1990–1999
Biblische Geschichten und persönliche Bewahrung
Oktober 1992


Biblische Geschichten und persönliche Bewahrung

„Die treuen Heiligen der Letzten Tage werden vor der Macht des Bösen bewahrt, bis sie ihre Aufgabe in der Sterblichkeit erfüllt haben.”

Meine lieben Brüder, wenn Priestertumsträger auf der ganzen Welt sich versammeln um Anweisung und Inspiration zu empfangen, so ist dies eine wichtige Sache. Wie viele der älteren Männer in dieser Versammlung habe auch ich Söhne und Enkel, die an anderen Orten zuhören. Wir wollen, daß diese Versammlung für die jungen Priestertumsträger wertvoll und interessant ist. An sie richte ich meine Ansprache in erster Linie.

Als ich ein Junge war, verbrachte ich die meisten Abende damit, Bücher zu lesen. Eins meiner Lieblingsbücher war Hurlbut’s Story of the Bible (Hulbuts biblische Geschichte). Herausgeber war ein protestantischer Geistlicher, der mit 168 Geschichten aus der Bibel dazu beitragen wollte, den jungen Leuten die Wahrheiten der Bibel zu vermitteln.

Ich hatte diese Geschichten sehr gern, und las sie oft. Einige meiner Lieblingsgeschichten will ich Euch erzählen und erklären, was sie uns lehren und welchen Einfluß sie auf mein Leben hatten.

Zu Anfang eine Geschichte, die ich als Junge zu verstehen meinte; tatsächlich habe ich sie aber erst später verstanden.

Der Herr sprach zu Abraham und befahl ihm, seinen einzigen Sohn, Isaak, auf einen Berg im Lande Morija zu führen und ihn dort „als Brandopfer darzubringen” (Genesis 22:2).

Als ich das zum ersten Mal las, wußte ich nicht, was ein Brandopfer ist. Ich wohnte aber auf einer Farm mit Tieren, die Berge waren nicht weit weg, und so konnte ich den Rest der Geschichte leicht verstehen.

Früh am Morgen stand Abraham auf und sattelte einen Esel. Dann brachen sie auf. Ich dachte, daß Isaak wohl stolz darauf war, seinen Vater auf so einer Reise begleiten zu dürfen.

Am dritten Tag stiegen Abraham und Isaak auf den Berg, um dort anzubeten. Wie die meisten Jungen war auch Issak neugierig. Er sah, daß sie Feuer, Holz und ein Messer dabei hatten, „wo aber”, so fragte er seinen Vater, „ist das Lamm für das Brandopfer?” (Genesis 22:7.) Erst als ich selbst Söhne hatte, verstand ich, welche Pein Abraham gelitten haben muß, als er schlicht antwortete: „Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn.” (Genesis 22:8.)

Am befohlenen Ort angekommen, baute Abraham einen Altar und legte das Holz darauf. Dann, so steht es in der Bibel, „fesselte [Abraham] seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz.” (Genesis 22:9.) Was hat Isaak wohl gedacht, als sein Vater etwas so sonderbares tat? In der Bibel steht nichts über einen Kampf oder Einspruch. Isaaks Schweigen läßt sich nur dadurch erklären, daß er seinem Vater vertraute und ihm gehorsam war.

Dann sagt die Bibel: „Schon streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.” (Genesis 22:10.) Wie ihr wißt hatte Abraham seine Prüfung bestanden, und der Herr verschonte den jungen Isaak. „Strecke deine Hand nicht gegen den Knaben aus”, gebot ein Engel dem Abraham. (Genesis 22:12.) Ein Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte, wurde anstelle Isaaks geopfert.

Als junger Mann sah ich in dieser Geschichte hauptsächlich das Abenteuer, aber ich war auch tief beeindruckt von Isaaks Gehorsam. Als ich älter war, erfuhr ich, daß die heilige Schrift ein Erlebnis wie das von Abraham und Isaak ein Vorbild nennt, also eine Parallele oder ein Hinweis auf etwas anderes. Jakob, ein Prophet im Buch Mormon, sagt, das Gebot an Abraham, seinen Sohn zu opfern, sei „ein Sinnbild für Gott und seinen einziggezeugten Sohn” (Jakob 4:5).

Die Geschichte zeigt auch die Güte Gottes, der Isaak bewahrte und einen Ersatz schickte, damit er nicht sterben mußte. Wegen unserer Sünden und unserer Sterblichkeit sind wir, gleich Isaak, zum Tod verurteilt. Wenn alle andere Hoffnung vergangen ist, schickt der Vater im Himmel das Lamm Gottes, und durch sein Sühnopfer sind wir gerettet.

Der Apostel Paulus lehrt, daß die heilige Schrift „von Gott eingegeben” und „nützlich … zur Erziehung in der Gerechtigkeit” ist (siehe 2 Timotheus 3:16). Erziehung in der Gerechtigkeit gewinnen wir aus den Erlebnissen, die in der heiligen Schrift aufgezeichnet sind. Die heilige Schrift liefert uns gewissermaßen Fallstudien über die Folgen des Haltens und des Nichthaltens der Gebote.

Ein besonders für junge Leute wichtiges Beispiel betrifft Josef, der als Knabe nach Ägypten verkauft worden war. Obwohl Josef nur ein Sklave war beeindruckte er seinen ägyptischen Herrn durch seine Fähigkeiten so sehr, daß dieser Herr Josef zum Verwalter seines ganzen Besitzes machte, und zwar sowohl im Haus als auch auf dem Feld (siehe Genesis 39:4-6). Dann, als Josef soviel Bedeutung und Macht erlangt hatte, wurde er geprüft.

Die Frau seines Herrn versuchte, Josef zum Ehebruch zu verführen. Josef wies ihre Annäherungsversuche zurück und sagte, er werde weder das Vertrauen ihres Mannes brechen, noch das größere Vertrauen, daß durch eine Sünde gegen Gott gebrochen würde; Josef nannte diese Sünde ein großes Unrecht (siehe Vers 9). Wieder und wieder wies er sie ab. Eines Tages, als sonst niemand im Haus war, hielt sie ihn an der Kleidung fest. Die Schrift schildert sehr anschaulich: „Er ließ sein Gewand in ihrer Hand und lief hinaus.” (Vers 12.)

Welch eine eindrucksvolle Lektion in Rechtschaffenheit! In der neuzeitlichen Offenbarung wird dieselbe Lehre erteilt: „Geht fort von denen, die schlecht sind, errettet euch! Seid rein, die ihr die Gefäße des Herrn tragt.” (LuB 38:42.) Diese Worte gebieten uns, dem Beispiel Josefs zu folgen.

Meinen liebsten Geschichten aus der Bibel war gemeinsam, wie der Herr seine rechtschaffenen und gläubigen Söhne bewahrt. In meiner Jugend gefiel mir dieser Teil der Geschichte Josefs am besten.

Wir erinnern uns, wie die eifersüchtigen älteren Söhne Jakobs sich verschworen, den ihnen vorgezogenen jüngeren Bruder zu töten. Nachdem sie ihn ergriffen und in ein Loch geworfen hatten, beschlossen sie, ihn stattdessen in die Sklaverei zu verkaufen. Zur gleichen Zeit als sie ihrem Vater erzählten, daß Josef von einem wilden Tier getötet worden sei, führten die Händler, die Josef in der Steppe von Kanaan gekauft hatten, ihn hinab nach Ägypten und in die Sklaverei, (siehe Genesis 37.)

In Ägypten warf man Josef zu Unrecht ins Gefängnis. Doch selbst dort tat er sich hervor, und der Herr segnete ihn. Als es an der Zeit war, kam er hervor und deutete den Traum des Pharao. Er wurde als Gebieter über ganz Ägypten gesetzt. In dieser einflußreichen Position wurde er zum Werkzeug für die Errettung seiner Familie vor der Hungersnot und zum Werkzeug der Liebe und der Vergebung gegenüber seinen Brüdern, die ihm Unrecht getan hatten. (Siehe Genesis 40-45.)

Als Junge haben mich Josefs Abenteuer fasziniert, und es hat mich beeindruckt, wie der Herr ihn vor Mord und aus der Sklaverei und dem Gefängnis gerettet hat. Als ich zum ersten Mal das Buch Mormon las, fand ich, daß Joseph „nach Ägypten verkauft, aber durch die Hand des Herrn bewahrt wurde” (l Nephi 5:14). Später erfuhr ich aus den heiligen Schriften, daß Bewahrung dieser Art jedem zugänglich ist. Die Bibel stellt beispielsweise fest: „Seine Getreuen behütet der Herr.” (Psalm 31:23.) An anderer Stelle wird über Gott gesagt: „Ein Schild ist er für alle, die bei ihm sich bergen.” (Sprichwörter 30:5.)

Ein weiteres beliebtes Beispiel für Gottes bewahrende Fürsorge betrifft David, den jungen Schäfer. David glaubte fest an den Gott Israels, und dieser Glaube gab ihm großen Mut.

Als das Heer der Philister sich zum Kampf gegen die Israeliten versammelt hatte, trat der mächtige Goliat vor und schleuderte Israel die Herausforderung zum Zweikampf entgegen. König Saul und alle Israeliten erschraken und hatten große Angst (siehe l Samuel 17:11). Tag für Tag erneuerte Goliat die Herausforderung, aber niemand wollte ihm entgegentreten.

David kam ins israelitische Lager um Verpflegung abzugeben, und er hörte Goliats Gebrüll. Überrascht fragte David: „Wer ist denn dieser unbeschnittene Philister, daß er die Schlachtenreihen des lebendigen Gottes verhöhnen darf?” (Vers 26.) Er fragte, ob er gegen den Mann kämpfen dürfe. Der König lehnte dies mit den Worten ab: „Du bist zu jung.” (Vers 33.) Mit Mut und Glauben erwiderte David: „Der Herr, der mich aus der Gewalt des Löwen und des Bären gerettet hat, wird mich auch aus der Gewalt dieses Philisters retten.” (Vers 37.)

Als David auf das Schlachtfeld kam, verspottete Goliat ihn wegen seiner Jugend, verfluchte ihn im Namen seiner Götter und rief, daß er, Goliat, Davids Fleisch den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben werde (siehe Vers 42-46).

Davids Antwort zählt zu den großen Zeugnissen von Glauben und Mut, die in der Literatur zu finden sind. Sie hat mich begeistert, als ich ein Junge war, und sie begeistert mich noch heute.

„Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heere, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast.

Heute wird dich der Herr mir ausliefern. Ich werde dich erschlagen und dir den Kopf abhauen. Die Leichen des Heeres der Philister werde ich noch heute den Vögeln des Himmels und den wilden Tieren zum Fraß geben. Alle Welt soll erkennen, daß Israel einen Gott hat. Auch alle, die hier versammelt sind, sollen erkennen, daß der Herr nicht durch Schwert und Speer Rettung verschafft; denn es ist ein Krieg des Herrn, und er wird euch in unsere Gewalt geben.” (Vers 45-47.)

Sie wissen, was dann geschah. David betäubte den Philister mit einer Steinschleuder und schlug ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab. Als ihr Vorkämpfer fiel, wurden die Philister von Angst gepackt und flohen. Mit Triumphgeschrei setzte das Heerr der Israeliten ihnen nach und errang einen großen Sieg.

Unzählige junge Menschen sind von dieser wunderbaren Lektion der Rechtschaffenheit inspiriert worden. Irgendwann muß jeder von uns sich denen stellen, die spotten und schmähen. Einige von uns sehen sich manchmal einer weltlichen Macht gegenüber, die so stark ist wie Goliat. Wenn das geschieht, müssen wir so mutig wie David sein, der mächtig war, weil er Glauben hatte und im Namen des Herrn der Heerscharen für eine gerechte Sache eintrat.

Auch unsere Missionare wirken schwach und wehrlos, kraftlos gegen die Kampfkraft des Widersachers und derer, die ihm dienen. Der Herr hat aber verheißen, daß er „ihnen ein Schild und Schutz” sein wird (LuB 35:14), und diese Verheißung geht jeden Tag an vielen Orten auf der Welt in Erfüllung.

Dieser Schild und Schutz des Herrn bewahrt uns auch vor unseren eigenen schädlichen Regungen. In der Offenbarung, die den heutigen Heiligen gebietet, sich des Alkohols, des Tabaks, der heißen Getränke und anderer schädlicher Dinge zu enthalten, wird den Getreuen verheißen, „daß der zerstörende Engel an ihnen vorübergehen wird wie an den Kindern Israel und sie nicht töten wird” (LuB 89:21).

In einer anderen Geschichte über Bewahrung geht es um einen Propheten und seinen jungen Diener. Elischa hatte dem Königreich Israel geholfen, die Aramäer zurückzuschlagen, und darum schickten diese eine starke Truppe mit Pferden und Wagen los, die den Propheten gefangen nehmen sollte. Als der junge Diener Elischas sah, daß die Streitmacht die Stadt umstellt hatte, schrie er vor Angst auf, doch Elischa beruhigte ihn: „Fürchte dich nicht! Bei uns sind mehr als bei ihnen.

Dann betete Elischa: Herr, öffne ihm die Augen, damit er sieht. Und der Herr öffnete dem Diener die Augen: Er sah den Berg rings um Elischa voll von feurigen Pferden und Wagen.” (2 Könige 16,17.)

Der Herr griff ein und verwirrte und verblendete die Aramäer, und sie wurden von der Armee Israels gefangengenommen.

Wenn ich als Junge diese wundervolle Geschichte las, identifizierte ich mich immer mit dem Diener des Elischa. Ich dachte, wenn ich jemals im Dienst des Herrn stehe und von den Mächten des Bösen umstellt bin, dann hoffe ich, daß der Herr mir die Augen öffnet und mir den Glauben gibt, daß ich begreife: Wenn wir im Werk des Herrn tätig sind, dann sind diejenigen, die mit uns sind, immer stärker als diejenigen, die gegen uns sind.

Biblische Geschichten wie diese bedeuten nicht, daß den Dienern Gottes alles Schwere erspart bleibt oder daß sie immer vor dem Tod gerettet werden. Einige Gläubige verlieren durch Verfolgung das Leben, andere müssen wegen ihres Glaubens viel Schweres ertragen. Die den treuen Dienern Gottes verheißene Bewahrung ist aber heute so wirklich wie zur Zeit der Bibel.

Auf der ganzen Welt werden die treuen Heiligen der Letzten Tage vor der Macht des Bösen und seiner Diener bewahrt, bis sie ihre Aufgabe in der Sterblichkeit erfüllt haben. Diese Aufgabe in der Sterblichkeit ist für einige kurz, wie es mit einigen tapferen jungen Männern der Fall ist, die im Missionsdienst das Leben verloren haben. Für die meisten von uns ist die Reise durch die Sterblichkeit jedoch lang, und wir ziehen unseren Weg unter der Obhut schützender Engel.

Im Laufe meines Lebens habe ich oft erlebt, daß ich in dem geführt wurde, was ich tun sollte, und daß ich vor Verletzungen wie auch vor Bösem bewahrt wurde. Gottes bewahrende Fürsorge hat mich ebenso vor den bösen Taten anderer Menschen beschützt wie auch davor, den schlimmsten meiner eigenen Regungen nachzugeben. Ich genoß diesen Schutz auch in einer warmen Sommernacht auf den Straßen von Chicago. Ich habe noch nie öffentlich darüber gesprochen. Ich tue es jetzt, weil es eindrücklich veranschaulicht, wovon ich rede.

June, meine Frau, hatte eine Sitzung der Gemeindebeamten besucht. Als ich hinfuhr, um sie abzuholen, hatte sie eine Schwester bei sich, die wir nach Hause bringen sollten. Sie wohnte nahebei in der Gegend von Woodlawn, und das war das Territorium einer Bande, die sich Blackstone Rangers nannte.

Ich parkte am Bordstein vor dem Haus, in dem die Schwester wohnte, und begleitete sie durch den Eingangsbereich, die Treppe hinauf und bis zu ihrer Wohnung. June blieb im Auto. Sie hatte alle Türen verriegelt, und für den Fall, daß sie plötzlich losfahren mußte, hatte ich den Schlüssel im Zündschloß gelassen. Wir hatten eine ganze Reihe von Jahren im südlichen Bezirk von Chicago gelebt und waren an solche Vorsichtsmaßnahmen gewöhnt.

Zurück im Eingangsbereich, noch ehe ich auf die Straße trat, sah ich mich aufmerksam nach allen Seiten um. Im Licht einer nahen Laterne konnte ich sehen, daß die Straße verlassen war, abgesehen von drei jungen Männern, die vorübergingen. Ich wartete, bis die drei außer Sicht waren, und ging dann rasch zum Auto.

Als ich auf der Fahrerseite stand und wartete, bis June die Tür geöffnet hatte, sah ich, wie einer dieser jungen Männer auf mich zu rannte. Er hielt etwas in der rechten Hand, und mir war klar, was das war. Ich hatte nicht mehr die Zeit, ins Auto zu steigen und wegzufahren, bevor er mich erreichte.

Während June sich herüberbeugte, um die Tür zu öffnen, blickte sie glücklicherweise aus dem Rückfenster und sah diesen Burschen mit einer Pistole in der Hand um das Heck des Wagens kommen. Klugerweise öffnete sie die Tür nicht. In den nächsten zwei, drei Minuten, die wie eine Ewigkeit schienen, war sie die entsetzte Zuschauerin dessen, was auf ihrer Augenhöhe geschah, gerade vor dem Autofenster.

Der junge Mann stieß mir die Pistole in den Bauch und sagte: „Gib mir dein Geld.” Ich nahm meine Geldbörse heraus und zeigte ihm, daß sie leer war. Ich trug nicht einmal eine Armbanduhr, die ich ihm hätte anbieten können, weil mir am selben Tag das Armband gerissen war. Ich bot ihm ein paar Münzen an, die ich in der Tasche hatte, aber er knurrte nur eine Ablehnung. „Gib mir deine Autoschlüssel”, forderte er. „Die sind im Auto”, sagte ich. „Sag ihr, sie soll die Tür aufmachen”, entgegnete er. Einen Augenblick dachte ich darüber nach, wozu das führen könnte, dann lehnte ich ab. Er war wütend. Er rammte mir die Pistole in den Bauch und sagte: „Tu es, oder ich töte dich!”

Es ist zwar schon zweiundzwanzig Jahre her, aber ich erinnere mich so deutlich, als wäre es gestern gewesen. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß nichts den Verstand so wunderbar konzentriert, als wenn jemand mit einer tödlichen Waffe vor einem steht und mit dem Tode droht.

Als ich ablehnte, wiederholte der junge Räuber seine Forderungen und unterstrich sie mit ärgerlicher Stimme und indem er mit der Waffe fuchtelte. Wie ich mich erinnere, überlegte ich, daß er mich wohl nicht vorsätzlich erschießen würde. Wenn er aber nicht vorsichtiger dabei sein würde, mir die Waffe in den Bauch zu rammen, dann könnte er mich durchaus versehentlich erschießen. Die Pistole sah billig aus, und der Gedanke an ihren Mechanismus machte mich nervös.

„Gib mir dein Geld!” „Ich habe keins.” „Gib mir die Autoschlüssel!” „Die sind im Auto.” „Sag ihr, sie soll die Tür aufmachen!” „Das tue ich nicht.” „Dann töte ich dich.” „Ich tu es nicht.” June konnte den Wortwechsel im Auto zwar nicht hören, aber sie konnte sehen, was er mit der Pistole tat. Krampfhaft überlegte sie, was zu tun sei. Sollte sie die Tür öffnen? Sollte sie auf die Hupe drücken? Sollte sie wegfahren? All das könnte die Sache vielleicht noch schlimmer machen, also wartete und betete sie nur. Da überkam sie ein friedvolles Gefühl. Sie fühlte, alles würde gut gehen.

Dann sah ich zum ersten Mal Aussicht auf Hilfe. Hinter dem Räuber näherte sich ein Autobus. Etwa 15 Meter entfernt hielt der Bus an. Ein Passagier stieg aus und eilte davon. Der Fahrer sah mich gerade an, aber ich konnte sehen, daß er mir keine Hilfe anbieten würde.

Was hinter dem Räuber vor sich ging, außerhalb seines Sichtwinkels, machte ihn nervös und lenkte ihn ab. Die Pistole schwenkte von meinem Bauch weg, bis sie ein wenig nach links zielte. Ich hatte den Arm schon leicht erhoben, und jetzt konnte ich schnell nach der Waffe greifen und mit dem Räuber ringen, ohne Gefahr zu laufen, getroffen zu werden. Ich war größer und schwerer als dieser junge Mann, und damals war ich auch recht sportlich. Kein Zweifel, ich würde ihn in einem kurzen Ringkampf bezwingen, wenn ich nur die Pistole heraushalten konnte. Als ich gerade ansetzen wollte, erlebte ich etwas Einzigartiges. Ich sah nichts, ich hörte t? auch nichts, aber ich wußte etwas. Ich wußte, was geschehen würde, wenn ich nach der Waffe griff. Wir würden miteinander ringen, und ich würde die Waffe auf die Brust des Jungen richten. Die Pistole würde losgehen, und er würde sterben. Mir war auch klar, daß ich nicht für den Rest meines Lebens das Blut dieses Jungen auf meinem Gewissen haben durfte.

Ich entspannte mich, und als der Bus losfuhr, legte ich ihm die rechte Hand auf die Schulter und redete ihm ins Gewissen. Damals hatten June und ich Kinder im Teenager-Alter, und so etwas war für mich ganz normal.

„Sieh mal”, sagte ich. „Das ist nicht richtig. Was du da tust, ist einfach nicht richtig. Im nächsten Auto könnte ein Polizist sitzen, und du könntest für das hier getötet werden oder ins Gefängnis kommen.”

Die Waffe richtete sich wieder auf meinen Bauch, und der junge Räuber reagierte auf meine Worte, indem er seine Forderungen zum dritten Mal wiederholte. Diesmal jedoch gedämpfter. Er drohte nochmals, mich umzubringen, aber er schien es nicht mehr ernst zu meinen. Als ich wieder ablehnte, zögerte er einen Augenblick, steckte die Pistole in die Tasche und lief weg. June öffnete die Tür, und mit einem Dankgebet fuhren wir davon. Wir hatten eine wundervolle Bewahrung der Art erlebt, wie ich sie als Kind in den biblischen Geschichten gelesen hatte.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wie sich dieses Ereignis auf die Aufgaben ausgewirkt hat, die im späteren Leben auf mich zukamen. Weniger als ein Jahr nach dieser Nacht im August wurde ich zum Präsidenten der Brigham –Young -Universität gewählt. Fast vierzehn Jahre später erhielt ich meine gegenwärtige Berufung.

Ich danke dem Herrn dafür, daß er mir die Vision und die Kraft gegeben hat, mein Vertrauen nicht auf den Arm des Fleisches zu setzen, sondern auf die schützende Fürsorge des himmlischen Vaters. Ich bin dankbar für die Verheißung, die das Buch Mormon uns, die wir in den Letzen Tagen leben, gibt, nämlich daß sich die Rechtschaffenen nicht zu fürchten brauchen und er die Rechtschaffenen durch seine Macht bewahrt (siehe l Nephi 22:17). Ich bin dankbar dafür, daß diejenigen bewahrt werden, die ihre Bündnisse eingehalten und sich für die Segnungen qualifiziert haben, die an heiligen Orten verheißen werden.

Diese und alle anderen Verheißungen an die treuen Kinder Gottes kommen durch die Stimme und die Macht des Gottes Israels. Ich gebe Zeugnis von diesem Gott, unserem Erretter, Jesus Christus, dessen Auferstehung und Sühnopfer die Unsterblichkeit gewährleisten und der für das ewige Leben die Möglichkeit geschaffen und die Richtung gewiesen hat. Im Namen Jesu Christi. Amen.