1990–1999
„Tut dies zu meinem Gedächtnis‟
Oktober 1995


„Tut dies zu meinem Gedächtnis‟

Wenn es für uns so wichtig ist, an ihn zu denken, was kommt uns dann in den Sinn, wenn uns diese schlichten und kostbaren Symbole dargereicht werden?

Die nächsten Stunden sollten der ganzen Menschheitsgeschichte einen neuen Sinn geben. Es sollten der krönende Augenblick der Ewigkeit sein, das wundersamste aller Wunder. Es war der zentrale Teil eines Plans, der schon vor Grundlegung der Welt gefaßt war; es ging um das Glück eines jeden Mannes, einer jeden Frau, eines jeden Kindes, die sich je daran halten würden. Die Stunde des Sühnopfers war gekommen. Gottes eigener Sohn, sein einziggezeugter Sohn im Fleisch, war im Begriff, der Erretter der Welt zu werden. Der Schauplatz war Jerusalem zur Zeit des Pascha-Festes, einer Feier, die voller Symbolik dessen ist, was nun kommen sollte. Vor langer Zeit waren die Israeliten verschont und schließlich frei gemacht worden, und zwar durch das Blut eines Lammes, das in Ägypten an den Sturz und die beiden Pfosten ihrer Haustür gesprenkelt worden war (siehe Exodus 12:21-24). Das wiederum war nur eine symbolische Bestätigung dessen, was Adam und alle Propheten nach ihm seit Anbeginn gelehrt hatten - daß nämlich die reinen und makellosen Lämmer aus den Erstlingen der Herden Israels ein Sinnbild, ein Zeichen, eine Vorausschau des großen und letzten Opfers des Christus sei, der da kommen sollte (siehe Mose 5:5-8).

Jetzt, nach all den Jahren, all den Prophezeiungen, all den symbolischen Opfern sollten das Vorbild und der Schatten Wirklichkeit werden. In dieser Nacht, als das irdische Wirken Christi sich dem Ende zuneigte, war das, was Johannes der Täufer zu Beginn dieses Dienstes gesagte hatte, gültiger denn je: „Seht, das Lamm Gottes!‟ (Johannes 1:29.)

Als das letzte und besonders vorbereitete Pascha-Mahl zu Ende ging, nahm Jesus Brot, segnete und brach es, gab es seinen Aposteln und sagte: „Nehmt und eßt; dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis!‟ (Matthäus 26:26; Lukas 22:19.) Ebenso nahm er den Kelch mit Wein - der Wein war traditionsgemäß mit Wasser verdünnt -, sprach das Dankgebet dafür und gab ihn denen die um ihn versammelt waren. Er sagte dabei: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das … vergossen wird zur Vergebung der Sünden. … Tut dies zu meinem Gedächtnis. Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.‟ (Lukas 22:20; Matthäus 26:28; l Korinther 11:25.)

Seit dieser Begebenheit in einem Obergeschoß, unmittelbar vor Getsemani und Golgota, haben die Kinder der Verheißung immer in dem Bund gestanden, des Sühnopfers Christi auf diese neue, höhere, heiligere und persönliche Weise zu gedenken.

Bei einem Stück Brot, das immer gebrochen, gesegnet und als erstes gereicht wird, denken wir an seinen geschundenen Körper und das gebrochene Herz, sein körperliches Leiden am Kreuz, wo er rief: „Mich dürstet‟, und schließlich: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‟ (Johannes 19:28; Matthäus 27:46.)

Das körperliche Leiden des Herrn gewährleistet, daß durch seine Barmherzigkeit und seine Gnade (siehe 2 Nephi 2:8) jeder Mensch vom Tode befreit und im Triumph aus dem Grabe auferstehen wird. Der Zeitpunkt der Auferstehung und der Grad der Herrlichkeit, zu dem sie führt, hängt natürlich von unserer Glaubenstreue ab.

Bei einem kleinen Becher Wasser denken wir an das vergossene Blut Christi und die Tiefe seines geistigen Leidens, einer Qual, die im Garten Getsemani begann. Dort sagte er: „Meine Seele ist zu Tode betrübt.‟ Er hatte große Angst, und er betete; „und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte‟ (Lukas 22:44).

Das geistige Leiden des Erretters und das Vergießen seines unschuldigen Blutes, das er so liebevoll und großzügig hingab, zahlte die Schuld für das, was die Schrift „die ursprüngliche Schuld‟ der Übertretung Adams nennt (Mose 6:54). Darüber hinaus hat Christus für alle Sünden, Sorgen und Schmerzen aller Menschen gelitten, und er hat für die Vergebung unserer Sünden gesorgt, sofern wir den Grundsätzen und Verordnungen des Evangeliums gehorsam sind, die er gelehrt hat (siehe 2 Nephi 9:21-23). Wie der Apostel Paulus schreibt, sind wir „um einen Preis erkauft‟ worden (l Korinther 6:20). Welch ein hoher Preis, mit dem er uns so barmherzig freigekauft hat!

Das ist der Grund, warum jede Evangeliumsverordung auf die eine oder andere Weise auf das Sühnopfer des Herrn Jesus Christus ausgerichtet ist, und das ist gewiß auch der Grund dafür, daß diese eine heilige Handlung mit all ihrem Symbolismus und den Assoziationen uns leichter verständlich ist und öfter wiederholt wird, als irgendeine andere im Leben. Sie findet in einer Versammlung statt, die einmal „die heiligste aller Versammlungen der Kirche‟ genannt worden ist. (Joseph Fielding Smith, Doctrines of Salvation, Hrsg. Bruce R. McConkie, 3 Bände, [Bookcraft, Salt Lake City 1954-1956], 2:340.)

Manchmal messen wir der wöchentlichen Abendmahlsversammlung nicht diese Bedeutung bei. Wie „heilig‟ ist sie uns denn? Betrachten wir sie als unser Pascha, als Erinnerung an unsere Sicherheit und Befreiung und Erlösung?

Es geht um so viel, und diese heilige Handlung erinnert uns daran, daß wir dem Engel der Finsternis entgangen sind; wir müssen sie daher ernster nehmen, als wir es manchmal tun. Das Abendmahl sollte ein machtvoller, andächtiger und besinnlicher Augenblick sein. Es sollte zu geistigen Empfindungen und Eindrücken anregen. Es geht nicht darum, es schnell hinter uns zu bringen, damit wir uns dem eigentlichen Zweck der Abendmahlsversammlung widmen können. Das Abendmahl ist der Zweck der Versammlung. Und alles, was in solch einer Versammlung gesagt, gesungen oder gebetet wird, muß der Größe dieser heiligen Handlung Rechnung tragen.

Dem Segnen und Austeilen des Abendmahls geht ein Lied voraus, das wir alle mitsingen sollten. Es macht nichts, ob wir gut singen können oder nicht. Die Abendmahlslieder sind ohnehin eher wie Gebete, und jeder kann doch seine Stimme zum Beten erheben! „Mit Beben erblick ich für mich ihn gekreuzigt, für mich, für den Sünder, erlitt er den bittren Tod.‟ (Gesangbuch, Nr. 6.) Es gehört unbedingt zu unserem Gottesdienst, daß wir auf diese poetische und bewegende Weise Dank sagen.

Da dies so heilig ist, bitten wir euch, die jungen Brüder des Aaronischen Priestertums, die Sinnbilder des Sühnopfers würdig und andächtig vorzubereiten, zu segnen und auszuteilen. Welch einen erstaunlichen Vorzug, welch heiliges Vertrauen wird euch schon in bemerkenswert jungen Jahren zuteil! Ich kann mir kein größeres Kompliment für euch denken. Wir haben euch sehr lieb. Lebt so gut ihr könnt, und seht so gut wie möglich aus, wenn ihr am heiligen Abendmahl des Herrn teilnehmt!

Ich schlage vor, daß die Diakone, Lehrer und Priester, die mit dem Abendmahl befaßt sind, nach Möglichkeit ein weißes Oberhemd tragen. Bei vielen heiligen Handlungen in der Kirche verwenden wir zeremonielle Kleidung, und ein weißes Oberhemd kann als sanfter Hinweis auf die weiße Kleidung gelten, die ihr im Taufbecken getragen habt, und auf das weiße Hemd, das ihr bald auf dem Weg zum Tempel und später auf Mission tragen werdet.

Dieser einfache Vorschlag soll keineswegs pharisäerhaft oder formalistisch sein. Wir wollen unsere Diakone und Priester nicht in Uniformen stecken, und sie sollen sich auch nicht übermäßig um etwas anderes als die Reinheit ihres Lebens kümmern. Doch wie sich unsere jungen Leute kleiden, kann uns alle einen heiligen Grundsatz lehren, und es vermittelt gewiß den Eindruck von Heiligkeit. Wie Präsident David O. McKay einmal gesagt hat: „Ein weißes Hemd trägt zur Heiligkeit des Abendmahls bei.‟ (Generalkonferenz, Oktober, 1956.)

In der schlichten und schönen Ausdrucksweise der Abendmahlsgebete, die unsere jungen Priester sprechen, scheint „Gedächtnis‟ (hier im Sinne von „Gedenken‟) das wichtigste Wort zu sein. Das erste Gebet, das für das Brot, ist ein wenig länger als das andere, und dort geht es um die Bereitschaft, den Namen des Sohnes Gottes auf uns zu nehmen und die Gebote zu halten, die er uns gegeben hat.

Diese beiden Punkte kommen beim Segnen des Wassers nicht vor, aber sie werden sicherlich beide vorausgesetzt. Was in beiden Gebeten jedoch betont wird, ist der Umstand, daß man das alles zum Gedenken an Jesus Christus tut. Wenn wir vom Abendmahl nehmen, tun wir damit kund, daß wir immer an ihn denken wollen, damit sein Geist immer mit uns sei. (Siehe LuB 20:77,79.)

Wenn es für uns so wichtig ist, an ihn zu denken, was kommt uns dann in den Sinn, wenn uns diese schlichten und kostbaren Symbole dargereicht werden?

Wir können an all das denken, was der Herr im vorirdischen Dasein getan hat, und zwar als der große Jahwe, der Schöpfer des Himmels und der Erde und all dessen, was darinnen ist. Wir können daran denken, daß er uns schon beim großen Rat im Himmel geliebt hat, daß er wunderbar stark war und daß wir durch die Macht Christi und unseren Glauben an das Blut des Lammes den Sieg davongetragen haben (siehe Offenbarung 12:10,11).

Wir können an die schlichte Größe seiner Geburt denken; seine Mutter war eine junge Frau, wahrscheinlich im Alter unserer Jungen Damen, die im Namen aller glaubenstreuen Frauen aller Evangeliumszeiten gesagt hat: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.‟ (Lukas 1:38.)

Wir können an seinen ganz prächtigen doch so gut wie unbekannten Pflegevater denken, der von Beruf ein einfacher Zimmermann war und von dem wir unter anderem lernen, daß es seit Anbeginn stille, einfache, bescheidene Menschen waren, die dieses majestätische Werk voranbrachten; und so ist es auch heute noch. Falls Sie beinahe anonym dienen sollten, dann seien sich darüber klar, daß einer der besten Männer, die je auf Erden gelebt haben, es auch so getan hat.

Wir können an die Wunder und die Lehren Christi denken, an seine Heilungen und seine Hilfe. Wir können daran denken, daß er die Blinden sehend und die Tauben hörend machte, und daß er den Lahmen, den Verletzten und den Verkrüppelten ihre Bewegungsfähigkeit zurückgab. Wenn dann die Tage kommen, wo wir meinen, daß unser Fortschritt zum Stillstand gekommen ist oder unsere Freude und die Aussichten trüb geworden sind, dann können wir doch immer noch mit Beständigkeit in Christus vorwärtsstreben, mit unerschütterlichem Glauben an ihn und erfüllt vom Glanz der Hoffnung (siehe 2 Nephi 31:19,20).

Wir können daran denken, daß der Herr trotz seiner feierlichen Aufgabe Freude am Leben hatte, daß er gern Menschen um sich hatte und daß er seinen Jüngern sagte, sie sollten guten Mutes sein. Er hat gesagt, wir sollten uns über das Evangelium so freuen, als hätten wir gleich auf unserer Türschwelle einen großen Schatz gefunden, eine wertvolle, köstliche Perle. Wir können daran denken, daß Christus besonders an Kindern viel Freude hatte, und daß er uns

gesagt hat, wir sollten wie diese Kinder werden, nämlich ohne Falsch, rein, schnell im Lachen, Lieben und Vergeben, die jede Kränkung rasch vergessen können.

Wir können daran denken, daß Christus seine Jünger Freunde nannte, und daß ein Freund jemand ist, der uns in Zeiten der Einsamkeit und der möglichen Verzweiflung beisteht. Wir können an einen Freund denken, bei dem wir uns mal wieder melden müßten, oder besser noch, an jemanden, den wir uns zum Freund machen wollen. Und dabei können wir daran denken, daß Gott uns seinen Segen oft durch die mitfühlenden und rechtzeitigen Reaktionen eines anderen Menschen zuteil werden läßt. Für jemanden in unserer Umgebung sind vielleicht wir das Mittel, durch das der Himmel ein sehr dringliches Gebet beantwortet.

Wir können - und sollen - an das denken, was uns im Leben an Gutem widerfahren ist, und daß alles, was gut ist, von Christus kommt (siehe Moroni 7:24). Wer unter uns solchermaßen gesegnet ist, könnte an den Mut der Menschen in unserer Umgebung denken, denen es schlechter geht als uns, die aber guten Mutes bleiben, ihr Bestes tun und darauf vertrauen, daß der strahlende Morgenstern (siehe Offenbarung 22:16) für sie einmal wieder aufgeht - was auch gewiß geschehen wird.

Manchmal haben wir Anlaß, uns der unfreundlichen Behandlung zu erinnern, die er erlitten hat, die Ablehnung, die er erfuhr, und das Unrecht - o ja, das Unrecht -, daß er erduldete. Wenn uns so etwas begegnet, können wir daran denken, daß Christus von allen Seiten in die Enge getrieben wurde, aber doch Raum fand; auch er stand unter Druck und verzweifelte doch nicht, wurde gehetzt und war doch nicht verlassen, wurde niedergeworfen, aber doch nicht vernichtet (siehe 2 Korinther 4:8,9).

Wenn wir in so schwierige Umstände kommen, dann können wir daran denken, daß Jesus unter all das niederfahren mußte, ehe er sich über sie erheben konnte, daß er Schmerzen, Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art erleiden mußte, damit er von Barmherzigkeit erfüllt würde und wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen (siehe LuB 88:6; Alma 7:11,12).

Falls jemand stolpert und strauchelt, so ist er da, um uns aufzurichten und zu stärken. Am Ende ist er da, um uns zu erretten, und für all dies gab er sein Leben hin. Wie trüb unsere Tage uns auch erscheinen mögen, für den Erretter der Welt waren sie dunkler.

Und tatsächlich hat der auferstandene und ansonsten vollkommene Herr über den Abendmahlstisch zum Nutzen seiner Jünger die Wundmale an Händen und Füßen und in seiner Seite behalten; für uns zum Zeichen, daß selbst den Reinen und Vollkommenen Schmerzhaftes widerfahren kann; für uns zum Zeichen, daß in dieser Welt Schmerz nicht bedeutet, daß Gott uns nicht liebt. Der verwundete Christus ist der Meister unserer Seele, er, der noch immer die Narben des Opfers, die Male der Liebe, der Demut und der Vergebung trägt.

Damals wie heute lädt er Alt und Jung ein, vorzutreten und diese Wunden zu sehen und zu berühren (siehe 3 Nephi 11:15; 18:25). Dann denken wir daran, daß wir es sind, um deretwillen unser Herr, wie Jesaja sagt, „verachtet und gemieden (wurde), ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut‟ (Jesaja 53:3). An all das können wir denken, wenn ein junger Priester uns auf Knien auffordert, immer an Christus zu denken.

Wir halten bei dieser heiligen Handlung kein Mahl mehr, und doch ist sie ein Festmahl. Durch sie können wir gegen alles gewappnet sein, was das Leben uns bringen mag, und durch sie entwickeln wir mehr Mitgefühl für diejenigen, denen wir auf dem Weg begegnen.

Eine Bitte, die Christus in jener Nacht tiefer Qual und Trauer an seine Jünger richtete, war die, daß sie ihm beistehen und in der Stunde voll Sorge und Schmerz bei ihm sein sollten. Er fragte traurig: „Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?‟ (Matthäus 26:40.) Ich glaube, das fragt er uns auch, und zwar jeden Sonntag, wenn die Symbole seines Lebens gebrochen, gesegnet und ausgeteilt werden. „Wie groß die Liebe und Geduld am hohen Himmelsthron, daß uns zum Trost und Heil gesandt der Herr als Menschensohn.‟ (Gesangbuch, Nr. 13.)

„Oh, es ist wunderbar, wunderbar für mich.‟ (Gesangbuch, Nr. 6.) Ich gebe Zeugnis von ihm, dem Wunder von allen, und ich tue dies in seinem Namen, nämlich Jesus Christus. Amen.