1990–1999
Für Opferbereitschaft werden wir gesegnet
April 1992


Für Opferbereitschaft werden wir gesegnet

„Wie sehr wir den Herrn, das Evangelium und unsere Mitmenschen lieben, läßt sich an dem ermessen, was wir für sie zu opfern bereit sind.”

Im letzten Oktober haben wir viele inspirierte Konferenzansprachen gehört. In seiner Ansprache am Sonntagmorgen lenkte Präsident Gordon B. Hinckley unsere Aufmerksamkeit auf einige der erschütternden Erlebnisse unserer Pioniere, die durch ihre Opferbereitschaft mitgeholfen haben, das Fundament für die wiederhergestellte Kirche zu legen. Wir waren zutiefst bewegt, als er erzählte, was einige dieser tapferen Handkarrenpioniere erlebt haben.

Die Bilder, die sich meinem Sinn und meinem Herzen eingeprägt haben, haben mich seitdem nicht verlassen. Immer wieder muß ich an die schneebedeckten, sturmgepeitschten Hochebenen von Wyoming denken. Vor meinem geistigen Auge sehe ich das Leiden jener glaubenstreuen Heiligen und weiß, daß viele von ihnen in ihrer großen Not, unter Umständen, die wir uns heute kaum noch vorstellen können, Gott auf eine Weise erkannt haben, die kaum jemand je erleben wird.

Viele von uns sind Nachkommen der tapferen Pioniere, und wir sind dankbar für ihre große Opferbereitschaft, die unseren Glauben stärkt. Meine Urgroßmutter, Margaret McNeil Ballard, hat in ihrem Tagebuch ein Beispiel für Opferbereitschaft festgehalten, das sich zugetragen hat, als sie noch keine zehn Jahre alt war. Sie schreibt:

„Nach der Landung wollten wir mit den Handkarrenabteilungen Martin und Willey nach Westen, nach Utah, aber Eider Franklin D. Richards riet meinem Vater, nicht mit ihnen zu gehen. Nachher waren wir sehr dankbar, weil diese Leute ja viel zu leiden hatten und in der Kälte manche Entbehrung zu ertragen hatten. In dem Jahr erfroren viele unterwegs. …

Die Gruppe, der wir zugeteilt wurden, war schon unterwegs, und meiner Mutter war sehr daran gelegen, daß ich mitkam. Sie schnallte mir meinen kleinen Bruder James mit einem Schal auf den Rücken. Er war erst vier Jahre alt und … schwer an den Masern erkrankt; aber ich nahm ihn, weil meine Mutter mit den anderen Kindern schon genug zu tun hatte. Ich beeilte mich und holte die Gruppe ein und reiste den ganzen Tag mit diesen Leuten. Am Abend half eine gütige Frau mir, meinen Bruder wieder loszuschnallen. Ich setzte mich und hielt ihn auf dem Schoß und wickelte ihn in den Schal. Die ganze Nacht saß ich allein da. Am Morgen ging es ihm ein bißchen besser. Die Leute im Lager waren sehr gut zu uns. Sie schenkten uns zum Frühstück ein bißchen gebratenen Speck und etwas Brot.

Etwa eine Woche lang waren wir so unterwegs, bis mein Bruder und ich wieder mit unserer Familie vereint waren.”

Diese kurze Episode aus dem Leben meiner Großmutter zeigt mir, daß die Pioniere alles, sogar ihr Leben gegeben haben - für ihren Glauben, für den Aufbau des Gottesreiches, als die Kirche noch in den Kinderschuhen steckte. Es zeigt mir auch, daß sie einander in ihrer Not geholfen und gestärkt haben und daß sie großzügig miteinander geteilt haben. Sie besaßen zwar nur wenig, was Essen, Kleidung und Unterkunft betraf, aber ihre Liebe zueinander und ihre Ergebenheit gegenüber dem Herrn und dem Evangelium waren grenzenlos.

Unsere Selbstverpflichtung gegenüber dem Gottesreich muß genauso stark sein wie die unserer treuen Vorfahren, auch

wenn unsere Opfer anders aussehen mögen. Sie wurden aus behaglichen Häusern vertrieben und waren gezwungen, mit Ochsenwagen und Handkarren tausend Meilen zurückzulegen, um mit ihrer Familie und der Kirche in Sicherheit leben zu können. Unsere Opfer sind vielleicht nicht so offensichtlich, aber sie verlangen uns nicht weniger ab. Statt vor materieller Not und Mühsal stehen wir vor der Herausforderung, den Grundsätzen des Evangeliums treu zu bleiben - und sind von bösen, destruktiven Kräften wie Unehrlichkeit, Verderbtheit, Drogen- und Alkoholmißbrauch und Krankheiten umgeben, die häufig durch Promiskuität übertragen werden. Außerdem sind wir täglich der Unsittlichkeit ausgesetzt, die in vielfacher Form auftritt. Pornographie und Gewalttätigkeit, die häufig in heimtückischen Fernsehsendungen, Kino- und Videofilmen dargestellt werden, nehmen Überhand. Haß und Neid, Gier und Egoismus sind überall vorhanden, und die Familien fallen immer schneller auseinander. Inmitten all dessen, Brüder und Schwestern, dürfen wir niemals vergessen, wem wir es verdanken, daß wir so reich gesegnet sind.

Ich weiß noch, wie wir uns im Frühjahr 1956 mit den Mitgliedern der Gemeinde Holladay 7 am Mount Olympus versammelt haben. Auf Weisung unseres Pfahlpräsidenten, G. Carlos Smith, haben wir dort den Grund für unser neues Gemeindehaus ausgehoben. Als die Gemeinde gegründet wurde, hatten wir insgesamt 373 Mitglieder. Wie ich mich erinnere, war die Hälfte davon noch nicht einmal zwölf Jahre alt. Ich war der Zweite Ratgeber von Bischof William Partridge. Unter seiner Führung ging diese kleine Gruppe von Menschen sofort daran, ein Gemeindehaus zu bauen.

Die Gemeinde wurde 1958 geteilt, und ich wurde Bischof der Gemeinde Holladay 12. Damals bezahlten die betreffenden Mitglieder 50 Prozent der Baukosten für ihr Gemeindehaus. Eine der wichtigsten Führungserfahrungen, die ich jemals gemacht habe, kam mehrere Wochen vor der bereits angekündigten Weihung des Gemeindehauses. Unsere Gemeinde von jungen Familien, die alle zu kämpfen hatten, um mit ihrem Geld auszukommen, mußte noch die letzten 30000 Dollar aufbringen, um unseren Anteil an den Kosten zu bezahlen. Ich fastete und betete und bat den himmlischen Vater um Hilfe, so daß ich erkennen könne, was ich den Mitgliedern unserer Gemeinde bezüglich dieser Verpflichtung sagen solle. Wir hatten ihnen schon sehr viel abverlangt, und sie hatten bereitwillig Geld und ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt, und zwar mehr, als ich je für möglich gehalten hätte. Es blieben aber immer noch die letzten 30000 Dollar, die wir aufzubringen hatten.

Als die Brüder zur Priestertumsversammlung zusammenkamen, hatte ich das Gefühl, ich sollte ihnen das Zeugnis vorlesen, das mein Großvater Ballard der Ersten Präsidentschaft und dem Rat der Zwölf am 7. Januar 1919 gegeben hatte, an dem Tag, als er zum Apostel ordiniert worden war. Ich will hier nur einen kleinen Auszug aus diesem Zeugnis zitieren:

„So wie ich weiß, daß ich lebe, weiß ich auch, daß dies das Werk Gottes ist und daß Sie seine Knechte sind. … Ich erinnere mich noch an ein bestimmtes Zeugnis, das ich empfangen habe, unter all den vielen. … Vor zwei Jahren, etwa um diese Zeit, war ich mehrere Tage zusammen mit den führenden Brüdern im Reservat Fort Peck gewesen, um Probleme zu lösen, die mit unserer Arbeit bei den Lamaniten zu tun hatten. Es traten viele Fragen auf, die wir zu klären hatten. Es gab keine Präzedenzfälle, an die wir uns hätten halten können, und wir mußten einfach zum Herrn gehen und ihm sagen, was uns zu schaffen machte, und uns bei ihm Inspiration und Hilfe holen. Bei dieser Gelegenheit hatte ich den Herrn gesucht, und in der Nacht hatte ich eine wunderbare Kundgebung, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hat. Ich wurde an diesen Ort gebracht - in dieses Zimmer. Ich sah mich hier zusammen mit Ihnen. Mir wurde gesagt, ich dürfe noch etwas Besonderes erleben, und ich wurde in ein Zimmer geführt. Dort sollte ich jemandem begegnen. Als ich das Zimmer betrat, sah ich, etwas erhöht auf einer Plattform, das herrlichste Wesen sitzen, das ich mir je vorstellen könnte. Als ich nähertrat, lächelte er und streckte mir die Hände entgegen. Und wenn ich Millionen Jahre alt werde, so werde ich doch dieses Lächeln niemals vergessen. Er nahm mich in die Arme und küßte mich, er drückte mich an seine Brust und segnete mich, bis ich von Kopf bis Fuß davon durchdrungen war! Ich fiel ihm zu Füßen und sah dort die Nägelmale; und als ich sie küßte, war ich so sehr von Freude erfüllt, daß ich das Gefühl hatte, ich sei wirklich und wahrhaftig im Himmel. Ich konnte nur noch denken: ach, wenn ich doch würdig leben kann, und wenn es auch achtzig Jahre dauert, daß ich am Ende, wenn ich es vollbracht habe, in seine Gegenwart gelangen und das Gefühl haben kann, das ich damals in seiner Gegenwart hatte, ich würde alles geben, was ich bin und jemals zu sein hoffe!” (Melvin J. Ballard - Crusader for Righteousness, Salt Lake City, 1966, Seite 65f.)

Der Geist des Herrn drang uns ins Herz. Es wurde nicht viel mehr gesagt, weil auch die Menschen in dieser kleinen Gruppe auf ihre Weise wußten, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist und daß er unser Erretter und Erlöser ist. Wir alle wußten, daß wir mit größerem Glauben an ihn unser Ziel erreichen konnten. Im Laufe dieses Tages kam Familie um Familie mit Geld in mein Büro. Sie brachten Opfer, die weit über das hinausgingen, was ich als Bischof je von ihnen verlangt hätte. Bis acht Uhr am Sonntagabend hatte der Gemeindesekretär Quittungen für insgesamt etwas über 30000 Dollar ausgestellt.

Die Opferbereitschaft hat den Mitgliedern unserer Gemeinde wahrhaftig den Segen des Himmels gebracht. Ich habe nie unter Menschen gelebt, die einiger waren, die sich mehr umeinander kümmerten als die Mitglieder dieser Gemeinde in der Zeit, als sie ihre größten Opfer brachten. In dieser Zeit wurden die Kranken in unserer Gemeinde durch Krankensegen geheilt. Die Jugendlichen verpflichteten sich dazu, rechtschaffen zu leben. Die jungen Männer setzten sich das Ziel, ganz und gar würdig zu sein, um auf Mission zu gehen, und die meisten von ihnen schafften das auch. Die meisten Mädchen nahmen sich fest vor, mit nichts weniger zufrieden zu sein als mit der würdigen Eheschließung im Tempel. Die Schwestern in der FHV hatten große Freude daran, einander voll Nächstenliebe zu dienen, und jeden Monat waren die Heimlehrer und Besuchslehrerinnen voll Freude und Dienstbereitschaft unterwegs. Während wir unser größtes Opfer brachten, waren die Mitglieder der Gemeinde einander im wahren Geist des Evangeliums der Liebe und des Dienens verbunden.

Opferbereitschaft ist ein Zeichen reiner Liebe. Wie sehr wir den Herrn, das Evangelium und unsere Mitmenschen lieben, läßt sich an dem ermessen, was wir für sie zu opfern bereit sind. Unser Herr und Erretter Jesus Christus hat uns diese Liebe beispielhaft vorgelebt. Seinem Leben und Wirken müssen wir nacheifern. Seine Mission gipfelte im höchsten Akt der Liebe, als er für uns sein Leben geopfert hat. Er hatte Macht über Leben und Tod, aber er entschied sich dafür, sich dem Schmerz und Spott und Leid auszuliefern, und gab sein Leben hin - um uns von unseren Sünden loszukaufen. Weil er uns liebt, hat er an Leib und Geist gelitten, und das in einem Ausmaß, das wir uns gar nicht vorstellen können. Er hat unsere Sünden auf sich genommen - unter der Bedingung, daß wir umkehren. Durch sein Opfer hat er es uns ermöglicht, daß uns die Sünden vergeben werden und daß wir durch ihn den Weg zurück in die Gegenwart des himmlischen Vaters finden.

Als Opfer verlangt er von uns „ein reuiges Herz und einen zerknirschten Geist” (3 Nephi 9:20), die uns zur Umkehr veranlassen. Wenn wir sein Beispiel betrachten, dann sind die Anforderungen, die an unsere Zeit und Mittel gestellt werden, im Vergleich dazu doch gering. Wir müssen also frohen Herzens geben und es als Segen und als Chance betrachten.

Ich weiß, daß heute viele treue Mitglieder der Kirche große Opfer bringen, um ihre Söhne und Töchter auf Mission zu unterstützen, und die in vielfacher anderer Hinsicht wertvollen Dienst leisten. Wenn ich über diese schlichten Akte des Glaubens nachdenke, frage ich mich allerdings: „Wer von uns bringt wirklich ganz und gar die Opferbereitschaft auf, die das Gesetz des Opferns von uns verlangt?”

Die Mitglieder der Kirche von heute sind sehr gesegnet, denn ein Teil unserer finanziellen Belastung ist uns abgenommen worden. Wenn der Zehnte treu gezahlt und das Geld umsichtig verwaltet wird, ist genug Geld da, daß wir unsere Gemeindehäuser bauen, die Unterhaltskosten aufbringen und den vielen übrigen Verpflichtungen nachkommen können, die früher zusätzliche Beiträge erforderlich gemacht haben. Wir müssen uns aber eines bewußtmachen: wenn von uns weniger an finanziellen Beiträgen gefordert wird, haben wir größere Möglichkeiten, nach einem höheren Gesetz zu leben. Damit meine ich, daß wir von uns aus nach Möglichkeiten Ausschau halten müssen, unseren Mitmenschen zu helfen und zum Aufbau des Reiches des Herrn beizutragen. Der Herr hat uns angewiesen: „Die Menschen sollen sich voll Eifer einer guten Sache widmen und vieles aus freien Stücken tun und viel Rechtschaffenheit bewirken; denn es ist in ihrer Macht, selbständig zu handeln.” (LuB 58:27,28.) Brüder und Schwestern, wir dürfen die Opferbereitschaft, von der die Handkarrenpioniere beseelt waren, nicht verlieren. Die größten Segnungen des Herrn erwarten diejenigen, die dieses ewige Prinzip praktizieren und sich dem Dienst an Gott und ihren Mitmenschen weihen. Opferbereitschaft und das Glück, das der Dienst an den Mitmenschen mit sich bringt, können inmitten von Prüfungen Frieden und Freude schenken.

Jede Familie in der Kirche muß Opferbereitschaft lehren und sie auf vielfache einfache und doch wichtige Weise praktizieren. Und das können wir tun, indem wir in vorbildlicher Hinsicht ehrfürchtig sind und so den wahren Geist der Gottesverehrung in unsere Versammlungen tragen und uns davor hüten, über die Schwierigkeiten zu murren, die der sonntägliche Gottesdienstplan mit sich bringt. Wir können ein großzügiges Fastopfer spenden, Freude daran haben, die Missionare zu unterstützen, und einen ehrlichen Zehnten zahlen. Wir können Berufungen in der Kirche annehmen und fröhlichen und dankbaren Herzens dienen, regelmäßig in den Tempel gehen, täglich allein und mit unserer Familie beten und einander jede Woche anläßlich des gutgeplanten Familienabends belehren. Sowohl die jüngeren als auch die älteren Mitglieder können sich schon früh vorbereiten und sich würdig machen, eine Berufung auf Mission anzunehmen. Wir können alle gute Nachbarn sein und uns der Witwen und Armen und derer, denen es nicht so gut geht, annehmen. Wir können als Heimlehrer und Besuchslehrerinnen für unsere Mitmenschen dasein. Brüder, wir müssen rein und würdig sein, damit das Priestertum, das wir tragen, anderen zum Segen gereicht.

Wir sind heute nicht aufgerufen, Handkarren über die schneebedeckten Ebenen von Wyoming zu ziehen. Wir sind allerdings aufgerufen, nach dem Evangelium Jesu Christi zu leben, es zu fördern und zu lehren. Wir dürfen unsere Mittel und unsere Zeit dazu verwenden, anderen Gutes zu tun. Jeder von uns muß tun, was er kann, damit der Lebensstil der Heiligen der Letzten Tage bewahrt bleibt. Und dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft, persönliche Wünsche zurückzustellen und statt dessen selbstlos für unsere Mitmenschen Opfer zu bringen.

Gott segne Sie, Brüder und Schwestern, daß Sie wissen mögen, so wie ich es weiß, daß Jesus der Messias ist und daß die Mitgliedschaft in seiner Kirche, der einzigen wahren und lebendigen Kirche, niemals eine Last ist, sondern immer ein großer Segen. Mögen wir dankbar sein für diesen Segen. Darum bete ich von Herzen im Namen Jesu Christi. Amen.