1990–1999
Vorwärts rudern
Oktober 1994


Vorwärts rudern

Schwestern, wir müssen weiter wachsen. Es gehört zu unserer irdischen Aufgabe, daß wir an Wissen und Weisheit zunehmen.

Meine lieben Schwestern und Brüder, Aloha! Es ist mir eine große Freude, heute hier bei Ihnen zu sein und die Kraft unserer Schwesternschaft im Evangelium Jesu Christi zu verspüren. Wir sind als Frauen mit einem bestimmten Ziel zusammengekommen, als Schwestern der FHV, die die Organisation des Herrn für die Frauen ist. Wie der wunderbare Chor flehe ich, daß wir alle zu Christus kommen und in seiner ewigen Liebe Ruhe finden.

Ich möchte einige Gedanken über die Macht des Wissens äußern und wie dies mit Selbständigkeit zusammenhängt. Den Heiligen in dieser Evangeliumszeit hat der Herr eine wichtige Anweisung gegeben, nämlich sich ein ausgewogenes Wissen anzueignen. In der heiligen Schrift werden dafür die Begriffe Lerneifer und Glauben verwendet. Der Herr fordert uns beispielsweise in, Lehre und Bündnisse’ 88:118 auf: „Sucht eifrig und lehrt einander Worte der Weisheit; ja, sucht Worte der Weisheit aus den besten Büchern; trachtet nach Wissen, ja, durch Lerneifer und auch durch Glauben.” Dieselbe Aufforderung wird in, Lehre und Bündnisse’ noch zweimal wiederholt (siehe LuB 109:7,14).

Durch Lerneifer und durch Glauben lernen, das bedeutet für mich, daß Selbständigkeit aus beiden Anstrengungen entsteht. Jeder, der mit dem Vorhaben der FHV, daß jeder lesen und schreiben lernt, zu tun hat, weiß, daß man Lerneifer und Glauben braucht, wenn man lesen und schreiben lernen will. Wir müssen beides entwickeln.

Ich will ein Beispiel anführen. Angenommen, Sie wollen wissen, wie der menschliche Körper funktioniert. Der Glaube sagt uns, daß unser Körper durch einen inspirierten Vorgang erschaffen wurde, als Abbild unserer himmlischen Eltern, und daß es uns obliegt, ihn während unserer irdischen Prüfungszeit heilig und gesund zu erhalten, und daß wir ihn nach der Auferstehung in vollkommener Form zurückerhalten. Das ist die Botschaft des Glaubens. Das ist wie das eine Ruder an einem Boot.

Um jedoch zu verstehen, wie der Körper funktioniert - ob eine Krankheit durch ein chemisches Ungleichgewicht oder durch ein Fieber verursacht wird, wie ein gebrochener Knochen gerichtet wird oder wie eine Herzklappe, die nicht richtig funktioniert, durch eine Operation ersetzt wird -, ist ein intensives und detailliertes Lernen erforderlich. Lerneifer ist das andere Ruder, durch das wir Wissen erlangen können.

Was geschieht, wenn man versucht, ein Boot mit nur einem Ruder zu rudern? Man dreht sich unaufhörlich im Kreis. Wenn man kraftvoll rudert, wird man schneller. Wenn man langsam rudert, dreht man sich ganz sacht. Aber man dreht sich trotzdem nur im Kreis. Dasselbe gilt, wenn man den Glauben durch Lerneifer ersetzen will oder versucht, Glauben auszuüben, ohne auch zu lernen. Oft stellen wir fest, daß wir uns nur im Kreis drehen. Ich meine, der Heilige Geist kann uns manche Antworten erst dann geben, wenn wir eifrig nach Wissen trachten.

Denken Sie nur daran, was für große Fortschritte in der Medizin durch Menschen gemacht worden sind, die in ihrer Ausbildung beide Ruder benutzt haben. So hat Eider Russell M. Nelson, der dem Rat der Zwölf Apostel angehört, in seinem früheren Beruf als Herzchirurg beide Ruder verwendet. Mit seinen geschulten, fähigen Händen, dem Wissen, das er durch sein Lernen und seine Erfahrung in seinem Verstand gespeichert hat, und dem Glauben im Herzen, daß der Heilige Geist ihm bei einer Operation beistehen wird, hat er moderne Wunder vollbracht, die vielen Menschen das Leben gerettet oder ihre Lebenskraft und Energie verlängert haben, darunter auch Präsidenten der Kirche und viele Generalautoritäten. Wenn er sich nur auf seinen Glauben verlassen hätte, wäre er immer noch ein großer Mann, aber doch kein großer Chirurg gewesen. Wenn er sich nur auf das Lernen verlassen hätte, hätte er ein großer Chirurg sein können, aber ich denke, daß der Herr ihm dann viele Aufgaben nicht anvertraut hätte.

So ist es auch mit uns. Jede Frau muß beide Gaben entwickeln, die Gabe des Glaubens und die Gabe des Wissens, und zwar so gut sie nur kann. Wir müssen Lerneifer und Glauben entwickeln, um selbständig zu werden. Wir müssen begreifen, in was für einer Beziehung sie zueinander und zu uns stehen.

Es gibt viele Arten von Selbständigkeit. In den Wohlfahrtsrichtlinien der Kirche heißt es: „Um mehr Selbständigkeit zu entwickeln, müssen wir uns auf den folgenden Gebieten bereitmachen: Ausbildung, Gesundheit, Arbeit, Vorrat, Nutzung eigener Hilfsquellen sowie soziale, seelische und geistige Kraft.” (A Leader’s Guide to Weifare: Providing in the Lord’s Way, Seite 6.) Wir wollen hier einen Aspekt der Selbständigkeit betrachten, nämlich die Arbeit, und feststellen, wie Lerneifer und Glauben damit zusammenhängen.

Wir glauben an unsere Propheten. Sie haben uns den Rat gegeben, daß eine Mutter mit kleinen Kindern vor allem zu Hause gebraucht wird. Sie erinnern uns an die umfassenden Bedürfnisse der Kinder und wie verwundbar sie in den Jahren des Heranwachsens sind. Die Mutter spielt eine sehr wichtige Rolle, wenn es darum geht, eine ungefährdete, liebevolle und anregende Umgebung zu schaffen, in der die Kinder zu gesunden und selbständigen Menschen heranwachsen können. Die ideale Familie, in der die Kinder aufgezogen werden können, ist unserer Meinung nach, eine stabile, liebevolle Familie mit zwei Eltern, in der kleine Kinder die ganze Zeit von den Eltern betreut werden.

Aber nicht jede Lebenssituation entspricht dem Ideal. Nicht alle Frauen sind Mütter, und nicht alle Mütter haben Kinder zu Hause. Außerdem können nicht alle Mütter frei entscheiden, ob sie die ganze Zeit zu Hause bei ihren Kindern sein können. Oft wird die Entscheidung durch die Umstände eingeschränkt. Manchmal erfordern andere Aufgaben und Möglichkeiten eine schwere Entscheidung. Doch die Frauen und Familien werden mit solch einer Entscheidung glücklicher sein, wenn sie aufgrund von Wissen und auch Glauben getroffen worden sind.

Vielleicht sind das Wissen und der Glaube für eine Schwester, die vor einer Entscheidung steht, hilfreich, aber wir dürfen einander nie verurteilen. Wir kennen die Umstände der Schwester nicht. Wir wissen nicht, was für innere Kämpfe ihrer Entscheidung vorausgegangen sind. Ob sie alleinstehend ist, ob sie und ihr Mann, wenn sie verheiratet ist, sich gemeinsam an den Herrn um Führung gewandt haben, oder ob sie vielleicht nur auf sich gestellt war, wenn sie Entscheidungen im Hinblick auf die finanzielle und emotionale Sicherheit ihrer Kinder zu treffen hatte - lassen Sie uns als Schwestern einander anerkennen und unterstützen. Wir wollen dem Herrn, uns selbst und einander vertrauen, daß wir uns bemühen, unser Bestes zu tun. Wir brauchen alle Kraft für unsere täglichen Prüfungen. Fügen wir der Last, die eine Schwester zu tragen hat, nicht auch noch unsere Mißbilligung hinzu. Und während wir mit unserer Last kämpfen, lassen wir uns nicht dadurch schwächen, daß wir uns das gedankenlose Urteil eines anderen Menschen zu Herzen nehmen.

In der FHV sollen wir einander unterstützen und uns einander mitteilen. Wir sitzen alle im selben FHV-Boot, und wir alle müssen rudern, so fest wir nur können. Anerkennen wir den Beitrag, den jede leistet. Schließen wir keine Schwester aus, wofür sie sich auch entschieden hat und was ihre Umstände auch sein mögen. Zeigen wir ihr, daß wir darauf vertrauen, daß sie ihre Entscheidungen durch Wissen und durch Beten getroffen hat, und schaffen wir eine hilfsbereite Umgebung, in der sie ihre Entscheidungen ausführen und beurteilen kann, ob sie erfolgreich waren, gegebenenfalls auch ändern kann. Wenn eine Änderung notwendig oder wünschenswert ist, fällt das in einer liebevollen, hilfsbereiten Atmosphäre sicherlich leichter.

Jedes Jahr wird es für die Frauen immer wichtiger, daß sie ihre Fähigkeit erweitern, in wirtschaftlicher Hinsicht für sich und ihre Kinder zu sorgen, falls die Umstände es erfordern. Howard W. Hunter hat 1975, als er Mitglied des Kollegiums der Zwölf war, diesen Punkt ganz konkret angesprochen:

„Es gibt gewichtige Gründe dafür, warum unsere Schwestern sich darauf vorbereiten sollen, später einmal im Beruf zu stehen. Wir möchten, daß sie vor der Heirat die bestmögliche Berufsausbildung erhalten. Wenn sie ihren Mann verlieren oder geschieden werden und arbeiten müssen, dann sollen sie einer befriedigenden und lohnenden Beschäftigung nachgehen können. Wenn eine Schwester nicht heiratet, dann hat sie das Recht, einen Beruf auszuüben, in dem sie ihre Talente und Fähigkeiten zu voller Blüte bringen kann.” (Ensign, November 1975, Seite 124.) Sein Rat ist in den fast zwanzig Jahren, die seither vergangen sind, sogar noch bedeutsamer geworden, da die Wirtschaftslage es sehr schwierig macht, eine Familie mit nur einem Gehalt zu ernähren, da mehr Mütter ihre Kinder allein großziehen müssen und da mehr Frauen einen großen Teil ihres Lebens alleinstehend sind. Präsident Hunter sagt uns allen, daß wir das Ruder des Lerneifers ergreifen sollen, um uns in beruflicher Hinsicht auf eine befriedigende und lohnende Tätigkeit vorzubereiten, auch eine bezahlte Arbeitsstelle.

Präsident Hunters Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig der Glaube ist. Er beschreibt seine erste Berufslaufbahn als „in mancher Hinsicht herrlich”, doch sein Beruf erforderte es, daß er mit manchen Leuten zu tun hatte, deren Lebensweise ihm nicht behagte, deshalb wechselte er dann seine Arbeit. Dieses Beispiel zeigt, daß wir nach einer Arbeit suchen sollen, wo der Geist des Herrn bei uns sein kann. Mit anderen Worten: Rudern wir unser Boot mit beiden Rudern!

Sich durch Lerneifer Wissen anzueignen, das hat in meiner Familie eine große Rolle gespielt. Meine Eltern waren Pflanzarbeiter auf Hawaii. Beide waren gezwungen, die Schule zu verlassen, als sie in der sechsten Klasse waren. Die High-School kam für beide nicht in Frage, und das College war ein unerreichbarer Traum. Aber sie wünschten sich sehnlichst eine Ausbildung für ihre Kinder. Vielleicht weil ich fünf Jahre lang ihr einziges Kind war, träumten sie diesen Traum für mich, obwohl es in traditionellen

japanischen Familien ungewöhnlich ist, daß eine Tochter mehr Vorteile erhält als ein Sohn. Sie brachten viele Opfer, damit ich die High - School besuchen konnte, und brachten noch mehr Opfer, damit ich das College abschließen konnte. Dasselbe taten sie für meine Brüder in deren Berufsausbildung, obwohl meine Brüder keine akademische Ausbildung machen wollten. Bis zu meinem College - Abschluß hatten weder meine Mutter noch mein Vater je einen Fuß auf das Gelände eines Colleges gesetzt. Die einzige College-Absolventin, die sie kannten, war eine Lehrerin in unserem Dorf.

Aber sie gaben mir die Werkzeuge an die Hand, und sie schenkten mir Vertrauen. Was meine ich mit Werkzeugen? Sie lehrten mich, wissensdurstig zu sein, Fragen zu stellen, mir die Natur genau anzusehen, Menschen zu beobachten - vor allem in einer neuen Umgebung -, anderen mit Achtung zu begegnen und zu lernen, wie man mit ihnen in Kontakt kommt, hart zu arbeiten und immer mein Bestes zu geben. Sie glaubten, daß diese Fähigkeiten mir helfen würden, was immer ich auch mit meinem Leben vorhatte. Und sie hatten recht.

Und was meine ich mit Vertrauen? Als ich fünfzehn war, schickten sie mich auf die entfernt gelegene High-School. Auf vielerlei einfache Weise ließen sie mich wissen, daß sie meinen Entscheidungen vertrauten, daß sie darauf vertrauten, ich würde mein Ziel nicht aus den Augen verlieren und ein rechtschaffenes Leben führen. Was mich in meinem Leben mit am glücklichsten macht, ist, daß ich meine Eltern nicht enttäuscht habe.

Weil ich bereit war, mich mit dem Evangelium Jesu Christi zu befassen, wurde ich Mitglied der Kirche und entwickelte großen Glauben an den Erretter. Mein Glaube gab mir noch mehr Kraft, durch Lerneifer nach Wissen zu trachten. Ich kann Lerneifer und Glauben einfach nicht trennen. Beides berührt mein Herz, erleuchtet mir den Sinn und gibt mir Mut für meinen Dienst.

Mir durch Lerneifer Wissen anzueignen und vom Geist zu lernen, das sind die beiden Hälften meines Lebens. Diese Ruder haben mir geholfen, im Beruf mein Boot zu rudern, eine gute Ehe zu führen, meine Söhne großzuziehen und in der Kirche zu dienen. Ich brauche beide Ruder in meinem Streben nach Selbständigkeit. Auch Sie brauchen beide in Ihrem Streben nach Selbständigkeit.

In den letzten niedergeschriebenen Worten des Petrus rät er den Heiligen seiner Zeit:

„Wachset in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Retters Jesus Christus!” (2 Petrus 3:18), und König Benjamin forderte sein Volk auf, sie sollten „an Erkenntnis der Herrlichkeit dessen zunehmen, der euch

geschaffen hat, oder an Erkenntnis dessen, was gerecht und wahr ist” (Mosia 4:12).

Schwestern, wir müssen weiter wachsen. Es gehört zu unserer irdischen Aufgabe, daß wir an Wissen und Weisheit zunehmen. Wir müssen die beiden Ruder - des Lerneifers und des Glaubens - ergreifen, damit unser Boot nicht von den Stürmen des Lebens zum Sinken gebracht wird. Wir müssen unsere Kinder lehren, diese selben Ruder zu gebrauchen. Ermutigen wir sie, den Wert der Ausbildung zu erkennen und durch Lerneifer und durch Glauben an Wissen und Weisheit zuzunehmen.

Manche von Ihnen haben vielleicht das Gefühl, Ihre Chance, Ihr Wissen zu erweitern, sei bereits vorbei. Das ist nicht der Fall. Sie können in jedem Alter lernen. Kein Mensch hat genügend Kraft, um sämtliche Lebensumstände zu steuern, aber man kann diesen Umständen mit Selbstvertrauen begegnen, wenn man die geeigneten Werkzeuge besitzt und sich selbst zutraut, sie richtig zu verwenden.

Meine lieben Schwestern, vertrauen Sie auf den Herrn. Das Leben wird Sie vor viele schwierige und sogar erschreckende Entscheidungen stellen. Folgen Sie dem Geist, wenn Sie diese Entscheidungen treffen, in Absprache mit denen, die von der Entscheidung ebenfalls betroffen sind. Bemühen Sie sich, von kenntnisreichen Leuten mehr zu erfahren. Lassen Sie sich, wenn Sie möchten, einen Priestertumssegen geben, um Ihre Bitten an den Herrn noch zu ergänzen. Und wenn der Weg klar vor Ihnen liegt, dann gehen Sie diesen Weg mit aller Kraft, und .finden Sie Freude daran.

Ich habe mein Leben lang gelernt, und ich freue mich über alles, was ich jeden Tag über die Herrlichkeit des Evangeliums und über die Wunder dieser Welt lerne. Die Verheißung des ewigen Fortschritts begeistert mich, und ich freue mich auf eine Ewigkeit des Lernens. Verlassen wir uns auf Lerneifer und auf Glauben, um geradeaus vorwärtszukommen, anstatt uns nur im Kreis zu drehen.

Liebe Schwestern, ich bin so dankbar für die FHV, die den Frauen so große Kraft geben kann. Ich bin dankbar für das Sühnopfer des Erretters und für das Evangelium Jesu Christi, das uns erhebt, uns die Tür zu fortdauerndem Lernen öffnet und uns Grund zum Glauben gibt. Ich bin dankbar für die Wiederherstellung der Kirche Jesu Christi durch den Propheten Joseph Smith. Ich bin dankbar dafür, daß unsere Priestertumsführer uns in unseren rechtschaffenen Bemühungen unterstützen. Ich weiß, daß der Herr unsere Gebete hört und erhört. Mögen wir „durch Lerneifer und auch durch Glauben” einander lieben und vertrauen und dienen, das erbitte ich im Namen Jesu Christi. Amen.