1990–1999
Rechtschaffenheit
April 1991


Rechtschaffenheit

„Wenn wir ein rechtschaffenes Leben führen, verpflichten wir uns gegenüber dem himmlischen Vater, daß wir alles tun, was wir können, um anderen dabei zu helfen, ebenfalls rechtschaffen zu leben.”

Vor vielen Jahren, als meine Kinder noch klein waren, schienen die Flaschen in der Nacht und die Windeln am Tag so endlos zu sein wie der frostige Winter draußen vor unserer Wohnung im Militärgebiet. Wenn ich mich selbst bemitleide, hilft es mir immer, wenn ich etwas für jemand anderen tue. In jenem Winter bedauerte ich mich sehr, also mußte ich unbedingt etwas Größeres in Angriff nehmen. Ich beschloß, einen Sportsakko für meinen Mann zu nähen. Da ich keine geübte Näherin war, suchte ich zunächst einmal nach dem besten Schnittmuster und dem besten Stoff, den ich bekommen konnte. Voller Begeisterung holte ich die Nähanleitung heraus. Mir blieb fast das Herz stehen. Die Anleitung war mehrere Seiten lang, wenn ich mich recht entsinne, waren es 138 einzelne Anweisungen. Das überstieg meine Fähigkeiten! In den nächsten Tagen trug ich die Anleitung immer bei mir. Ich nahm mir vor, nicht mehr als zwei Anweisungen am Tag zu befolgen, damit mich nicht der Mut verließ. Wenn ich zwei Anweisungen ausgeführt hatte, las ich mir die Anweisungen für den nächsten Tag durch. Manchmal war ich zu ungeduldig und mußte dann wieder etwas

auftrennen, doch glücklicherweise sieht man das einem guten Stoff nicht an, wenn man die Fehler behutsam ausbessert. Nach ein paar Monaten hatte ich mein Meisterstück vollbracht. Das Schnittmuster und die Anleitung hatten das Wunder möglich gemacht. Seither sind mir Muster und Anleitungen sehr wichtig geworden.

Ich bin sehr dankbar für die Muster und die Anleitungen, die der Herr uns gibt. In der Schrift sind präzise Anleitungen für den Bau der Wohnstätte des Herrn, für den Bau einer Arche, eines Altars oder eines Tempels zu finden. Das Material ist dabei wichtig, der Zweck ist erhaben. Dann finden wir ein Muster an Rechtschaffenheit, Jesus Christus, der zum Vorbild geworden ist „für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen” (l Timotheus 1:16). Von frühester Zeit an bis in die heutige Zeit taucht immer wieder dasselbe Muster auf: Glaube an den Herrn Jesus Christus, Umkehr, Taufe, die Gabe des Heiligen Geistes.

Ein Muster ist dazu da, daß es nachgebildet wird. Das, was Jesus uns in bezug auf Rechtschaffenheit gezeigt hat, ist es wert, nachgeahmt zu werden. Manche meinen, Rechtschaffenheit bedeute, eine Leiter hinaufzusteigen. Sie denken, sie könnten ihren Fortschritt beschleunigen, wenn sie versuchen, über oder vor andere zu kommen. Doch das ist meiner Meinung nach Stolz. Im Buch Alma lesen wir: „Der Prediger war nicht besser als der Hörer, und der Lehrer war nicht besser als der Lernende; und so waren sie alle gleich und arbeiteten alle, ein jeder gemäß seiner Kraft.” (Alma 1:26.) Rechtschaffenheit erlangen wir nicht dadurch, daß wir andere überholen wollen. Wenn wir ein rechtschaffenes Leben führen, verpflichten wir uns gegenüber dem himmlischen Vater, daß wir alles tun, was wir können, um anderen dabei zu helfen, ebenfalls rechtschaffen zu leben. Das kann sich so lange wiederholen, bis, wie es in Jesaja heißt, die Bewohner der Erde die Gerechtigkeit des Herrn kennenlernen (siehe Jesaja 26:9).

Der himmlische Vater sagt uns in, Lehre und Bündnisse’: „Ich will euch in allem ein Muster geben, damit ihr nicht getäuscht werdet.” (LuB 52:14.) Wenn wir nicht getäuscht werden wollen, müssen wir uns an die Muster halten, die uns in bezug auf Rechtschaffenheit gegeben worden sind. Drei davon möchte ich erwähnen: das Gebet, das Schriftstudium und der Dienst an anderen.

Wenn wir einmal erkannt haben, wie wichtig das Beten ist, kann sich die Gewohnheit, täglich zu beten, durch unsere Belehrung und unser gutes Beispiel im Leben anderer fortsetzen. Meine jüngste Tochter hat gesagt, daß das Beten für sie an Bedeutung gewann, als sie einmal ihre ältere Schwester beobachtete, die sich am Abend, als sie annahm, daß alle schliefen, neben ihr Bett kniete, um zu beten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß ich während meines Studiums an der BYU jeden Morgen um halb sieben mit meinen acht Zimmerkameradinnen zum Gebet niederkniete. Jahre später, wenn wir es einmal versäumt hatten, mit den Kindern zu beten, mußte ich immer daran denken, daß meine alten Zimmerkameradinnen sich jetzt bestimmt Sorgen machen würden. Was für ein großartiges Vorbild sie mir doch waren! Geschieht das auch heute noch unter Studenten oder in der Familie?

Vor einigen Monaten kniete ich mit einer jungen Familie in Albuquerque zum Gebet nieder. Ein wunderbares, warmes Gefühl durchströmte mich, als ich die Augen öffnete und mich im Kreis umblickte. Ich sah Familien auf der ganzen Welt vor mir, die das gleiche erlebten. Wenn das Beten in unserer Familie zur Gewohnheit wird, dann helfen hoffentlich die einzelnen Familienmitglieder mit, dies auch an andere weiterzugeben, so wie es damals meine Zimmerkameradinnen getan haben.

Das Schriftstudium hilft uns, besser zu begreifen, was Rechtschaffenheit bedeutet. Wenn wir nach dem Wort Gottes leben, ist uns verheißen: „Er gibt den Getreuen Zeile auf Zeile, Weisung auf Weisung.” (LuB 98:12.) Es spornt mich an, wenn ich sehe, wie andere in der Schrift lesen. Ich habe eine Tochter, die sich gern die Füße wärmt, ehe sie zu Bett geht. Ich sehe sie so gern auf dem Badezimmerschränkchen sitzen, die Füße in einem Becken voll warmem Wasser, und in der heiligen Schrift lesen. Meine beiden Enkel, zwei und vier Jahre alt, berichten stolz von den Aufklebern, die sie bekommen, wenn sie jeden Tag beten und Geschichten aus der Schrift hören. Diese grundlegenden Muster müssen wir unbedingt an unsere Kinder weitergeben, wenn die Rechtschaffenheit Bestand haben soll.

Anderen einen liebevollen Dienst zu erweisen ist ein weiteres Muster in bezug auf die Rechtschaffenheit. Auch das lernen wir meist in der Familie. In den heiligen Schriften wird gelehrt, wie wichtig das Dienen ist, und auch die Führer der Kirche legen Zeugnis davon ab. Harold Glen Clark, der erste Präsident des Provo-Tempels, hat für seine Enkel die folgende Geschichte aufgeschrieben:

„Ich habe einmal darüber nachgedacht, was von allem, was ich getan habe, dem Herrn wohl am meisten gefallen hat. Präsident des Diakonskollegiums? Bischof? Patriarch? Tempelpräsident?

Dann fiel mir ein, was es wohl sein könnte. Ich war damals sechzehn Jahre alt. Meine Mutter, die sich oft um Bedürftige kümmerte, sorgte einmal für zwei Opas gleichzeitig. Jemand sagte aus Spaß zu ihr:, Warum stellst du kein Schild auf: Opas gesucht?’ Aber es war eigentlich gar nicht lustig, denn ich hatte die Aufgabe, mich um den einen Opa zu kümmern, der gebadet, angezogen und ausgezogen werden und dem man an den Tisch helfen mußte, damit er essen konnte. Ich war damals ein lebenslustiger Sechzehnjähriger, und nun mußte ich viel zu oft meinen Opa versorgen, während ich draußen ein gutes Basketballspiel versäumte.

Einmal, als meine Freunde mich riefen, war ich gerade im Haus und ging der mühseligen Arbeit nach, ihm den nassen Schlafanzug auszuziehen. Ich war ungeduldig und verärgert. Plötzlich fühlte ich Opas zitternde Hand auf meiner. Ich drehte mich um und sah sein Gesicht, über das die Tränen liefen, und er sagte:, Gott segne dich, mein Junge. Du wirst es nie bereuen, daß du das alles für mich getan hast.’

Es tat mir so leid, daß ich ärgerlich gewesen war. … Bis zum heutigen Tag fühle ich in mir ein warmes Glühen, wenn ich an den kleinen Dienst denke, den ich einem ziemlich hilflosen Opa erwiesen habe.

Wenn wir für jemand etwas tun, was er nicht selbst tun kann, bringt uns das Gott näher, denn das ist genau das, was unser Vater und sein Sohn aus reiner Liebe zu uns tun.” (Unveröffentlichtes Manuskript.)

Unsere jungen Leute brauchen Vorbilder, wenn sie rechtschaffen leben sollen. Als ich über meine Verpflichtung gegenüber der Jugend der Kirche nachdachte, gewannen die folgenden Worte von Elder Boyd K. Packer plötzlich an Bedeutung. Elder Packer hat einmal über die Warnungen gesprochen, die Alma und Helaman an die Kirche in ihren Tagen richteten. Ich zitiere Elder Packer: „Sie warnten vor schnellem Wachstum, vor dem Wunsch, in der Welt akzeptiert zu sein, beliebt zu sein, und vor allem warnten sie vor Wohlstand. Jedes Mal, wenn all dies gemeinsam existierte, kam die Kirche vom Weg ab.” (Ansprache anläßlich eines Seminars für die Regionalrepräsentanten, 30. März 1990.)

Ich mußte dabei an die Jugend der Kirche denken. Denken Sie einmal an die Wandlung, die ein junger Mensch zwischen seinem zwölften und seinem achtzehnten Lebensjahr durchmacht. Die Zustände, von denen im Buch Mormon die Rede ist, treffen fast immer auf ihn zu: schnelles Wachstum, der Wunsch, anerkannt und beliebt zu sein, und oft auch Wohlstand. Die Muster, die uns in bezug auf Rechtschaffenheit gegeben worden sind, wie etwa das Gebet, das Schriftstudium und das Dienen, sind die Antwort darauf, wie wir den Gefahren entgehen können, von denen im Buch Mormon die Rede ist. Nephi wußte das, als er den Herrn bat: „O Herr, umhülle mich doch mit dem Mantel deiner Rechtschaffenheit!” (2 Nephi 4:33.)

Unser Erretter, Jesus Christus, war ein Muster an Rechtschaffenheit. Er hat uns aufgefordert, ihm nachzufolgen. Nephi fragt: „Können wir denn Jesus nachfolgen, … wenn wir nicht willens sind, die Gebote des Vaters zu halten?” (2 Nephi 31:10.)

Ich bin dankbar für die Männer und Frauen aus allen Zeitaltern, die durch ihr Leben gezeigt haben, was Rechtschaffenheit bedeutet. Ich bin dankbar, daß wir heute einen Propheten haben. Ein paar Tage nach meiner Berufung als Ratgeberin in der JD-Präsidentschaft, als sich die Erste Präsidentschaft meinem Stuhl näherte, um mich einzusetzen und mir einen Segen zu geben, war mir bewußt, daß der Prophet Gottes mir die Hände auflegen würde, und ich war voll Ehrfurcht. Nach dem Segen wandte ich mich dem Propheten zu, doch ich war kaum auf die Erhabenheit des Geistes vorbereitet, den ich spürte. Ich gebe Zeugnis, daß Ezra Taft Benson ein Prophet Gottes ist und daß Jesus Christus unser Erretter ist. Er ist für uns ein Muster an Rechtschaffenheit. Wenn wir seinem Beispiel folgen, können wir zum himmlischen Vater zurückkehren. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.