1990–1999
Geht immer weiter und gebt der Zeit eine Chance
April 1997


Geht immer weiter und gebt der Zeit eine Chance

Unser Ziel, zu dem unsere Reise uns führen soll, unser Zion ist das Leben in der Gegenwart unseres himmlischen Vaters. Und um dorthin zu gelangen, müssen wir gehen und gehen und immerfort gehen.

Woche um Woche sangen sie und gingen weiter und gingen md gingen immerfort1 Wenn ich an die Pioniere denke, kommen mir traurige Szenen in den Sinn: Handkarren in Schneestürmen, Krankheit, erfrorene Füße, leere Mägen und flache Gräber.

Wenn ich aber mehr über diesen gewaltigen Treck erfahre, bin ich davon überzeugt, daß neben diesen sehr realen und dramatischen Szenen der größte Teil der Reise für die meisten zur Routine wurde. Zum größten Teil gingen und gingen sie immerfort.

Wenn die Pioniere am Morgen ihr Lager abbrachen, mußte das Vieh gefüttert und getränkt werden, mußten Feuerstellen gebaut, mußte das Frühstück gekocht werden. Es mußte der kalte Mittagsimbiß zubereitet und eingepackt werden, Reparaturen mußten durchgeführt werden, dann wurden die Tiere eingespannt und die Wagen wieder beladen. Und das Morgen für Morgen. Dann gingen sie rund neun Kilometer und hielten wieder an, um das Vieh zu füttern und zu tränken, das Mittagessen zu verzehren, sich wieder auf den Weg zu machen und dann bis etwa 18 Uhr weiterzugehen. Dann kamen wieder Routineaufgaben: die Tiere wurden ausgespannt und getränkt, Reparaturen wurden ausgeführt, es wurde Brennholz gesammelt, dann wurden die Feuerstellen gebaut, es wurde das Abendessen gekocht, man schrieb vor Einbruch der Dunkelheit noch ein, zwei Zeilen in sein Tagebuch, manchmal gab es noch ein bißchen Musik, und dann wurde gebetet, und um 21 Uhr begann die Nachtruhe.

Auf die Geschwindigkeit kam es nicht an. Da die langsam dahintrottenden Ochsen das Tempo vorgaben, mußte niemand rennen, um mit den Wagen Schritt zu halten. An einem guten Tag, an dem keine Probleme auftraten (gibt es so etwas überhaupt?), legten die Pioniere rund vierundzwanzig Kilometer zurück. Normalerweise waren es nicht einmal fünfzehn Kilometer. Stellt euch vor, wie belanglos das im Vergleich zu ihrem großen Ziel von gut zweitausend Kilometern war!

Auf einem Bronzefries, das auf dem Friedhof von Winter Quarters steht2, ist unter anderem eine Mutter abgebildet, die die Hand in den Wagen gelegt hat, während sie nach dem Salt Lake Valley unterwegs ist. Ihr kleiner Junge wollte nämlich nicht im Wagen bleiben, wenn er die Hand seiner Mutter nicht sah. Auch während diese Pioniere gingen, wußten sie, wie sie einander helfen konnten.

Was hat nun all dies mit unserer heutigen Welt zu tun? Ich glaube, alles. Unser Leben besteht meist nicht aus einer Kette dramatischer Ereignisse, die uns Heldentum und Mut abverlangen. Eher besteht unser Leben die meiste Zeit aus täglicher Routine, ja, aus monotonen Aufgaben, die uns ermüden und uns empfänglich machen für Entmutigung. Natürlich wissen wir, wohin wir gehen, und wäre es möglich, würden wir uns dafür entscheiden, aus dem Bett zu springen und wie verrückt zu arbeiten, damit wir am Abend da sind. Aber unser Ziel, zu dem unsere Reise uns führen soll, unser Zion ist das Leben in der Gegenwart unseres himmlischen Vaters. Und um dorthin zu gelangen, müssen wir gehen und gehen und immerfort gehen.

Es ist keine geringe Leistung, so Woche um Woche vorwärts zu gehen. Die Beständigkeit der Pioniere, die simple harte Arbeit, die dazu gehörte, die Bereitschaft, Zentimeter für Zentimeter, Schritt für Schritt weiterzugehen, hin zum verheißenen Land, begeistert mich genauso sehr wie ihre sichtbareren mutigen Taten. Es fällt so schwer, nicht den Glauben daran zu verlieren, daß wir Fortschritt machen, wenn wir uns in einem solchen Tempo vorwärtsbewegen - nicht den Glauben an die Zukunft zu verlieren, wenn wir an einem Tag nur eine so kleine Strecke zurücklegen.

Betrachtet ihr euch als heldenhafte Pioniere, weil ihr jeden Morgen aus dem Bett steigt, euch die Haare kämmt und rechtzeitig zur Schule geht? Ist euch klar, wie bedeutsam es ist, daß ihr jeden Tag eure Hausaufgaben macht, und erkennt ihr den Mut, der dahinter steht, wenn ihr um Hilfe bittet, weil ihr eine Aufgabe nicht versteht? Seht ihr das Heldentum, das darin besteht, daß ihr Sonntag für Sonntag zur Kirche geht, euch am Unterricht beteiligt und zu euren Mitmenschen freudlich seid? Seht ihr die innere Größe, die sich darin äußert, daß ihr das Geschirr spült, immer und immer wieder? Oder Klavierspielen übt? Oder auf Kinder aufpaßt? Erkennt ihr die Seelenstärke und den Glauben an das Ziel der Reise, die ihr braucht, um jeden Tag zu beten und immer wieder in den heiligen Schriften zu lesen? Seht ihr, wie großartig es ist, wenn ihr der Zeit die Chance gebt, eure Probleme zu einer Größenordnung zurechtzustutzen, die es euch erlaubt, damit fertig zu werden?

Präsident Howard W. Hunter hat gesagt: „Wahre Größe … erfordert immer über einen langen Zeitraum hinweg regelmäßige, beständige, kleine und manchmal ganz gewöhnliche Schritte.”3

Wie leicht wünschen wir uns rasche und dramatische Ergebnisse als Lohn für die Arbeit eines Tages! Und doch, wie glücklich sind die Menschen, die gelernt haben, sich dem Rhythmus des regelmäßigen und beständigen Fortschritts zu beugen - und auch das Gewöhnliche im Leben zu feiern und sich daran zu freuen.

Laßt euch nicht entmutigen. Denkt an diejenigen, die mit der Hand in den Wagen reichen, um euch Mut zu machen. Seid derjenige, der anderen die Hand hinstreckt, während wir alle gemeinsam vorwärtsgehen.

Wenn ihr abends zu Bett geht, dann haltet Rückblick auf das, was ihr im Lauf des Tages geschafft habt. Gestattet es euch, die Zufriedenheit zu spüren, die sich einstellt, wenn man seine Arbeit erledigt hat, auch wenn man sie nur zum Teil geschafft hat. Jene bemerkenswerten Pioniere waren nicht nur bereit, vorwärts zu gehen, sondern sie sangen auch noch, während sie gingen und gingen und immerfort gingen. Wird von uns erwartet, daß wir fröhlich sind, während wir unsere tägliche Arbeit verrichten? Vielleicht nicht jede Minute an jedem Tag. Natürlich sind wir manchmal traurig und sogar zornig. Aber wir können uns dafür entscheiden, uns der Traurigkeit oder dem Zorn nicht ganz zu überlassen. Ein Mädchen hat unserem Büro geschrieben: „Es ist so toll, 14 zu sein. Ich wollte, ich könnte ganz lange 14 bleiben. Vierzehn zu sein macht soooooooooo viel Spaß!” Diese kurzen Sätze haben meinen Tag heller gemacht. „Ein fröhliches Herz tut dem Leib wohl.” (Sprichwörter 17:22.)

Wir stellen uns die Menschen in der Stadt Henochs als so gute - so unglaublich gute - Menschen vor, daß die ganze Stadt in den Himmel aufgehoben wurde. Wenn wir aber aufmerksam nachlesen, stellen wir fest, daß die Stadt Zion „im Lauf der Zeit” (Mose 7:21) in den Himmel aufgenommen wurde. So wie die Pioniere, so wie wir müssen auch sie über einen langen Zeitraum hinweg Schritt für Schritt vorangegangen sein.

Der Indra-Schwalbenschwanz ist einer der erstaunlichsten Schmetterlinge, die es gibt. Die Biologen haben seinen Lebenszyklus gründlich erforscht. Das Ei wird genau an der richtigen Stelle auf der Wirtspflanze abgelegt. Innerhalb von fünf Tagen schlüpft daraus eine schwarze Raupe mit gelborangefarbenen Punkten. Nach der entsprechenden Zeit verpuppt sich die Raupe. Aus den meisten Puppen schlüpft nach zwei Jahren ein Schmetterling. Aber manche - und das ist das Interessante an der Sache - bleiben bis zu sieben Jahren verpuppt. Dann schlüpft unerwartet innerhalb weniger Stunden die einst gefleckte Raupe als herrlicher schwarzer Schmetterling und schwingt sich in die Lüfte.4 Ist aus dieser Raupe innerhalb weniger kurzer Stunden oder in sieben Jahren ein Schmetterling geworden?

Ein Beobachter, der etwas davon versteht, wie ein Indra-Schwalbenschanz sich entwickelt, ist bereit, seine Arbeit geduldig fortzusetzen und der Zeit eine Chance zu geben. Wer etwas von der persönlichen Entwicklung versteht, betet kontinuierlich und verrichtet seine tägliche Arbeit und gibt der Zeit eine Chance.

In der Umgangssprache heißt das „nicht locker lassen”.

Ich habe Carly kennengelernt, als sie 12 Jahre alt war. Sie war gerade Bienenkorbmädchen geworden und noch unerfahren, und in ihrer Welt gab es vorübergehend manche Schwierigkeit. Hört euch an, wie sie über ihre Gefühle spricht. [Es wird ein kurzer Videoausschnitt gezeigt.]

„Veränderungen sind mir immer schon sehr schwer gefallen. Meine Probleme sind eigentlich gar nicht so schlimm, aber wenn ich sie ansehe, kommt es mir so vor, als ob es die schlimmsten auf der Welt wären, wenn ich sie gerade habe. Alle haben irgendwie nur an sich gedacht. Ich hab’ mich immer irgendwie einsam gefühlt. Und ich wollte auch nicht in die Schule. Ich hatte das Gefühl, dem himmlischen Vater wäre es völlig egal, wenn ich traurig war. So, als ob es ihm gar nichts ausmachte, ob ich durcheinander war oder keine Freundinnen hatte. Ich hatte einfach das Gefühl, er wäre gar nicht da. Ich hatte das Gefühl, ich wäre allen egal.”5

Das ist Carly. Sie ist inzwischen 16.

„Wenn ich mich als Zwölfjährige reden höre, fällt mir wieder ein, wie sehr ich mir damals eine, Zauberlösung’ gewünscht habe, die alles in Ordnung brachte. Jetzt glaube ich, daß es nichts gibt, das alles mit einem Mal in Ordnung bringt. Als ich zwölf war, wußte ich nur, daß ich gut sein wollte. Dieser Wunsch brachte mich dazu, daß ich nicht aufhörte, in den heiligen Schriften zu lesen, zur Kirche zu gehen und zu beten. Jetzt, vier Jahre später, fühle ich mich ganz anders, und zwar vor allem deshalb, weil ich nicht aufgehört habe, das alles zu tun. Jetzt finde ich in den heiligen Schriften Antworten, ich bin dem Herrn näher, weil ich bete, und ich verstehe den Unterricht in der Kirche viel besser.

Mein Vater hat einen Spruch an der Wand:, Erfolg stellt sich im wesentlichen dadurch ein, daß man weitermacht, nachdem andere schon aufgegeben haben/ [William Feather.] Ich bin so froh, daß ich nicht aufgegeben habe! Ich glaube, wir brauchen manchmal solche Zeiten, in denen wir uns völlig leer fühlen. Sie helfen uns, dem Herrn vertrauen zu lernen.

In manchen beliebten Liedern und Filmen wird der Eindruck erweckt, nichts sei wirklich wichtig und wir müßten aufgeben, weil sowieso alles nur vorübergehend ist. Wir wissen es besser. Wir haben das Evangelium. Es ist nichts Vorübergehendes. Es ist ewig. Wir können nicht loslassen. Wir können nicht aufgeben. Wir sehen es jetzt vielleicht nicht, aber alles, was wir an jedem Tag in unserem Leben tun, hat seinen Zweck. Und wir haben einen himmlischen Vater, der immer da ist, uns aufzurichten und uns Mut zu machen.”

Wir sind so wichtig füreinander, während wir gemeinsam unseren Weg gehen. Ich weiß, daß der himmlische Vater uns alle segnet, wenn wir beten, hart arbeiten und der Zeit eine Chance geben. Im Namen Jesu Christi. Amen. D

  1. „Pioneer Children Sang As They Walked”, Children’s Songbook, 214.

  2. Skulptur von Avard Fairbanks.

  3. „True Greatness”, Ensign, Mai 1982, 20.

  4. Siehe Todd Stout, „The Four Utah Varieties of Papilo Indra”, Utah Lepidopterist, Februar 1997, 6.

  5. Nach einem Videointerview mit Carly Nielson, Gemeinde Kaysville 18, Pfahl Kaysville Utah Crestwood, das 1993 aufgenommen wurde.