1990–1999
So wie ein Kind
April 1996


So wie ein Kind

Erst wenn unser Glaube geprüft ist, kommt das Zeugnis ganz (siehe Ether 12:6). Doch bis dahin sind es manchmal kleine Kinder, die uns den Weg weisen.

Ach ich heiße die neuen Siebziger herzlich willkommen; in den vor uns liegenden Jahren, durch die wir gemeinsam gehen, will ich ihr Freund sein.

Zunächst, Brüder und Schwestern, möchte ich anhand einiger kleiner Beispiele veranschaulichen, wie schwer es ist, unseren Weg durch die Sinai-Wüste des Säkularismus zu finden; sodann will ich aufzeigen, wie inspirierte Kinder uns auf dieser Wanderung helfen können.

Um uns herum sehen wir überall die bittere, reiche Ernte der Freizügigkeit. Ein scharfsichtiger Mensch hat einmal gesagt:

„Das Bemühen, auch ohne Gott ein ethisches Leben zu führen, hat uns nicht die gerechte sittliche Ordnung gebracht, die wir uns vorgestellt hatten, sondern Unordnung und Verwirrung.

Mit dem Säkularismus ist etwas gewaltig schiefgegangen. Es ist ja doch wohl mehr als eigenartig, daß der Säkularismus sich am Ende selbst in eine Art Religion verwandelt hat. …

Die Verwandlung ist jetzt vollständig: der Staat ist zur Kirche geworden.” (Harper’s Magazine, September 1995, Seite 20.)

Je mehr das, was politisch korrekt ist, an die Stelle dessen treten will, was Gott für korrekt erklärt hat, um so mehr untaugliche Lösungsansätze für die Probleme der Menschen gibt es; das alles erinnert an einen Vergleich, den C. S. Lewis einmal aufgestellt hat, als er von Leuten sprach, die bei einer Überschwemmung mit dem Feuerlöscher umherlaufen. Zum Beispiel: Es gibt immer mehr Opfer von Gewalttätigkeit und Verbrechen, und doch gilt den Rechten der Straftäter besondere Aufmerksamkeit. Während die Sucht nach Pornographie immer weitere Kreise zieht, wird lautstark gegen die Zensur zu Felde gezogen. Die wachsende Zahl unehelicher Geburten zerrüttet die Familien und gefährdet die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates, über Keuschheit und Treue jedoch macht man sich lustig. Diese und ähnliche Folgen erzeugen rauhe Mißklänge. Zwar hat Nero auf der Leier geklimpert, während Rom brannte, aber immerhin hat er ein bißchen Musik gemacht! Brüder und Schwestern, ich zögere nicht zu sagen: Wenn der Freizügigkeit nicht einhält geboten wird, dann starrt die Menschheit am Ende der Entwicklung sprachlos und ungläubig auf die schrecklichen Folgen.

Es ist merkwürdig - während die Menschen immer härter werden, umschreiben sie finstere Taten mit immer sanfteren Worten. Auch das gehört dazu, sich vom Säkularismus einlullen zu lassen! Unnötige Abtreibungen werden beispielsweise als „Schwangerschaftsunterbrechung” bezeichnet, und dieser Ausdruck ist sogar noch schwammiger als „Schwangerschaftsabbruch”. Aus der „unehelichen Geburt” wird die völlig akzeptierte „außereheliche Entbindung” oder „alternative Mutterschaft”.

Die Mitglieder der Kirche werden bis zum Millennium in diesem Umfeld von Weizen und Unkraut leben müssen. Manch echtes Unkraut tarnt sich sogar als Weizen; dazu gehören auch die paar eifrigen Leute, die uns Vorträge über Lehren der Kirche halten,

an die sie nicht mehr glauben. Sie kritisieren den Umgang mit Geldern der Kirche, zu denen sie nichts mehr beisteuern. Voller Herablassung wollen sie den Führern der Kirche, die von ihnen gar nicht mehr unterstützt werden, Ratschläge erteilen. Auf Konfrontation eingestellt - natürlich nur nicht sich selbst gegenüber - verlassen sie die Kirche, können dann aber die Kirche nicht in Ruhe lassen (siehe Ensign, November 1980, Seite 14). Wie die Menschenmenge in dem „großen und geräumigen Gebäude” sind sie intensiv und eifrig damit beschäftigt, voll Spott mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die sich an der eisernen Stange festhalten (siehe l Nephi 8:27). Wenn man sieht, wie sie unaufhörlich damit beschäftigt sind, fragt man sich doch: „Gibt es in einem so großen Gebäude eigentlich keinen anderen Zeitvertreib, zum Beispiel eine Kegelbahn?” Mag sein, daß ihr Spott und ihre Rührigkeit nur die Zweifel an ihren Zweifeln unterdrücken sollen. Auf jeden Fall hat schon Brigham Young in bezug auf die Gefahren der Popularität gesagt: „Unser Volk muß dort gehalten werden, wo der Finger des Spotts auf es zeigen kann.” (Discourses of Brigham Young, Hrsg. John A. Widtsoe, 1941, Seite 434.)

Wir müssen uns daher in stillem Gutsein üben, Brüder und Schwestern, auch wenn einige wenige tatsächlich wie prophezeit gegen das wüten, was gut ist (siehe 2 Nephi 28:20). Gleichermaßen müssen wir der Arroganz der Kritiker mit Sanftmut und mit den deutlichen Worten gläubiger Menschen begegnen. Auch wenn wir manchmal von Ablehnung umringt sind, müssen wir trotzdem die Hand bieten, vor allem denen, deren Hände herabgesunken sind (siehe LuB 81:5). Wenn die Unzulänglichkeiten, die wir als Gemeinschaft haben, gelegentlich deutlich werden, dann wollen wir uns um Besserung bemühen.

Außerdem übersteigt die Freude am Jüngersein jede damit einhergehende Bürde bei weitem. Auf der Reise durch unsere Sinai werden wir also in den Oasen der Wiederherstellung genährt, die wie das Land Überfluß sind. Unser erster Eindruck von diesen Oasen erweist sich vielleicht mehr als kindisch denn als endgültig. Wenn wir in diese üppige Vegetation eindringen, werden wir unweigerlich von ihrem Duft umhüllt. Unsere Taschen sind voll von den verschiedensten reifen Früchten, und uns durchströmt kindliche Fröhlichkeit. Es ist gar nicht möglich, all das zu beschreiben. So nimmt es nicht wunder, daß manch einer schon einen bestimmten Baum für die ganze Oase hält oder einen bestimmten Teich für das gesamte sprudelnde und lebendige Wasser der Wiederherstellung. In der ersten Entdeckerfreude geben wir gewiß auch manche unbeabsichtigte Ubertreibung von uns.

Wir haben viel zu viel gesehen und gekostet; und daher können wir auch nicht den kleinsten Teil dessen sagen, was wir fühlen (siehe Alma 26:16).

Der Herr hat für unsere Reise reichlich Vorkehrungen getroffen, und dazu zählen Familie, Nachbarn und Mitknechte, die uns stärken und erbauen, unterweisen und trösten und uns inspirieren, da doch die Mitglieder „in Liebe zusammenhalten” (Kolosser 2:2). In diesen zwischenmenschlichen Verflechtungen erfahren wir, wie geradezu ansteckend Selbstverpflichtung ist.

Vor rund 12 Jahren gab es ein Tennismatch mit zwei Ärzten, die Mitglieder der Kirche waren, und einem Medizinstudenten aus Brasilien, der kein Mitglied war. Letzten Monat stand Valentin Goncalves in Curitiba in Brasilien wieder neben mir, diesmal nicht auf dem Tennisplatz, sondern auf einer Regionskonferenz, wo er mein Dolmetscher war. Dank des Guten, das in ihm ist, und dank der guten Arbeit anderer ist Valentin nicht nur Mitglied, sondern auch Pfahlpräsident in Curitiba. Valentin ist jetzt Augenarzt; er und seine Frau, die im Tempel aneinander gesiegelt sind, haben drei reizende Kinder. Dieses bemerkenswerte Wiedersehen erfüllt mich nur noch mehr mit freudigem Staunen über das, was die Hand des Herrn bewirken kann (siehe LuB 59:21).

Inspirierte Kinder weisen häufig den Weg durch die Wildnis. Ein Grund dafür, daß sie das tun können, zeigt sich in der forschenden Frage des Königs Benjamin: „Denn wie soll jemand einen Herrn kennen, dem er nicht gedient hat und der für ihn ein Fremder ist und der den Gedanken und Absichten seines Herzens ferne steht?” (Mosia 5:13.)

Kinder richten oft „die Gedanken und Absichten” ihres Herzens auf den Herrn. Solche Kinder sind zwar noch nicht volljährig, aber sie sind voller Glauben! Sie sind zwar zu jung für eine offizielle kirchliche Berufung, aber trotzdem sind sie zum Dienen berufen, nämlich als Vorbild, vor allem dann, wenn sie mit „guten Eltern” gesegnet sind (siehe l Nephi 1:1).

Es ist so, wie die heiligen Schriften uns versichern: „Den kleinen Kindern werden oftmals Worte gegeben.” (Alma 32:23.) Der auferstandene Jesus offenbarte Kindern etwas, und die wiederum lehrten dann ihre Eltern und die Erwachsenen „sogar Größeres”, als Jesus selbst gelehrt hatte (siehe 3 Nephi 26:14).

Vor ein paar Jahren durfte ich mehrere Adoptivkinder an Nan und Dan Barker, die jetzt in Arizona leben, siegeln. Vor einiger Zeit sagte Nate, der damals gerade drei geworden war: „Mama, da ist noch ein kleines Mädchen, das in unsere Familie kommen soll. Ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren und dunklen Augen, das ganz weit weg wohnt.”

Die kluge Mutter fragte: „Woher weißt du das denn?”

„Jesus hat es mir gesagt, oben.”

Die Mutter meinte: „Oben? Wir haben doch nur das Erdgeschoß.” Dann wurde ihr aber rasch klar, was das Kind da gesagt hatte. Nach vielen Mühen und vielem Beten befand sich die Familie Barker dann im Herbst 1995 in einem Siegelungsraum des

Salt-Lake-Tempels, wo ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren und dunklen Augen aus Kasachstan für Zeit und alle Ewigkeit an sie gesiegelt wurde. Inspirierte Kinder teilen ihren Eltern noch immer „Großes und Wunderbares” mit (siehe 3 Nephi 26:14).

Benjamin Ballam, der Spina bifida hat, ist ein ganz besonderes Kind von Michael und Laurie Ballam. Er ist ihnen und vielen anderen ein großer Segen. Auch Benjamin ist in geistiger Hinsicht sehr weit, und er strahlt Liebe und Zuversicht aus. Er hat 17 Operationen hinter sich und kennt sich mit Krankenhäusern und Ärzten aus. Einmal, als ein überarbeiteter Pfleger laut schimpfte, nicht wegen Benjamin, sondern wegen der stressigen Situation, war der kleine, dreijährige Benjamin, so wie wir es bei König Benjamin lesen, „voll von Liebe” (siehe Mosia 3:19). Er streckte die Hand aus und streichelte den aufgebrachten Pfleger zärtlich und sagte: „Ich hab dich trotzdem lieb.” Etwas ähnliches geschah kürzlich in einem israelischen Krankenhaus, wo der kleine Benjamin sich einer notwendigen doch sehr schmerzhaften Prozedur unterziehen mußte; er tröstete einen Arzt mit den selben liebevollen Worten. Da nimmt es nicht wunder, daß wir manchmal das Gefühl haben, Kinder seien uns in geistiger Hinsicht überlegen.

Joseph und Janice Clark waren mit zwei Söhnen, Jacob und Andrew, gesegnet. Vor fünf Jahren wurde Joseph Clark plötzlich krank und kam, vom Hals abwärts gelähmt, ins Krankenhaus. Wenn er auf dem Rücken lag, kuschelten sich seine Söhne oft in seine Arme. Dann lächelte Joseph immer, auch wenn er nicht verständlich sprechen konnte. In den Augen der Welt war seine Erkrankung eine Katastrophe. Aber Joseph und seine Frau, eine wahre Heilige, und ihre beiden Jungen sind fünf Jahre lang mit viel Unterstützung seitens ihrer Eltern und übrigen Verwandten auf erstaunliche Weise damit fertig geworden. Wie Ijob äußerten sie „nichts Ungehöriges gegen Gott” (siehe Ijob 1:22).

Viele von uns konnten sehen, wie Joseph, der im Krankenhaus lag, und Janice trotz aller unaufhörlichen praktischen Schwierigkeiten geistig immer stärker wurden. Wie König Benjamin sagt: Sie waren willig, sich allem zu fügen, was ihnen auferlegt wurde (siehe Mosia 3:19). Joseph, ein Mann mit besonderer Ausstrahlung, ist vor kurzem gestorben. Am Tag nach seinem Tod sagte der neunjährige Jacob, der ja die liebevolle, offene Wesensart seines Vaters kannte: „Mama, Papa hat im Himmel bestimmt schon ganz viele Freunde!”

Ein vierjähriges brasilianisches Mädchen, Mayara Fernanda Dos Santos, das an Leukämie litt und zum Atmen eine Sauerstoffmaske brauchte, empfing vor kurzem in Curitiba in Brasilien einen Segen von Eider Claudio Costa und mir. Anschließend wischte die einfühlsame kleine Mayara ihrer besorgten Mutter, die sie so innig liebt, lächelnd eine Träne aus dem Gesicht. Aus dem Gefühl heraus weiß Mayara, wie man diejenigen tröstet, die Trost brauchen (siehe Mosia 18:9).

Eider Craig Zwick und ich haben gemeinsam etwas Wundervolles erlebt, als ein kleines Kind uns in Fortelaza in Brasilien geführt hat. In einem kleinen, bescheidenen Krankenhauszimmer durften wir einen siebenjährigen Jungen segnen, der Leukämie hatte und im Sterben lag. Seine Vornamen -Jared Ammon - sagen schon viel über seine Familie aus. Er hatte sich sehr gewünscht, zur Regionskonferenz kommen zu können. Da der Missionspräsident und der Pfahlpräsident mitgekommen waren, war um das Bett herum kaum Platz für uns. Die treue zwölfjährige Schwester hielt den kleinen Jared Ammon in den Armen. Sein Bauch war schlimm angeschwollen. Als der Pfahlpräsident die Sauerstoffmaske anhob und fragte, ob Jared einen Segen wolle, antwortete der: „Ja, bitte.” Es war ein besonderes Erlebnis, ihn zu segnen und ihn zu berufen, auf der anderen Seite des Schleiers zu dienen. Die Tränen flössen, und der Geist war stark. Dann hob der Pfahlpräsident noch einmal die Sauerstoffmaske an und fragte Jared Ammon, ob wir noch etwas für ihn tun könnten. Jared bat uns leise, für ihn ein Kirchenlied zu singen. Wir sangen „Ich bin ein Kind des Herrn”. Das war Jared Ammons letzte Bitte, und zwei Stunden später verließ er dieses Leben.

Am nächsten Tag gingen wir, ehe wir abflogen, noch ins Gemeindehaus, wo er aufgebahrt war. Seine wundervollen Eltern waren voll Glauben, gefaßt und andachtsvoll bereit, sich zu unterwerfen (siehe Mosia 3:19). Die Tochter, die Jared Ammon in den Armen gehalten hatte, will einmal auf Mission gehen. Sie wird auf dieser Seite des Schleiers dienen und Jared auf der anderen.

Was wunder, Brüder und Schwestern, daß Gott uns anweist, „wie ein Kind” zu werden (Mosia 3:19). Solche Heiligkeit führt uns durch unsere Wüste Sinai, auch in Momenten, wo es heißt: „Laßt ab und erkennt, daß ich Gott bin.” (Psalm 46:10.) Es ist nötig, innezuhalten und sich zu unterwerfen, denn die Weihung ist ein Vorgang, der nicht zu erklären ist. Erst wenn unser Glaube geprüft ist, kommt das Zeugnis ganz (siehe Ether 12:6). Doch bis dahin sind es manchmal kleine Kinder, die uns den Weg weisen.

Ich gebe freudig Zeugnis davon, daß dieses Werk wahr ist, denn ich bin Zeuge des großen Wunders, das sich vollzieht, indem Präsident Hinckley uns so trefflich führt. Im Namen Jesu Christi. Amen.