1990–1999
Frieden
April 1991


Frieden

„Wenn wir Christus nachfolgen und die Segnungen des Himmels hervorbringen wollen, müssen wir in der Welt, im Gemeinwesen . und vor allem in unserer Familie aktiv Frieden stiften.”

Letzten Sonntag haben die Heiligen der Letzten Tage gemeinsam mit der gesamten christlichen Welt Ostern gefeiert. Wir haben unseren Herrn und Erretter, Jesus Christus, verehrt und seiner Auferstehung gedacht. Außerdem haben wir, wie wir es auch heute an diesem besonderen Tag des Gebets getan haben, Gott für die Befreiung Kuwaits gedankt sowie für die Hoffnung auf andauernden Frieden am Golf, nun, da die Truppen in ihre Heimat zurückkehren.

Als Christus auf die Welt kam, verkündeten die Engel: „Auf Erden ist Friede.” (Lukas 2:14.) In den zweitausend Jahren, die seither vergangen sind, hat es jedoch kaum Frieden auf Erden gegeben. Auch wenn es nun gelungen ist, größere Feindseligkeiten am Golf zu beenden, bleibt dennoch nur ein sehr unsicherer Frieden zwischen manchen Ländern, und in anderen Ländern gibt es weiterhin große Unruhen. So wie uns das Sühnopfer Christi vom körperlichen und vom geistigen Tod befreit hat, ebenso ist auch der Frieden, von dem der Erretter der Menschheit gesprochen hat, weltlicher und geistiger Natur.

Ich möchte heute über den Frieden sprechen, den Christus uns in der Bergpredigt angeboten hat, als er in den Seligpreisungen von den Friedensstiftern gesprochen hat. Die gesamte Bergpredigt ist eine Anleitung, die uns zur Vollkommenheit führt, sie veranschaulicht die vielen Eigenschaften, die wir entwickeln müssen, wenn wir den Frieden und die Vollkommenheit erreichen wollen, die Jesus verkörpert hat.

Ich stelle mir gern vor, wie es war, als er die Bergpredigt hielt. Ich sehe vor meinem geistigen Auge ein Bild von friedlicher Schönheit: Ein Nachmittag Anfang April, der Himmel im sanften Licht der herannahenden Dämmerung, nicht der leiseste Windhauch. Wollige weiße Schäfchenwolken stehen fast bewegungslos am klaren blauen Himmel. Unten am Ufer des Sees von Galiläa schlagen die Wellen sanft gegen die vertäuten Fischerboote. Eine große Menschenmenge sammelt sich am Berg. Eifrige Zuhörer sitzen auf dem Gras oder stehen zwischen den Felsen und den ersten Frühlingsblumen. Still und nachdenklich haben sie das Gesicht dem Herrn zugewandt, blicken ihn an und hören ihm zu, während er ihnen sagt, was sie tun müssen, um Frieden zu erlangen.

Christus sagt sanft: „Selig, die Frieden stiften.” (Matthäus 5:9.) Wenn wir Christus nachfolgen und die Segnungen des Himmels hervorbringen wollen, müssen wir in der Welt, im Gemeinwesen, in der Nachbarschaft und vor allem in unserer Familie aktiv Frieden stiften.

In der Mitte der Zeit erwarteten viele von Christus, daß er politisch gegen die Herrschaft der Römer vorgehen und dem unterdrückten Volk Frieden anbieten würde. Christus hat in der Tat Frieden angeboten, doch es war kein äußerer oder politischer Frieden, vielmehr war der Frieden, den Christus lehrte, ein innerer, persönlicher Frieden.

Ich möchte von einer Begebenheit erzählen, die sich während des Vietnamkrieges zugetragen hat. Es gab einige, die überzeugt waren, daß sich die Vereinigten Staaten an einem gerechten Krieg beteiligten. Doch mit der Zeit änderte sich die öffentliche Meinung, und Forderungen wurden laut, die Vereinigten Staaten sollten sich aus Vietnam zurückziehen.

Harold B. Lee war damals Präsident der Kirche. Als er sich einmal anläßlich einer Gebietskonferenz in einem anderen Land aufhielt, wurde er von Reportern der internationalen Nachrichtendienste interviewt. Ein Reporter fragte ihn: „Wie steht Ihre Kirche zum Vietnamkrieg?” Einige erkannten die Frage als Falle, eine Frage, die man nicht beantworten konnte, ohne Gefahr zu laufen, falsch verstanden oder falsch ausgelegt zu werden. Hätte der Prophet geantwortet: „Wir sind gegen den Krieg”, hätten die internationalen Medien sagen können: „Wie seltsam, ein religiöser Führer, der sich gegen sein Land stellt, obwohl er durch die Glaubensartikel seiner Kirche verpflichtet ist, sein Land zu unterstützen.” Hätte er aber geantwortet: „Wir sind für den Krieg”, hätten die Medien sagen können: „Wie seltsam, ein religiöser Führer, der für den Krieg ist?” So oder so hätte die Antwort zu schwerwiegenden Problemen führen können, was die öffentliche Meinung innerhalb und außerhalb der Kirche anging.

Präsident Lee antwortete mit großer Weisheit und Inspiration, wie nur ein Mann antworten konnte, der den Erretter kennt: „Wie die gesamte christliche Welt verabscheuen wir den Krieg. Doch Jesus Christus hat gesagt:, In mir [habt ihr] Frieden. In der Welt seid ihr in Bedrängnis.’ (Johannes 16:33.)” Dann zitierte der Prophet noch eine weitere Schriftstelle aus Johannes: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch.” (Johannes 14:27.) Präsident Lee erklärte dann: „Jesus Christus hat nicht von dem Frieden gesprochen, der durch militärische Gewalt oder durch Verhandlungen der Regierungen zwischen verschiedenen Ländern erreicht werden kann. Vielmehr hat er von dem Frieden gesprochen, den jeder erlangen kann, wenn er die Gebote hält und mit reuigem Herzen und zerknirschtem Geist zu Christus kommt.” (Siehe Ensign, November 1982, Seite 70.)

Im Januar 1991 erschien im Ensign eine sehr bewegende Geschichte von Schwester Carole Seegmiller, die von dem Frieden handelt, der uns durch die heilige Schrift zuteil werden kann. Ich zitiere daraus einige Ausschnitte: „Mein Vater wollte, daß wir als Familie anfingen, die heiligen Schriften intensiv zu studieren, um meinem Bruder Bruce zu helfen, sich auf seine Mission vorzubereiten. Sein Ziel war, das Buch Mormon vollständig zu lesen, ehe Bruce auf Mission ging, wobei wir alles mit dem Kassettenrekorder aufnehmen sollten. … Wir lasen immer ein Kapitel im Wechsel. …

Nach ein paar Monaten waren wir mit dem Buch Mormon fertig. … Daraufhin entschloß sich mein Vater, daß wir nun die vier Evangelien aus dem Neuen Testament lesen und aufnehmen sollten. Diesesmal protestierte ich jedoch und sagte, ich sähe keinen Sinn darin: schließlich gab es Kassetten zu kaufen, die von Profis aufgenommen waren, die sich viel besser anhörten als wir. Doch mein Vater bestand darauf., Carole, eines Tages werden diese Kassetten ein großer Segen für uns sein.’ … Langsam begann unser gemeinsames Studium mir Freude zu machen. Mir gefiel besonders, wenn mein Vater seine persönlichen Eindrücke zu einer Schriftstelle schilderte . Schon bald begann ich den Frieden zu spüren, den das Schriftstudium mit sich bringt. Kurz bevor Bruce in die Missionarsschule kam, waren wir mit den vier Evangelien fertig. … Nachdem Bruce fort war, entdeckte ich, daß die Kassetten meinem Vater viel Trost spendeten. Er hörte sie oft an, vermutlich zum Teil nur, um die Stimme von Bruce zu hören. Sie waren sich sehr nahe gewesen. Manchmal schlief mein Vater abends beim Zuhören ein, und ich mußte immer lächeln, wenn ich das vertraute Klicken hörte, das anzeigte, daß die Kassette bis zum Ende durchgelaufen war. … Als Bruce bereits über ein Jahr auf Mission war, starb mein Vater unerwartet an einem Herzanfall. … Die ganze Familie kam zusammen bis auf Bruce, der sich entschlossen hatte, seine Mission zu beenden.

Am Abend nach der Beerdigung … war ich sehr niedergeschlagen. Ich ging nach oben ins Zimmer meines Vaters und setzte mich an seinen Schreibtisch. Mein Blick fiel auf den oft benutzten Kassettenrekorder; es lag eine Kassette vom Neuen Testament darin, die mein Vater wohl am Abend, bevor er starb, angehört hatte. Ich spulte die Kassette zurück und hielt sie dann aufs Geratewohl irgendwo an, in der Hoffnung, etwas Trost zu finden, wenn ich die sanfte Stimme meines Vaters hörte. … Ich saß auf einmal aufrecht, als ich meinen Vater sagen hörte:

, Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.’ … Ich hörte mir die Stelle immer wieder an. Die Worte legten sich wie ein schützender Arm um mich. … An diesem Abend fanden wir wirklich Frieden … und seit damals habe ich den Frieden des Neuen Testaments immer und immer wieder verspürt. Für mich ist das die größte Botschaft des Neuen Testaments überhaupt.” (Ensign, Januar 1991, Seite 27.)

Eines der weltbekannten Gebete des Franz von Assisi weist uns darauf hin, daß wir in den Händen Jesu Christi Werkzeuge sein können, um anderen inneren Frieden zu bringen. Dann sind wir wahre Friedensstifter. Das Gebet lautet:

Herr, mach mich zu einem Werkzeug

deines Friedens.

Wo Haß ist, laß mich Liebe säen.

Wo verletzte Gefühle sind, Vergebung.

Wo Zweifel sind, Glauben.

Wo Verzweiflung ist, Hoffnung.

Wo Finsternis ist, Licht.

Und wo Trauer ist, Freude.

Wenn wir Frieden stiften wollen, ist es hilfreich zu wissen, was uns überhaupt Frieden bringt. Paulus sagt, der Geist bringt Frieden: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede.” (Galater 5:22.) Unsere Nähe zum Herrn bestimmt in großem Maße, inwieweit wir Frieden, Trost und neue Kraft erlangen, wenn wir den Geist in unser Leben bitten.

Als ich mich auf diese Ansprache vorbereitete, rief mich ein Mann an. Zuvor hatte sein Priestertumsführer mich gebeten, seinen Anruf anzunehmen. Verzweifelt bat mich der Mann: „Jemand muß uns helfen. Wir müssen einfach ein wenig Frieden finden.” Wahrscheinlich gibt es so viele verschiedene Ursachen für Streit und Unfrieden, wie es Menschen gibt. Die Wurzeln liegen vielleicht bei einem selbst oder bei jemandem, der einem nahe steht. Die Ursachen können sein: Sünde, die Gebote Gottes nicht halten, Selbstsucht, Stolz, Mangel an Liebe, Mangel an Selbstverpflichtung, nicht bereit sein, für andere Opfer zu bringen oder einfach nur ein unschuldiges Opfer zu sein. Was auch immer der Grund ist - die Lösung, wie man Frieden erlangt, bleibt dieselbe: sich an Christus wenden, seinem Beispiel folgen, von allen Übertretungen umkehren. So wie er der stürmischen See geboten hat: „Schweig, sei still!” (Markus 4:39), so kann er auch auf unser Leben einwirken, wenn wir von den Stürmen des Lebens geschüttelt werden.

Wir erlangen mehr inneren Frieden und mehr Geistigkeit, wenn wir uns darauf konzentrieren, jeden Tag etwas über Christus zu lernen und an ihn zu denken, wenn wir Christus jeden Tag inniger lieben und ihm für sein Sühnopfer danken, wenn wir täglich danach streben, Christus besser zu dienen, indem wir uns mehr für die Missionsarbeit einsetzen, wenn wir größere Anstrengungen machen, seine verlorenen Schafe zu finden, seine verlorenen Drachmen und seine verlorenen Söhne, und ihnen helfen, zur Herde zurückzukehren, wenn wir uns gemeinsam bemühen, häufiger in den Tempel zu gehen, und wenn wir eifriger Genealogie betreiben. Gibt es einen größeren Frieden als den eines treuen Missionars, eines liebenden Hirten oder eines eifrigen Tempelbesuchers oder Tempelarbeiters?

Ungeachtet aller Probleme, die heute in der Welt vorherrschen, kann jeder von uns im Herzen Frieden erlangen, wenn er dem Erretter nachfolgt. Christus ist der wahre Frieden, der lebendige Frieden, der Weg zum Frieden, die Quelle des Friedens. Schauen Sie standhaft nach Christus aus, reden Sie von Christus, freuen Sie sich über Christus, predigen Sie von Christus und leben Sie so, wie Christus es von uns möchte, und verehren Sie ihn und den himmlischen Vater mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all Ihren Gedanken und all Ihrer Kraft.

Friede sei mit Ihnen, heute und immer, darum bete ich im Namen des Herrn Jesus Christus. Amen.