1990–1999
Unser Handeln selbst bestimmen und nicht über uns
Oktober 1995


Unser Handeln selbst bestimmen und nicht über uns

Mit einem Menschen von durchschnittlichen Fähigkeiten, der aber demütig, glaubenstreu und eifrig darauf bedacht ist, dem Herrn zu dienen, und der sich selbst zu verbessern trachtet, kann der Herr bemerkenswerte Wunder wirken.

Es ist immer eine heilige Aufgabe, zu dieser großen Versammlung des Priestertums der Kirche zu sprechen. Heute Abend möchte ich besonders zu den großartigen jungen Männern des Aaronischen Priestertums sprechen. Ich tue das, weil mir bewußt ist, daß die Zukunft der Kirche, ja, der ganzen Welt davon abhängt, wie ihr jungen Männer euer Priestertum achtet und ehrt.

Vor kurzem fragte ich einmal einige junge Leute, was ich wohl über eure Generation wissen müßte. Ein junger Mann sprach für die Gruppe und sagte: „Wir leben auf des Messers Schneide.‟ Seit damals habe ich viel darüber nachgedacht, was es wohl heißen mag, auf des Messers Schneide zu leben. Das kann natürlich viel bedeuten. Ich nehme an, mein junger Freund bezog sich auf riskantes Motorradfahren, Steilwandklettern und andere Formen der Freizeitgestaltung, in denen durch unnötige Gefahren Nervenkitzel und Spannung erzeugt werden.

Vor einigen Jahren erzählte Elder Marion D. Hanks von einem Trupp Pfadfinder, die eine Höhle erforschen wollten. Der enge Pfad war mit weißen Steinen markiert und stellenweise beleuchtet. Nach etwa einer Stunde kamen sie zu einem gewaltigen Kuppelsaal. Darunter befand sich das sogenannte bodenlose Loch; hier war der Boden eingebrochen und hatte ein tiefes, klaffendes Loch hinterlassen. Es war nicht einfach, sich auf dem schmalen Pfad nicht gegenseitig anzustoßen. Schon bald stieß ein größerer Pfadfinder einen kleineren versehentlich in eine matschige, unbeleuchtete Stelle. Als der kleinere Junge den Halt verlor, schrie er in der Dunkelheit laut auf. Sofort kam der Höhlenführer herbei. Wieder schrie der Junge entsetzt auf, denn im Schein seiner Taschenlampe zeigte sich, daß er am Rande des Abgrunds lag.1

In dieser Geschichte wurde der Junge gerettet. Das ist aber nicht immer so. So viele junge Menschen werden dazu verführt, bis zu Rande des Abgrunds und sogar darüber hinauszugehen. Wenn man nur noch ein klein wenig Halt hat, kann man sich leicht schwer verletzen und sogar sterben. Das Leben ist zu kostbar, um es wegen eines Nervenkitzels wegzuwerfen, oder, wie Jakob im Buch Mormon sagt, „über das Ziel hinauszuschauen. ‟2

Ihr jungen Leute glaubt vielleicht, daß ihr unbesiegbar seid und ewig weiterlebt. In ein paar Jahren werdet ihr gelernt haben, daß es nicht so ist. Auf des Messers Schneide zu leben kann auch bedeuten, daß man gefährlich nahe am Rande des bodenlosen Abgrunds steht. Noch gefährlicher ist es, die Seele zu riskieren, indem man mit Drogen und anderen verstandesraubenden Mitteln herumspielt, nur um „sich anzutörnen‟.

Manch einer mag meinen, daß er seine Stärken und Fähigkeiten entdeckt, wenn er auf des Messers Schneide lebt. Vielleicht hält er das auch für eine Methode, seine Identität oder Männlichkeit zu finden. Seine Identität findet man aber nicht, wenn man nach Nervenkitzel trachtet und beispielsweise absichtlich und unnötigerweise das

Leben oder die Seele irgendwie in Gefahr bringt, sei es physisch oder sittlich. Es gibt ohnehin schon so viele Risiken, denen ihr ganz von selbst ausgesetzt werdet, daß ihr nicht erst noch danach suchen müßt. Eure Stärke und Identität kommen daher, daß ihr euer Priestertum ehrt, eure Talente entwickelt und dem Herrn dient. Ein jeder von euch muß sehr hart arbeiten, um sich für sein ewiges Potential zu qualifizieren. Es wird nicht leicht sein. Das Finden eurer wahren Identität fordert eure Fähigkeiten weit mehr, als eine gefährliche Steilwand hochzuklettern oder mit Auto oder Motorrad umherzurasen. Es braucht all eure Kraft, euer Stehvermögen, eure Intelligenz und euren Mut.

Den besten Rat, wie man sich vom Abgrund fern hält, erhielt ich als junger Mann; damals berief mich Präsident Harold B. Lee in eine Bischofschaft. Er sagte: „Von nun an müssen Sie nicht nur das Böse meiden, sondern auch den Anschein des Bösen.‟ Er hat diesen Rat damals nicht erläutert. Das blieb meinem Gewissen überlassen.

Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt, den ich heute Abend der Priesterschaft Gottes näher bringen möchte. Jeder von uns muß die Verantwortung für seine sittlichen Entscheidungen übernehmen und bestimmen, wie weit vom Abgrund er bleiben will. Nephi stellt fest: „Und weil sie vom Fall erlöst sind, so sind sie für immer frei geworden, denn sie können Gut von Böse unterscheiden; sie bestimmen ihr Handeln selbst, und es wird nicht über sie bestimmt.‟3 Wenn über jemanden bestimmt wird, dann heißt das, jemand anders zieht die Fäden.

Wir leben in einer Zeit, wo viele nicht die Verantwortung für ihre eigenen Taten übernehmen wollen.

Als junger Anwalt wurde ich von den Richtern beauftragt, Leute zu verteidigen, die einer Gesetzesübertretung beschuldigt wurden. Einmal sollte ich einen jungen Mann vertreten. Als wir vor den Richterstuhl traten, sah ein ehrwürdiger alter Richter auf uns beide herab und fragte: „Wer von ihnen ist der Angeklagte?‟ Ich habe daraus gelernt, daß manche Leute sich nicht für verantwortlich oder schuldig halten, selbst wenn sie das Gesetz übertreten haben. Sie meinen, dafür nicht beschuldigt werden zu können. Sie haben ihr Gewissen über Bord geworfen. Sie haben etwas falsches getan, aber sie meinen, es sei die Schuld ihrer Eltern, die sie nicht richtig unterwiesen haben, oder die Schuld der Gesellschaft, weil die ihnen nie eine Chance gegeben hat. So oft schon haben sie einen Grund oder eine Ausrede gefunden und jemandem oder etwas die Schuld für ihr eigenes Verhalten zugeschoben statt die Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Sie haben ihr Handeln nicht selbst bestimmt, sondern es ist über sie bestimmt worden.

Mickey Mantle, vor vielen Jahren amerikanischer Baseball-Star, hat kürzlich zugegeben, Jahre lang Mißbrauch mit verschiedenen Substanzen getrieben zu haben. Als er bei dem Versuch, sein Leben zu retten, eine Lebertransplantation bekommen sollte, sagte er etwas Erstaunliches, nämlich: „Nehmt mich nicht zum Vorbild.‟ Er sagte auch, daß er den Rest seines Lebens damit zubringen werde, ein besseres Beispiel zu geben. Mickey Mantle hat schließlich doch die Verantwortung für seine Fehler übernommen. Leider ist er kurz darauf gestorben. Im Zweiten Weltkrieg haben viele von uns eine Offiziersausbildung durchlaufen. Uns wurde beigebracht, daß die einzig angemessene Antwort bei lebensbedrohlichen Fehlern sei: „Keine Entschuldigung, Sir.‟

Ein jeder von uns muß dann und wann mutig und fest für das einstehen, was wir sind und was wir glauben. Präsident Joseph F. Smith wurde als junger Mann mit so einer Lage konfrontiert. Als er mit mehreren anderen jungen Missionaren eines Morgens unterwegs zurück nach Salt Lake City war, kam ein Trupp hartgesottener Mormonenhasser herbeigeritten, die fluchten und ihre Gewehre abfeuerten.

Der Anführer sprang vom Pferd und rief: „Wir legen jeden Mormonen um!‟ Die anderen Missionare waren in den Wald geflohen, aber Joseph F. Smith hielt mutig stand. Der Mann richtete sein Gewehr auf Eider Smiths Gesicht und fragte: „Bist du Mormone?‟ Joseph F. richtete sich auf und sagte: „Und ob, ganz und gar und durch und durch!‟

Diese Antwort verblüffte den Mann. Er nahm das Gewehr weg, schüttelte dem Missionar die Hand und sagte: „Na, Sie sind der angenehmste Mann, den ich je getroffen habe. Freut mich, einen Burschen zu sehen, der für seine Überzeugung einsteht.‟ Er sprang aufs Pferd und ritt mit seinen Kumpanen davon.4

Anders als bei Joseph F. Smith ist die Gefahr, der ihr jungen Männer euch gegenüber seht, nicht so sehr physischer Natur. Sie besteht vielmehr darin, daß ihr persönlich betrogen und irregeführt werden könnt. Diese Gefahr ist auf mancherlei Art subtiler und schwieriger, und sie fordert mehr Stärke und Mut, als wenn man es mit einer physischen Gefahr zu tun hat.

Jeder ist selbst dafür verantwortlich, daß er sich vom Abgrund fern hält. Manchmal möchten unsere wohlmeinenden jungen Leute jede Einzelheit dessen erklärt haben, was angemessen und was nicht angemessen ist; möglicherweise würden sie sich dann sicherer fühlen und sich näher an den Abgrund trauen. Manchmal scheint ihnen

mehr an dem gelegen, was das Evangelium verbietet, als an dem, was es uns gibt. Zum Beispiel: Einige junge Erwachsene waren erstaunt zu hören, daß es für gemischte Gruppen nicht angebracht ist, gemeinsame Aktivitäten über Nacht abzuhalten. Sie fragten: „Warum hat der Prophet uns das nicht gesagt?‟ Der Standpunkt der Kirche in dieser Hinsicht ist schon seit vielen Jahren klar. Es sollte nicht nötig gewesen sein, diesen jungen Leuten zu sagen, sie sollten den Anschein des Bösen meiden. Ich rate dringend: Wenn ihr irgendeinen Zweifel hinsichtlich eines bestimmten Verhaltens habt, dann laßt es bleiben! Die Propheten sollen das Wort Gottes verkündigen und nicht jedes Jota und Pünktchen menschlichen Verhaltens festlegen. Unsere sittliche Entscheidungsfreiheit verlangt, daß wir gut von Böse unterscheiden können und das Gute wählen. Wenn wir uns bemühen, nicht nur das Böse, sondern sogar den Anschein des Bösen zu meiden, dann bestimmen wir unser Handeln selbst und es wird nicht über uns bestimmt.

Die Priestertumsträger der Kirche werden nicht nur für ihr eigenes Verhalten verantwortlich gemacht, sondern sie müssen auch für die sittliche und physische Sicherheit der Frauen und Kinder in ihrer Familie und in der Kirche sorgen. Ihr jungen, alleinstehenden Männer, die ihr das Priestertum tragt und mit den großartigen jungen Damen der Kirche ausgeht, habt die Pflicht, mit aller Kraft ihre physische Sicherheit und ihre Tugend zu schützen. Durch das Priestertum, das ihr tragt, habt ihr die höhere Verantwortung, darauf zu sehen, daß die sittlichen Grundsätze der Kirche immer gewahrt bleiben. Der Herr weiß, daß ihr es besser wißt, als euch dem Abgrund sexueller Verlockung zu nähern. Ihr verliert einen Teil dessen, was heilig an euch ist, wenn ihr über den Rand des Abgrunds hinausgeht und die großen Kräfte der Mitschöpfung mißbraucht. Ein jeder von uns ist für seine eigenen Taten verantwortlich. Wie können wir denn hoffen, in Zeit und Ewigkeit eine große Rolle zu spielen, wenn wir uns selbst nicht beherrschen können?

Einige der Abenteuerlustigen scheinen eine innere Leere dadurch ausfüllen zu wollen, daß sie in Alkohol, Drogen und verbotenen sexuellen Beziehungen äußerliche Befriedigung suchen. Zur Erleichterung ihres Gewissens warten einige von ihnen vergebens darauf, daß die Kirche „moderner‟ wird, „aufwacht‟ oder „zeitgemäßer‟ wird. Jene innere Leere kann nur dadurch gefüllt werden, daß wir „Gott zum Mittelpunkt unseres Seins‟ machen, wie Präsident David O. McKay gesagt hat.

„Es ist nicht, leicht, Gott zum Mittelpunkt unseres Seins zu machen. Wir müssen dazu beschließen, seine Gebote zu halten. Geistige Errungenschaft, nicht physischer Besitz, und auch nicht das Verwöhnen und Befriedigen des Körpers muß das höchste Ziel sein.

Nur indem wir unser Innenleben völlig in den Griff bekommen, können wir uns über den selbstsüchtigen und gemeinen Sog der Natur erheben. … Wie der Körper stirbt, wenn der Geist ihn verläßt, so stirbt der Geist, wenn man ihn von Gott trennt. Ich kann mir keine friedliche Welt vorstellen, aus der Gott und die Religion verbannt sind.‟5

Der Herr hat für jeden von uns ein großes Werk zu tun. Ihr mögt euch fragen, wie das denn sein kann. Ihr mögt meinen, daß an euch und euren Fähigkeiten nichts besonderes oder überlegenes ist. Vielleicht meint ihr - oder man hat euch gesagt -, daß ihr dumm seid. Viele von uns meinen das und es ist ihnen gesagt worden. Gideon meinte das auch, als der Herr ihn schickte, um Israel von den Midianitern zu befreien. Gideon sagte: „Meine Sippe ist die schwächste im Manasse, und ich bin der Jüngste im Haus meines Vaters.‟6 Er hatte nur dreihundert Mann, doch mit der Hilfe des Herrn besiegte Gideon die Armeen der Midianiter.7

Mit einem Menschen von durchschnittlichen Fähigkeiten, der aber demütig, glaubenstreu und eifrig darauf bedacht ist, dem Herrn zu dienen, und der sich selbst zu verbessern trachtet, kann der Herr bemerkenswerte Wunder wirken. Das ist so, weil Gott die letztendliche Quelle der Macht ist. Durch die Gabe des Heiligen Geistes können wir nicht nur alles wissen, wir können sogar „von allem wissen, ob es wahr ist‟.8

Viele von euch machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Ich glaube, das tut jeder gewissenhafte junge Mann. Euch ist aber nicht klar, welche Möglichkeiten vor euch liegen. Nachdem ich nun mein Leben lang mit den Angelegenheiten anderer Menschen befaßt war, bin ich zu der Ansicht gelangt, daß eure Zukunft eure kühnsten Träume übertreffen kann, wenn ihr euch an folgendes haltet:

1. Lebt nicht auf des Messers Schneide.

2. Meidet nicht nur das Böse, sondern sogar den Anschein des Bösen.

3. Befolgt den Rat Nephis: bestimmt euer Handeln selbst, und laßt nicht über euch bestimmen.

4. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, und habt Teil an der großen Verheißung, daß euch alles andere dazugegeben werden wird.

5. Befolgt den Rat der Führer der Kirche.

In diesem großen Saal und anderswo hören mich Tausende der zukünftigen Führer der Kirche, die noch vor den Grundlegungen dieser Welt vom Herrn aus der Welt berufen und auserwählt wurden, wie Abraham es beschreibt:

„Der Herr hatte aber mir, Abraham, die Intelligenzen gezeigt, die geformt wurden, ehe die Welt war; und unter allen diesen waren viele von den Edlen und Großen; und Gott sah, daß diese Seelen gut waren, und er stand mitten unter ihnen, und er sprach: Diese werde ich zu meinen Herrschern machen; denn er stand unter denen, die Geister waren, und er sah, daß sie gut waren; und er sprach zu mir: Abraham, du bist einer von ihnen; du wurdest erwählt, ehe du geboren wurdest.‟9

Ich glaube, daß der Herr besondere Geister hervorgebracht hat, die seit Anbeginn zurückbehalten worden sind und die in diesem schwierigen Abschnitt der Weltgeschichte stark und tapfer dastehen. Auf euch jungen Männern wird bald die Zukunft des Reiches Gottes auf Erden ruhen. Zu eurer Zeit werden die Herausforderungen und die Möglichkeiten größer sein als je zuvor.

Von ganzem Herzen ermahne ich euch, ihr jungen Männer, daß ihr in eurer Jugend eures Priestertums würdig und ihm treu seid. Ihr habt jetzt ein vorbereitendes Priestertum. Wenn ihr würdig bleibt, wird schon bald das größere Priestertum euer sein, und damit geht die große Verantwortung für das heilige Werk Gottes in aller Welt einher.

Mögt ihr ihm gerecht werden. Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Die Geschichte entstammt dem Beitrag „Questions for the Iconoclast‟ im Improvement Era vom Juni 1957, Seite 444,446-448, 450,451.

  2. Jakob 4:14

  3. 2Nephi2:26

  4. „Courageous Mormon Boy‟, Friend, August 1995, Seite 43.

  5. Gospel Ideals (The Improvement Era, Salt Lake City 1953), Seite 295.

  6. Richter 6:15

  7. Siehe Richter 7

  8. Moroni 10:5

  9. Abraham 3:22,23