1990–1999
Nächstenliebe und Wissen
Oktober 1994


Nächstenliebe und Wissen

Wir glauben, daß unsere gütigen Taten … so bedeutsam sind, daß sie den Heiligen Geist in unser Leben ziehen.

Die Frauen in der Kirche haben schon oft ihre Kräfte mobilisiert, um einander, ihrer Familie oder dem Gemeinwesen auf liebevolle Weise zu dienen. Die Aufgaben, die wir bewältigen, mögen ganz verschieden sein, doch wir glauben, daß uns das Wie, die Art und Weise, wie wir an die Aufgabe herangehen, von der Welt unterscheidet, und zwar weil wir den Wunsch haben, geistig geführt zu werden und unser Tun auf Nächstenliebe gründen. Die heiligen Schriften weisen darauf hin, daß Nächstenliebe, das Wort, das wir für die höchste Form der Liebe verwenden, nämlich „die reine Christusliebe”, gelernt werden muß. Wenn wir sie lernen, gelingt es uns, gütig zu sein, ohne Neid, uns nicht zum Zorn reizen zu lassen, uns an der Wahrheit zu freuen, alles zu ertragen, zu glauben, zu hoffen, allem standzuhalten (siehe l Korinther 13:4-7). Wir erlangen Nächstenliebe, indem wir Gnade um Gnade empfangen und Weisung auf Weisung aufbauen:

„Denn siehe, so spricht der Herr Gott: Ich werde den Menschenkindern Zeile um Zeile geben, Weisung um Weisung - hier ein wenig und dort ein wenig; und gesegnet sind, die auf meine Lehren hören und meinem Rat ihr Ohr leihen; denn sie werden Weisheit lernen.” (2 Nephi 28:30.) Die Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung trachten danach, Weisheit zu lernen, aber das Erlernen von Nächstenliebe steht für uns an erster Stelle.

Nächstenliebe entfaltet sich in uns, wenn wir sehen, wie wir in unserem Leben fortschreiten - von der Liebe mit der Einstellung: „Was habe ich davon?” zu der Liebe zur Familie und zu Freunden und, welch ein Segen, daß wir uns schließlich der bedingungslosen Liebe des Herrn für uns bewußt werden, die uns zeigt, daß wir alle gemeinsam mit ihm zu einer göttlichen Familie gehören. Eine solche Liebe, die Nächstenliebe, entsteht meist nicht plötzlich in vollkommener und beständiger Weise, aber wir können sie entwickeln, indem wir lernen und wachsen und herausfinden, wie wir Gottes Liebe kennenlernen können. Die heilige Schrift macht uns das deutlich. Dort lesen wir, daß der Gotteserkenntnis die Liebe vorausgeht. In l Johannes 4:8-11 lesen wir:

„Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe. Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.

Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.

Liebe Brüder [und Schwestern], wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.”

Was wir aus Nächstenliebe für uns selbst und füreinander tun „müssen”, geschieht manchmal ganz rasch und mühelos, öfter aber durch mutige, überlegte und selbstlose Anstrengung. Die FHV bietet den Frauen Gelegenheit, ihre persönlichen Bemühungen zu ergänzen, nämlich Nächstenliebe zu entwickeln und auszuüben. Durch gemeinsame Anstrengung können die FHV- Schwestern einander helfen, so daß jeder das Gefühl hat, unterstützt und geliebt zu werden, vor allem in Zeiten der Not und in einer Krise. Wir erproben unsere Bemühungen, indem wir wie Christus bedingungslose Liebe und Verständnis entwickeln. Wir glauben, daß unsere gütigen Taten, die unsere Liebe zeigen, so bedeutsam sind, daß sie den Heiligen Geist in unser Leben ziehen.

Ebenso wichtig ist, daß uns die FHV die Möglichkeit gibt, einander die errettenden Grundsätze und Verordnungen zu lehren, die durch die Macht des Priestertums an uns gelangen und in der Schrift aufgezeichnet sind. Dann werden wir vielleicht zu Werkzeugen, um „Seelen zu retten”, wie es sich der Prophet Joseph Smith im Jahr 1842 vorgestellt hat. Heute, wie zur Zeit der Gründung der FHV, betrachten die Frauen in der Kirche die Nächstenliebe als die hervorragendste Möglichkeit, die Fähigkeit zu entwickeln, Gott zu erkennen und nicht nur etwas über ihn zu wissen.

Im Abschiedsgebet des Erretters, das im siebzehnten Kapitel des Johannesevangeliums aufgezeichnet ist, sagte er: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast” (Vers 3). Dann sprach er von den Aposteln und von den Gläubigen der damaligen Zeit: „Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen” (Vers 8). Die Erkenntnis, die den Aposteln Jesu und anderen Gläubigen damals zuteil wurde, war eine Gabe des Geistes, aber man beachte, wie wichtig die Worte waren, die Christus ihnen gesagt hatte und die dann von ihnen an alle weitergegeben wurden, die ihr Zeugnis hören wollten, und die später als schriftliches Testament an uns weitergegeben wurden. Die Wirklichkeit Gottes und Christi und unserer Beziehung zu ihnen erreicht uns durch eine fortlaufende Kette von Erkenntnis, übermittelt durch Worte, ja, heilige Worte, und durch den Heiligen Geist.

Da uns bewußt ist, wie wichtig Worte

sind, um einander erlösende Wahrheiten zu vermitteln, hat die FHV die Anstrengung unternommen, alle zum Lernen zu ermutigen, indem sie denen, die nicht lesen können, helfen möchte, es zu lernen, und diejenigen, die lesen können, anregt, aufmerksamer zu lesen.

Gut und verständnisvoll lesen zu können ist ein wichtiger Weg, um Gott zu erkennen, und zwar ein verläßlicher und allgemeingültiger Weg. Ich sage allgemeingültig, da wir alle als Menschen genetisch mit der Fähigkeit ausgestattet sind, Sprache zu erkennen und zu formulieren. Das ist eines der Wunder in uns! Der Schöpfer hat beabsichtigt, daß wir unsere Fähigkeit, mit ihm und miteinander in Verbindung zu sein, wertschätzen und weiterentwickeln. Er erwartet, daß wir diese Fähigkeit nutzen, um Rechtschaffenheit zu lernen, einander zu erbauen und unser göttliches Wesen zu entfalten.

Vielleicht ist das der Grund, der uns heute abend hier zusammenführt. Wir haben schon einige Erfahrung damit, in solch großen Versammlungen zu sitzen. Wir geben uns ziemlich viel Mühe, um zusammenzukommen - in großer Anzahl - und mit schräggelegtem Kopf den Worten zu lauschen. Manche empfangen Unterweisung. Andere denken über das nach, was vorgeschlagen wird. Manche wägen ab, was gesagt wird, und sind noch nicht sicher, was für eine Bedeutung es für sie selbst hat. Dies ist ein Vorgang, für den wir geschaffen worden sind.

Jede von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, daß wir eine Wahrheit oder eine Erkenntnis, die wir durch inspirierende Worte oder Musik von anderen hören, mit etwas verbinden, was tief in unserer

Seele ist. Wenn diese Verbindung zustande kommt, fühlt es sich an wie eine kleine Explosion der Erkenntnis. Wir haben ein erbauendes und warmes Gefühl, Herz und Verstand werden angesprochen. Solche Erfahrungen bestätigen, zumindest für den Augenblick, unsere Verwandtschaft miteinander und mit Gott. Sie helfen uns, von neuem zu spüren, wer wir sind und wer wir sein können. Wenn wir diese Art der Verständigung begreifen, sehen wir die Lernmöglichkeiten, die überall um uns ungenutzt ruhen, viel klarer. Es fällt uns leichter festzustellen, was wir zur Routine haben werden lassen, was für Bequemlichkeiten uns davon abhalten, den Verstand mit geistiger Kraft zu gebrauchen, um „einen anderen Weg” zu sehen, „einen, der alles übersteigt” (l Korinther 12:31).

Ich wäre unachtsam, wenn ich nicht anerkennen wollte, um wieviel komplizierter und vielfältiger die Kommunikationswege heutzutage geworden sind, die bis zu unserem Verstand gelangen. Fernseh-, Radio-, Video-, Satelliten-Übertragung sowie die gedruckten Medien haben die Zuhörerschaft dieser FHV-Konferenz heute abend sehr vergrößert. Das ist für uns ein Segen. Doch andere verwenden dieselbe Technologie mit anderer Absicht, um uns zu verführen. Es erfordert ein waches Urteilsvermögen, um zu entscheiden, was unseren Sinn auf Vortrefflichkeit lenkt und was uns ablenkt, verwirrt oder täuscht.

„Darum hütet euch, daß ihr euch nicht täuschen laßt; und damit ihr nicht getäuscht werdet, sollt ihr ernstlich nach den besten Gaben trachten und immer bedenken, wozu sie gegeben sind;

denn wahrlich, ich sage euch: Sie sind denen zum Nutzen gegeben, die mich lieben und alle meine Gebote halten, und für diejenigen, die danach trachten, dieses zu tun.” (LuB 46:8,9.)

Als FHV-Beamtin ist es für mich ein großer Segen, vielen Töchtern Gottes zu begegnen, die fest entschlossen sind, seine Gebote zu halten, die heilige Bündnisse geschlossen haben und halten, und die sich aufrichtig bemühen, sein Wort zu kennen. Keine dieser Frauen ist typisch, denn jede hat eine ganz andere Lebenserfahrung, abhängig von ihren jeweiligen Lebensumständen. Sie unterscheiden sich von der Welt, da sie danach trachten, die Existenz geistiger Gaben und der Liebe Gottes als etwas Wirkliches zu erleben.

Diesen Frühling traf ich in Kalifornien eine solche Frau, deren Glaube und Zeugnis mich tief bewegt haben. Sie war zierlich und sprach mit leiser Stimme und bezeichnete sich selbst als Bootsflüchtling. Nachdem sie in den Vereinigten Staaten angekommen war, hatte sie Englisch gelernt und sich für ein Stipendium qualifiziert, so daß sie das

College besuchen konnte. Nicht nur studierte sie Chemie, sondern heiratete, schloß sich der Kirche an und bekam vier Kinder. Daß sie gut lesen konnte, war eine bedeutende Hilfe bei der Bewältigung all der vielen Anforderungen. Sie erzählte, was für große Anstrengung es sie kostete, im College die Texte in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache zu verstehen. Sie sagte, das Studieren des Buches Mormon hätte nicht nur ihr Verständnis von geistiger Wahrheit vertieft, sondern auch ihr Verständnis in dem anspruchsvollen Studium der Mathematik und Chemie erweitert.

Einige Zeit nach ihrem Abschluß verließ ihr Mann sie und die Kinder und ließ sie ohne jede Unterstützung zurück, so daß sie sich eine Arbeit suchen mußte. Sie hatte das Gefühl, in einem Labor nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit angestellt worden zu sein, hatte keinerlei Erfahrung und wußte nichts von den Vorgängen, die für andere reine Routine waren. Da sie sich nur an den Herrn wenden konnte, zog sie sich während der Arbeit immer wieder zurück, um um Hilfe zu beten. Sie stellte auch fest, daß ihr Verstand klar wurde, wenn sie das Buch Mormon las, und entwickelte mit der Zeit effektive Ideen, wie sie ihre Aufgaben ausführen konnte. Sie hat so großen Fortschritt gemacht, daß heute andere Laborarbeiter, die mit einem Projekt nicht weiterkommen, sich an sie wenden, um es sich von ihr erklären zu lassen und ihren Rat einzuholen.

Sie gab Zeugnis von ihrer sicheren Erkenntnis, daß Gott wirklich lebt, und vor allem von seiner Liebe. Ihre Anstrengungen für ihre Kinder fordern ihre gesamte körperliche und geistige Kraft. An Samstagen geht sie oft mit ihren Kindern auf den Markt, um Lebensmittel einzukaufen, die sie dann gemeinsam zubereiten und in ein Obdachlosenheim bringen. Es ist ihr größter Wunsch, ihre Kinder mögen einmal begreifen, wie sie früher gelebt hat, als sie nichts hatte. Sie lehrt sie, Gottes Liebe zu begreifen, indem sie ihnen hilft, Nächstenliebe zu üben. In dem Bemühen, die Bedeutung ihres Zeugnisses gänzlich zu verstehen, half mir die Schriftstelle in Alma 32:23, wo es heißt:

„Sein Wort aber teilt er den Menschen durch Engel mit, ja, nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen. Dies ist aber nicht alles: den kleinen Kindern werden oftmals Worte gegeben, die die Weisen und die, die gelehrt sind, beschämen.”

Ich bezeuge Ihnen, daß Gott lebt und gut ist und daß seine geistigen Gaben jedem von uns zugänglich sind. Mögen wir ihn und Christus, unseren Erretter, in einer Weise erkennen, die uns bereitmacht, einander durch den Heiligen Geist reine Liebe entgegenzubringen. Das erbitte ich im Namen Jesu Christi. Amen.