1990–1999
Unser Priestertum
April 1995


Unser Priestertum

Die Geschichte lehrt uns: Die Zukunft mag bedrohlich sein, aber ihr jungen Männer seid der Sache durchaus gewachsen.

Es ist mir eine Ehre und eine Freude, heute abend mit Ihnen in dieser Priestertumsversammlung sein zu dürfen und vor einer so bemerkenswerten Zuhörerschaft zu stehen. Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich für das Priestertum bin, das wir tragen, und das gilt besonders für solche Augenblicke in der Geschichte der Kirche wie bei dieser Generalkonferenz. In den letzten Tagen haben Sie und ich Geschichte aus erster Hand erlebt, und in einer feierlichen Versammlung haben wir mit erhobener rechter Hand am Werden der Geschichte mitgewirkt. Oliver Cowdery sagte einmal über derartige Ereignisse im Zusammenhang mit der Wiederherstellung: „Das waren unvergeßliche Tage.” (Joseph Smith -Lebensgeschichte 1:71, Fußnote.)

Bei dieser Konferenz vermissen wir Präsident Howard W. Hunter, aber wir finden Freude in der Gewißheit, daß er nun bei den Noblen und Großen der Ewigkeit ist. Wie schon andere bei dieser Konferenz bezeuge auch ich Ihnen aus eigenem Wissen, daß Präsident Gordon B. Hinckley von Gott zu diesem heiligen Amt und dieser heiligen Aufgabe berufen worden ist und daß er lange und gut darauf vorbereitet wurde. Und mit „Vorbereitung” meine ich nicht nur, daß er seit seiner Jugend viel Erfahrung in der Kirche gesammelt hat, sondern ich meine auch, wie Alma sagt, daß ein solcher Mann „von Grundlegung der Welt an gemäß dem Vorherwissen Gottes” berufen ist; und diese Berufung beruht zumindest teilweise auf dem „Glauben und [den] guten Werken”, die Präsident Hinckley erbrachte, ehe er zur Welt kam. (Siehe Alma 13:1-3.) In dieses Zeugnis, in den Ausdruck meiner Liebe und Wertschätzung schließe ich auch die Berufungen ein, die Präsident Thomas S. Monson, Präsident James E. Faust und Präsident Boyd K. Packer zuteil geworden sind. Ich heiße Eider Henry B. Eyring im Kollegium der Zwölf Apostel willkommen. Ich freue mich auf die vielen Jahre, in denen ich sein Sitznachbar und Mitarbeiter sein werde.

Im Geiste der denkwürdigen Augenblicke in der Geschichte der Kirche möchte ich mich heute abend direkt an die jungen Männer, die Träger des Aaronischen Priestertums, wenden. Ich möchte euch ein wenig Geschichtsbewußtsein einprägen - ein Bewußtsein dessen, was es bedeutet hat und was es einst noch bedeuten mag, zur wahren und lebendigen Kirche Gottes zu gehören und die bedeutenden Ämter im Priestertum zu tragen, die ihr jetzt innehabt und noch innehaben werdet.

Sehr viel von dem, was wir in der Kirche tun, gilt euch, denjenigen nämlich, die im Buch Mormon „die heranwachsende Generation” genannt werden (Mosia 26:1; Alma 5:49). Wir, die wir euren gegenwärtigen Lebensabschnitt schon hinter uns haben, möchten euch etwas von dem vermitteln, was wir gelernt haben. Wir machen euch Mut. Wir versuchen, euch vor den Fallgruben und Gefahren auf dem Weg zu warnen. So weit es möglich ist, versuchen wir euch zu begleiten und euch nah an unserer Seite zu halten.

Ob ihr’s glaubt oder nicht, auch wir waren einmal jung, auch wenn ihr euch das kaum vorstellen könnt. Gleichermaßen unfaßbar ist die Tatsache, daß auch eure Eltern einmal jung waren, ebenso euer Bischof und die

Kollegiumsberater. Im Laufe der Jahre haben wir jedoch einiges über das hinaus gelernt, was man in der Jugend lernt - beispielsweise daß Ether ein Prophet und kein Narkosemittel ist und daß die Termiten kein Volk im Buch Mormon sind. Was meint ihr wohl, warum wir uns so viel Mühe geben, uns so viele Sorgen machen und immer nur das Beste für euch wollen? Weil wir einmal in eurem Alter waren, aber ihr noch nie in unserem Alter, und weil wir so manches gelernt haben, was ihr noch nicht wißt.

Wenn man jung ist, haben sich einem noch nicht alle Fragen und Probleme des Lebens gestellt, aber das wird kommen, und unglücklicherweise kommt es für eure Generation immer früher. Das Evangelium Jesu Christi zeigt den einzigen sicheren Weg. Ältere Menschen also, erfahrene Menschen - Menschen, die euch das Erbe der Geschichte hinterlassen - wenden sich immer wieder an die Jugendlichen.

Der Ruf, der von einer Generation an die andere ergeht, ist einer der Gründe dafür, daß wir Priestertumsversammlungen abhalten, wo der Vater bei seinen Söhnen sitzt und ein Priestertumsführer bei denjenigen, deren Vater nicht anwesend ist. In einer Pfahl-Priestertumsversammlung, ähnlich wie diese Versammlung hier, stand der zwölfjährige Gordon B. Hinckley ganz hinten im alten Gemeindehaus der Gemeinde Salt Lake 10. Er war erst kürzlich zum Diakon ordiniert worden, es war seine erste Pfahl-Priestertumsversammlung, und er fühlte sich allein und ein bißchen fehl am Platz.

Doch da hörte er, wie die Männer des Pfahles das mitreißende Lied „Preiset den Mann” von W. W. Phelps sangen. Und dieser Junge, der eines Tages selbst ein Prophet sein würde, empfing das Zeugnis, daß Joseph Smith tatsächlich ein Prophet war, daß er wirklich „mit Jehovah verkehrte”, und daß, wie es im Englischen heißt, „Millionen Bruder Joseph kennen” würden. Ja, die Vorbereitungen für die feierliche Versammlung heute morgen begannen teilweise schon, als ein zwölfjähriger Diakon gläubige, erfahrene, ältere Männer in einer Priestertumsversammlung die Lieder Zions singen hörte.

Nun werden nur ganz wenige Zwölfjährige einmal der Präsident der Kirche, und wir müssen unsere Glaubenstreue auch nicht auf diese Weise unter Beweis stellen, doch vergeßt nicht: „Jeder, der heute ein Mann ist, war einmal ein Junge”. Jeder von euch jungen Männern hat Gelegenheit und die Aufgabe, ebenso entschlossen nach einem Zeugnis zu streben und für die Wahrheit einzustehen wie die Männer, die wir im Laufe der Evangliumszeiten als Propheten, Seher und Offenbarer bestätigt haben. Dies können wir aus den Ereignissen der Geschichte lernen: Die Zukunft mag bedrohlich sein, aber ihr jungen Männer seid der Sache durchaus gewachsen.

Leider ist den meisten von euch der Name Rudger Clawson wohl unbekannt. Fünfundvierzig Jahre lang gehörte Bruder Clawson dem Kollegium der Zwölf Apostel an, und davon war er zweiundzwanzig Jahre der Präsident des Kollegiums. Doch lange bevor ihm diese Aufgabe zuteil wurde, konnte er seine Verläßlichkeit beweisen und schon in der Jugend zu zeigen, wie sehr er bereit war, selbst unter Lebensgefahr für seinen Glauben einzustehen.

Als junger Mann war Bruder Clawson auf Mission in die Südstaaten berufen worden. In diesem Abschnitt der amerikanischen Geschichte, vor weit mehr als hundert Jahren, gab es noch üble Pöbelbanden, Gesetzlose, die die Sicherheit der Mitglieder der Kirche und auch anderer Menschen bedrohten. Eider Clawson und sein Mitarbeiter, Eider Joseph Standing, waren zu Fuß unterwegs zu einer Missionarskonferenz. Nahe bei ihrem Bestimmungsort sahen sie sich plötzlich zwölf bewaffneten und zornigen Männern zu Pferd gegenüber.

Mit Hinten und Pistolen wurden sie vom Weg ab und tief in den nahen Wald getrieben, wobei sie wiederholt geschlagen und zu Boden gestoßen wurden. Eider Joseph Standing, der wußte, was ihnen wohl bevorstand, faßte sich ein Herz und versuchte, an eine Pistole zu kommen. Sofort richtete einer der Attentäter sein Gewehr auf den jungen Standing und schoß. Ein anderer zeigte auf Elder Clawson und sagte:

„Erschießt den Mann!” Darauf richteten sich alle Waffen auf ihn. Der junge Missionar war sich gewiß, daß ihm dasselbe Schicksal bevorstand wie seinem gefallenen Bruder. Er berichtete: „Sofort wurde mir klar, daß es keinen Fluchtweg gab. Meine Zeit war gekommen. … Ich würde sogleich Joseph Standing folgen.” Er verschränkte die Arme, sah seinen Feinden ins Gesicht und sagte nur: „Schießt.”

Ob es nun der Mut des jungen Missionars war, der sie verblüffte, oder ob sie sich plötzlich mit Schrecken bewußt wurden, was sie seinem Begleiter bereits angetan hatten - wir wissen es nicht. Im entscheidenden Augenblick jedoch rief jemand: „Nicht schießen!” Nach und nach senkten sich die Waffen. Schrecklich zitternd, doch getrieben von Treue gegenüber seinem Mitarbeiter, ignorierte Eider Clawson den Pöbel. Keinen Augenblick konnte er sicher sein, daß ihn nicht doch jemand erschoß; doch er wandte dem Pöbel den Rücken zu und brachte den Leichnam seines ermordeten Begleiters an einen sicheren Ort. Dort erwies er dem toten Freund einen letzten Dienst. Er wusch ihm das Blut vom Körper und machte ihn für die lange Fahrt mit der Eisenbahn nach Hause bereit. (Siehe The Making of a Mormon Apostle: The Story of Rudger Clawson, David S. Hoopes und Roy Hoopes, Madison Books, New York, 1990, Seite 23-31.)

Ich habe euch diese Geschichte erzählt und hoffe, daß ihr nicht nur den Tod des jungen Missionars seht oder meint, daß in jenen frühen Jahren das Leben nach dem Evangelium nur aus Prüfungen und Tragödien bestand. Ich erzähle sie euch, der jungen und neuen Generation der Kirche, weil ihr vielleicht nicht wißt, was für eine Gabe die Männer und Frauen - auch die jungen Männer und Frauen - von damals uns geschenkt haben. Unser neuer Film bezeichnet diese Gabe mit einem anderen schlichten Wort: „Das Vermächtnis”.

Die meisten von uns sind glücklicherweise nicht solchen Bedrohungen ausgesetzt. Nein, unser Mut ist zumeist eher leise, undramatischer, aber in jeder Hinsicht ebenso wichtig und schwer aufzubringen. Ich möchte von einem Beispiel aus jüngerer Zeit erzählen, ein Beispiel, in dem Glaube und Loyalität eher auf eine Weise zutage treten, die auch von euch und von mir gefordert wird. Ich zolle damit all den gläubigen Vätern Respekt, die ihren heranwachsenden und weniger erfahrenen Söhnen ein Vorbild an Stärke sind.

Vor einigen Jahren, lange nach Ende seiner Vollzeitmission, war Bischof J. Richard Yates, der heutige Bischof der Gemeinde Durham 3 im Pfahl Durham in North Carolina, auf der elterlichen Farm in Idaho. Er half seinem Vater, die Kühe zu melken und die abendlichen Arbeiten zu erledigen. Sein Vater, Bruder Tom Yates, konnte seinerzeit wegen der finanziellen Lage seiner Familie nicht auf Mission gehen. Diese Enttäuschung festigte jedoch Bruder Yates Entschluß: Das, was er sich selbst nicht hatte leisten können, nämlich eine Vollzeitmission für den Herrn, wollte er seinen Söhnen auf jeden Fall ermöglichen, ganz gleich, was für Opfer dafür auch nötig sein mochten.

Damals war es in den ländlichen Gebieten von Idaho üblich, daß ein Junge ein weibliches Kalb geschenkt bekam, sobald er alt genug war, selbst dafür zu sorgen. Der Junge sollte das Kalb aufziehen, einen Teil des Nachwuchses behalten und den anderen Teil verkaufen, um die Futterkosten zu decken. Die weisen Väter wußten, daß man einen Jungen auf diese Weise Verantwortung lehren und er sich gleichzeitig Geld für die Mission verdienen konnte.

Der junge Richard pflegte sein erstes Kalb gut, und mit der Zeit hatte er eine eigene Herde von acht Tieren. Nebenbei hatte er einen Teil des Gewinns aus der Milch in einen Wurf Ferkel investiert. Als die Berufung kam, hatte er auch fast sechzig Schweine. Die Familie hatte vor, alle neuen Ferkel zu verkaufen und den Erlös zusammen mit dem Gewinn aus der Milch für Richards Mission zu verwenden.

An diesem Abend auf der Farm, lange nach den 24 wunderbaren Monaten der Mission, erfuhr der junge Mann etwas, wovon er auf Mission absolut nichts mitbekommen hatte. Der Vater erzählte, daß etwa einen Monat nach Richards Abreise der Tierarzt gekommen war, um die Schweine gegen eine in der Gegend umgehende Form der Cholera zu impfen; der Tierarzt war ein alter Freund der Familie und ein unermüdlicher Arbeiter zum Wohle des Gemeinwesens. Leider unterlief dem Arzt ein Kunstfehler: Er verabreichte den Tieren die lebenden Erreger, doch er vergaß, ihnen das passende Gegenmittel zu geben. Die ganze Herde wurde krank, und innerhalb weniger Wochen waren die meisten Tiere tot. Die wenigen überlebenden Tiere mußten vernichtet werden.

Die Schweine waren tot, und der Erlös aus dem Milchverkauf reichte offensichtlich nicht aus, um Richards Mission zu finanzieren. Daher beschloß der Vater, zur Deckung der Kosten nach und nach das Milchvieh zu verkaufen. Am Anfang des zweiten Monats jedoch, und in beinahe jedem der dreiundzwanzig folgenden Monate, wenn die Eltern das Geld für die Mission abschicken wollten, starb entweder eine ihrer eigenen Kühe oder eine Kuh aus Richards Herde. Die Herde schrumpfte doppelt so schnell wie erwartet. Es schien eine unglaubliche Pechsträhne zu sein.

In dieser schwierigen Zeit wurde bei einer Bank am Ort ein großes Darlehen fällig. Bei allem, was geschehen war, und angesichts der finanziellen Nöte hatte Bruder Yates ganz einfach nicht das Geld, um das Darlehen zu tilgen. Es sah ganz so aus, als würde die Familie nun die ganze Farm verlieren. Nach vielem Beten und Bangen, aber ohne ein Wort an seinen Sohn auf Mission, ging Bruder Bates zum Direktor der Bank. Dieser Direktor gehörte nicht unserem Glauben an, und er galt allgemein als hart und recht herzlos.

Nachdem sich der Bankier die Schilderung des großen Unglücks angehört hatte, saß er einen Augenblick da und sah seinem Gegenüber ins Gesicht. Auf seine eigene, stille Weise stellte sich Bruder Yates den Schwierigkeiten, dem Widerstand und der Angst genauso glaubenstreu wie damals Rudger Clawson und Joseph Standing. In dieser Lage konnte er dem Bankier wohl nicht mehr sagen, als: „Schieß!”

Der Bankdirektor beugte sich vor und stellte nur eine Frage: „Tom, zahlst du den Zehnten?” Ungewiß, wie die Antwort wohl aufgenommen werden würde, antwortete Bruder Yates leise, aber ohne Zögern: „Ja, das tue ich.” Da sagte der Bankier: „Zahl du weiter den Zehnten und halte deinen Sohn auf Mission. Ich kümmere mich um das Darlehen. Ich weiß, du zahlst es mir zurück, sobald du kannst.”

Es gab keine Papiere und keine Unterschriften, keine Drohung und keine Warnungen. Da standen nur zwei gute und ehrenhafte Männer und gaben sich die Hand. Eine Übereinkunft wurde geschlossen, und diese Übereinkunft wurde eingehalten.

Bischof Yates sagt, daß ihm diese bis dahin unbekannte Geschichte sehr nahe gegangen sei. Das Darlehen war schon lange zurückgezahlt, und so fragte er seinen Vater, ob es denn all die Sorge, die Angst, die Opfer wert gewesen sei, nur um nach dem Evangelium leben und seinem Sohn eine Mission ermöglichen zu können. „Ja, mein Junge”, sagte der Vater, „das und noch viel mehr, wenn der Herr mich darum bittet.” Und dann ging er wieder an seine Arbeit.

Körperlich war Tom Yates ein Leichtgewicht; er war unter 1,70 Meter groß und wog weniger als 70 Kilo. Als Kind wäre er fast an Kinderlähmung gestorben, und sein Körper war davon gezeichnet. Wenn Bischof Yates aber an seinen Vater denkt, so hat er nicht die körperliche Gestalt vor Augen. Für ihn war er einfach ein geistiger Riese, größer als in Wirklichkeit, und er hat seinen Kindern ein Vermächtnis von Hingabe und Mut hinterlassen, das alle Ewigkeit überdauern wird.

Den Vätern unserer Familien, den Vätern unseres Glaubens, denen, die um jeden Preis rechtschaffen waren, den Menschen dieser und aller anderen Evangeliumszeiten, die sich unerschütterlich der Angst, den Prüfungen und sogar dem Tod gestellt haben, sage ich von ganzem Herzen Dank. Euch, den jungen Männern des Aaronischen Priestertums, spreche ich meine Anerkennung aus für eure Entschlossenheit, nach dem Evangelium Jesu Christi zu leben. Mit euch gemeinsam nehme ich die Aufgabe auf mich, die jedem zukommt, der das Priestertum Gottes trägt. Ich bitte jeden von uns, immer daran zu denken, daß wir im Werk des Herrn oft die andere Wange hinhalten müssen, jedoch nie den Mantel nach dem Wind drehen dürfen. Ich gelobe euch, mit aller Entschlossenheit dem Herrn Jesus Christus treu zu bleiben, dessen Kirche dies ist. Gemeinsam mit euch will ich das Vermächtnis der Loyalität derer ehren, die uns vorangegangen sind. Im Namen Jesu Christi. Amen.