrem Nächsten ist, all jene wahrhaft großen Frauen und Männer, denen es „mehr darum [geht], zu dienen, als zu herrschen“.

Heutzutage will uns manch einer weismachen, unser Streben nach Bedeutsamkeit könne nur zum Erfolg führen, wenn wir eine bestimmte Stellung oder Macht erlangen. Doch zum Glück gibt es viele, die von dieser Sichtweise unbeeinflusst sind. Sie finden Bedeutsamkeit darin, wahrhaft gut und ohne Falsch zu sein. Solche Menschen habe ich in allen Gesellschaftsschichten und in vielen Glaubensgemeinschaften angetroffen. Auch finde ich sie in großer Zahl unter denen, die wahrhaft bekehrt sind und Christus nachfolgen.4

Ich würdige diejenigen, die jede Woche selbstlos in den Gemeinden und Zweigen in aller Welt dienen, indem sie mehr als das Geforderte tun, um ihre Berufung zu erfüllen. Doch Berufungen kommen und gehen. Noch mehr bin ich von den vielen Mitgliedern beeindruckt, die ohne eine offizielle Berufung nach Möglichkeiten suchen, beständig Gutes zu tun und andere aufzurichten. Ein Bruder kommt früh zur Kirche, um die Stühle aufzustellen, und bleibt nach den Versammlungen da, um die Kapelle wieder herzurichten. Eine Schwester setzt sich extra in die Nähe einer blinden Schwester, nicht nur, um sie zu begrüßen, sondern auch, damit diese blinde Schwester ihren Gesang gut hören, den Text verstehen und mitsingen kann. Wenn Sie sich in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Zweig aufmerksam umsehen, werden Sie ähnliche Beispiele finden. Es gibt immer Mitglieder, die zu wissen scheinen, wer Hilfe braucht und wann man am besten zur Stelle ist.

Ich glaube, meine erste Lektion über wahrhaft gute Heilige ohne Falsch habe ich als junger Missionar gelernt. Ich kam in ein Gebiet, in dem ein Missionar war, den ich nicht kannte. Ich hatte von anderen Missionaren gehört, dass er niemals eine Führungsposition innegehabt hatte und er sich, obwohl er schon lange im Land war, mit der koreanischen Sprache schwertat. Doch als ich diesen Missionar kennenlernte, entdeckte ich, dass er einer der gehorsamsten und treusten Missionare war, die ich kannte. Er studierte zur dafür festgesetzten Zeit und er arbeitete zur dafür festgesetzten Zeit. Er verließ die Wohnung pünktlich und kam auch pünktlich nach Hause. Er lernte eifrig Koreanisch, auch wenn ihm die Sprache allergrößte Mühe bereitete.

Als ich erkannte, dass das, was ich über ihn gehört hatte, nicht stimmte, fand ich auch, dass dieser Missionar zu Unrecht als erfolglos galt. Ich wollte der ganzen Mission erzählen, was ich über diesen Missionar herausgefunden hatte. Ich erzählte meinem Missionspräsidenten, dass ich diese Fehleinschätzung gern geraderücken wollte. Er antwortete: „Der Vater im Himmel weiß, dass dieser junge Mann ein erfolgreicher Missionar ist, und ich weiß das auch.“ Dann setzte er hinzu: „Und Sie wissen es nun auch; wer sonst ist da noch von Belang?“ Dieser kluge Missionspräsident brachte mir bei, worauf es beim Dienen ankam, und das waren nicht Lob, Stellung, Macht, Ehre oder Autorität. Das war eine großartige Lektion für einen jungen Missionar, der den Blick zu sehr auf Titel gerichtet hatte.

Mit dieser Lektion im Hinterkopf fing ich an, mein Leben Revue passieren zu lassen, und ich erkannte, dass ich oft von Männern und Frauen beeinflusst worden war, die zur jeweiligen Zeit keinen wichtigen Titel oder keine wichtige Stellung innegehabt hatten. Einer der Menschen, die Schiblon ähnelten, war mein Seminarlehrer, den ich in der 11. Klasse hatte. Dieser gute Mann hat nur zwei oder drei Jahre lang Seminar unterrichtet, doch hat er mein Herz auf eine Weise geöffnet, die mir half, ein Zeugnis zu erlangen. Er mag nicht der beliebteste Lehrer an der Schule gewesen sein, aber er war immer vorbereitet und sein Einfluss auf mich war prägend und stark. In den 40 Jahren nach seiner Zeit als mein Lehrer sah ich ihn nur wenige Male, einmal davon bei der Beerdigung meines Vaters. Er kam dorthin, um nach mir zu sehen. Weder Titel noch Macht hatten den Ausschlag zu diesem Besuch gegeben.

Ich würdige diesen engagierten Lehrer wie auch die vielen anderen Menschen, die wie er wahrhaft gut und ohne Falsch sind. Ich würdige den Sonntagsschullehrer, der seine Schüler nicht nur am Sonntag unterrichtet, sondern dieselben Schüler auch unterweist und beeinflusst, indem er sie zum Frühstück mit seiner Familie einlädt. Ich würdige die Jugendführer, die an den sportlichen Betätigungen und kulturellen Aktivitäten der Jungen Männer und Jungen Damen in der Gemeinde teilnehmen. Ich würdige den Mann, der seinen Nachbarn aufbauende Worte schreibt, und die Frau, die ihre Weihnachtskarten nicht einfach per Post verschickt, sondern sie Familienmitgliedern und Freunden, die einen Besuch brauchen, persönlich vorbeibringt. Ich würdige den Bruder, der mit einem an Alzheimer erkrankten Nachbarn regelmäßig Ausfahrten unternahm und somit ihm und dessen Frau eine dringend benötigte Abwechslung bescherte.

Das Motiv hinter all diesen Taten sind nicht Lob oder Anerkennung. Diesen Männern und Frauen geht es nicht darum, ob man sich einen Titel anheften oder Autorität erlangen kann. Sie sind Jünger Christi, die stets Gutes tun. Wie Schiblon bemühen sie sich, den Vater im Himmel zu erfreuen.

Es stimmt mich traurig, wenn ich höre, wie manche aufhören, anderen zu dienen, oder gar nicht mehr in die Kirche kommen, weil sie aus einer Berufung entlassen wurden oder weil sie das Gefühl haben, man habe sie bei einem Amt oder für einen Titel nicht in Betracht gezogen. Ich hoffe, sie lernen eines Tages die gleiche Lektion, die ich als junger Missionar gelernt habe, nämlich dass der Dienst, der am meisten zählt, für gewöhnlich nur von Gott gesehen wird. Haben wir beim Verfolgen unserer eigenen Interessen den Willen des Herrn vergessen?

Manch einer meint vielleicht: „Ich muss noch so viel ändern, um so zu werden, wie Sie es hier beschreiben!“ Die gute Nachricht des Evangeliums Jesu Christi besteht darin, dass sich unsere Herzenswünsche wandeln können und dass wir unsere Beweggründe schulen und veredeln können. Wenn wir durch die Taufe in die wahre Herde Gottes kommen, beginnen wir, uns zu neuen Geschöpfen zu entwickeln (siehe 2 Korinther 5:17; Mosia 27:26). Jedes Mal, wenn wir unseren Taufbund erneuern, indem wir vom Abendmahl nehmen, kommen wir diesem Endziel einen Schritt näher.5 Wenn wir in diesem Bund treu sind, erlangen wir die Kraft, mit den Trauernden zu trauern und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen (siehe Mosia 18:9). In diesem Bund finden wir die Gnade, die uns befähigt, Gott zu dienen und seine Gebote zu halten, auch das Gebot, Gott von ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.6 In diesem Bund stehen Gott und Christus uns bei, damit wir denen beistehen können, die unseres Beistands bedürfen (siehe Mosia 4:16; siehe auch Vers 11-15).

Alles, was ich in meinem Leben möchte, ist, meinen irdischen wie auch meinen himmlischen Vater zu erfreuen und mehr wie Schiblon zu sein.7

Ich danke meinem Vater im Himmel für die Menschen, die Schiblon ähneln und mir und uns allen durch ihr Beispiel Hoffnung schenken. Im Leben dieser Menschen erkennen wir, dass der Vater im Himmel seine Kinder liebt und dass der Erretter fürsorgend und mitfühlend ist. Ihrem Zeugnis füge ich meines hinzu und gelobe, mich darum zu bemühen, ihnen ähnlicher zu werden. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Dieter F. Uchtdorf, „Bin ich es etwa, Herr?“, Liahona, November 2014, Seite 58; Hervorhebung hinzugefügt

  2. Helaman war auf der Mission bei den Zoramiten nicht dabei. Daher wissen wir, dass Alma über Schiblon spricht, als er „dein Bruder“ sagt (siehe Alma 31:7; 39:2).

  3. Spencer W. Kimball, „Die Rolle der rechtschaffenen Frau“, Der Stern, Mai 1980, Seite 179

  4. „Der Herr hat erklärt, dass wir, wenn wir uns wahrhaft zu seinem Evangelium bekehren, unser Herz von selbstsüchtigen Belangen abwenden und uns anderen zuwenden, um sie aufzurichten, während sie auf ihrem Weg zum ewigen Leben aufwärtsgehen. Um diese Bekehrung herbeizuführen, beten und handeln wir voll Glauben, um durch das Sühnopfer Jesu Christi eine neue Schöpfung zu werden. Wir können damit beginnen, dass wir im Gebet um den Glauben bitten, von Selbstsucht umzukehren, und um die Gabe, uns mehr um andere als um uns selbst zu sorgen. Wir können die Kraft erbitten, Stolz und Neid abzulegen.“ (Henry B. Eyring, „Zeugnis und Bekehrung“, Liahona, Februar 2015, Seite 4f.)

  5. „[Gott] ist unsterblich und vollkommen. Wir sind sterblich und unvollkommen. Trotzdem suchen wir selbst als Sterbliche nach Möglichkeiten, mit ihm in geistiger Hinsicht eins zu sein. Dadurch erhalten wir Zugang zur Gnade und Majestät seiner Macht. Diese besonderen Augenblicke erleben wir zum Beispiel, … wenn wir uns taufen und konfirmieren lassen [und] von den Symbolen des Abendmahls des Herrn nehmen.“ (Jeffrey R. Holland, To My Friends, 2014, Seite 80.)

  6. „Für die Heiligen der Letzten Tage, die sich in allem, was sie tun, als Kinder Gottes sehen, ist es ganz normal, Bündnisse zu schließen und sie zu halten. In den Erlösungsplan sind Bündnisse eingezeichnet. Wir geloben, die Gebote zu halten. Im Gegenzug verheißt Gott Segnungen in diesem Leben und für die Ewigkeit. Er nimmt es genau mit dem, was er verlangt, und ist vollkommen darin, sein Wort zu halten. Weil er uns liebt und weil er mit dem Plan das Ziel verfolgt, dass wir wie er werden, verlangt er von uns Genauigkeit. Und Teil der Verheißungen, die er uns macht, ist stets die Macht, fähiger darin zu werden, die Bündnisse zu halten. Er sorgt dafür, dass wir seine Regeln kennen. Wenn wir uns von ganzem Herzen bemühen, seinen Maßstäben gerecht zu werden, schenkt er uns den Heiligen Geist als Begleiter. Dadurch wiederum wächst unsere Fähigkeit, Verpflichtungen einzuhalten und zu erkennen, was gut und wahr ist. Das ist die Fähigkeit, zu lernen – ob es nun um weltliches Wissen geht oder um das, was wir für die Ewigkeit wissen müssen.“ (Henry B. Eyring, „A Child of God“, Andacht an der Brigham-Young-Universität vom 21. Oktober 1997, Seite 4f.; speeches.byu.edu.) Siehe auch David A. Bednar, „Sie konnten ihre Lasten mühelos tragen“, Liahona, Mai 2014, Seite 87-90.

  7. Soweit ich mich erinnern kann, wollte ich meinen Vater schon immer erfreuen. Als ich größer wurde und ein Zeugnis erlangte, wuchs in mir auch der Wunsch, meinen Vater im Himmel zu erfreuen. Als ich noch ein wenig älter war, erfuhr ich von Schiblon und setzte mir als eines meiner wichtigen Ziele, ihm ähnlicher zu werden.