1990–1999
„Bist Du die Frau, für die ich Dich halte?”
Oktober 1997


„Bist Du die Frau, für die ich Dich halte?”

Bin ich die Frau, … die ich sein möchte? Noch wichtiger: Bin ich so, wie der Erretter mich braucht?

Ich bin auf einer Farm in Kansas aufgewachsen, wo wir Tür an Tür mit meiner Oma Dew wohnten, und ich war ihr Schatten. Überallhin gingen wir zusammen - zur Bank, zum Arzt, zum Gartenverein der Frühaufsteher und zu einer scheinbar endlosen Folge von Versammlungen der Kirche. Was das Evangelium betraf, war Oma sehr eifrig. Sie redete ständig und mit jedem über die Kirche auch mit ihrer ältesten Enkelin.

Ich werde nie das Gespräch vergessen, das wir eines Abends führten, als wir wieder einmal von einer Versammlung nach Hause fuhren. Es begann damit, daß ich mit einer Frage herausplatzte, die mich mit meinen acht Jahren sehr beschäftigte, nämlich: „Oma, was ist, wenn das Evangelium gar nicht wahr ist und wir dann umsonst in all diese Versammlungen gehen?” Ich war doch eine bezaubernde Achtjährige, oder? „Sheri, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen”, antwortete sie. „Ich weiß doch, daß das Evangelium wahr ist.”

Ich forderte sie heraus: „Wie kannst du denn so sicher sein?” Es vergingen einige Sekunden, und sie überlegte gut, was sie sagte: „Ich weiß ganz sicher, daß das Evangelium wahr ist, weil der Heilige Geist mir gesagt hat, daß Jesus Christus unser Erretter ist und daß dies seine Kirche ist.” Sie dachte noch einmal kurz nach und sagte dann etwas, was ich niemals vergessen werde: „Und weißt du was, Sheri, er wird es dir auch sagen, und dann wird dein Leben niemals wieder so sein wie vorher.”

Ich kann mich noch lebhaft an das erinnern, was dann als nächstes geschah. Ein Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte, durchfuhr mich, und ich begann zu weinen. Ich verstand zwar nicht, warum das so war, aber ich bin sicher, daß meiner Oma klar war, was mit mir geschah - daß mir nämlich der Geist bezeugte, daß das, was sie gesagt hatte, wahr war.

Ich bin dankbar, daß ich Ihnen heute Abend bezeugen kann, daß ich im Laufe der Jahre tatsächlich selbst erkannt habe, daß Jesus der Messias ist, unser Erretter und Erlöser. Und dank dieser Erkenntnis hat sich mein Leben wirklich für immer verändert.

Die Propheten in alter Zeit und die Propheten von heute fordern uns auf, zu Christus zu kommen (siehe Moroni 10:30). Präsident Gordon B. Hinckley hat verkündet: „[Jesus Christus] ist die Zentralfigur unserer Theologie und unseres Glaubens. Jeder Heilige der Letzten Tage muß selbst mit einer Gewißheit, die jeden Zweifel übersteigt, wissen, daß Jesus der auferstandene, lebendige Sohn des lebendigen Gottes ist.” (Der Stern, Oktober 1983, Seite 80.)

Die Ermahnung, „zu Christus zu kommen”, ist der Angelpunkt, um den sich in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage alles, und damit auch die FHV, dreht. Und das aus einem guten Grund. Das Verb kommen impliziert, daß wir etwas tun. Es ist interessant, daß in der uns doch vertrauten Stelle im Neuen Testament, wo es um das Jenseits geht, wo viele den Herrn anflehen und ihm ihre guten Taten vorhalten, in der üblichen Version steht, Christus werde sagen: „Ich kenne euch nicht.” (Matthäus 7:23.) In der inspirierten Übersetzung von Joseph Smith zu dieser selben Stelle findet sich allerdings ein grundlegender Unterschied, nämlich: „Ihr habt mich nie gekannt.” (/ST, Matthäus 7:33; Hervorhebung hinzugefügt.) Damit wird deutlich uns die Verantwortung dafür auferlegt, zum Erretter zu kommen. Jesus Christus selbst hat verheißen: „Naht euch mir, und ich werde mich euch nahen; sucht mich eifrig, dann werdet ihr mich finden; bittet, und ihr werdet empfangen, klopfet an, und es wird euch auf getan werden.” (LuB 88:63.)

Es gibt in dieser Aufforderung keinerlei Widerruf und keine Ausnahmen. Es hängt von uns ab, wie intensiv der gegenseitige Austausch mit ihm ist. Es kommt darauf an, ob wir uns ihm nahem, ob wir nach ihm suchen und bitten und anklopfen. Und je mehr wir über den Herrn wissen was bedeutet, je mehr wir seine Barmherzigkeit und Geduld, seine Bereitschaft, uns auch dann zu führen, wenn wir vielleicht das Gefühl haben, wir seien seiner Weisung nicht würdig - desto zuversichtlicher sind wir, daß er wirklich auf unser Flehen eingeht.

Wenn wir mehr mit ihm zu tun haben, stellen wir fest, daß er uns niemals verrät, sich niemals von uns abwendet, seine Kriterien dafür, wie wir zu ihm kommen sollen, niemals ändert. Seine Aufmerksamkeit gilt ganz und gar uns, seinen Brüdern und Schwestern.

Es gibt viele Möglichkeiten, uns ihm zu nahen, ihn zu suchen, zu bitten und anzuklopfen. Wenn Sie in Ihren Gebeten zum himmlischen Vater, die Sie ja im Namen Christi sprechen, vielleicht nachlässig geworden sind, könnten Sie sich doch von neuem dazu verpflichten, sinnerfüllt und regelmäßig zu beten, ohne Hetze und allein und mit umkehrwilligem Herzen. Wenn Sie den Frieden und die Kraft, die der Gottesdienst im Tempel mit sich bringt, noch nicht erfahren haben, könnten Sie sich vornehmen, so oft an den heiligen Handlungen des Hauses des Herrn teilzunehmen, wie Ihre Umstände es zulassen. Wenn Sie noch nicht festgestellt haben, daß Sie, wenn Sie sich in die heiligen Schriften vertiefen, eher Offenbarung erhalten können, dann denken Sie doch darüber nach, das Wort Gottes konsequenter in Ihr Leben einzubeziehen. Heute Abend wäre ein wundervoller Zeitpunkt, damit anzufangen.

Diese und viele weitere Anstrengungen führen dazu, daß unsere Bindung an Jesus Christus fester wird. Unser Zeugnis von ihm erweitert sich und reift; wir fangen an, mehr an das Leben zu denken, das für immer ist, als an das Leben von heute, und wir wünschen uns nur noch, das zu tun, wozu er uns braucht, und so zu leben, wie er uns gebeten hat. Präsident Ezra Taft Benson hat erklärt: „Wenn man sich dafür entscheidet, Christus nachzufolgen, entscheidet man sich dafür, sich zu ändern.” (Generalkonferenz, Oktober 1985.) So wie meine Oma es mir gesagt hat: „Wenn du ein Zeugnis von Jesus Christus hast, wird dein Leben niemals wieder so sein wie vorher.”

Vor kurzem habe ich eine Gemeinde an der wunderschönen Küste Oregons besucht. Nach der Abendmahlsversammlung kam zu meiner Überraschung eine Frau auf mich zu und fragte: „Bist du die Frau, für die ich dich halte?” Ihre Frage bezog sich auf meine Identität, aber sie verfolgt mich seitdem. Bin ich die Frau, für die ich mich halte, die Frau, die ich sein möchte? Noch wichtiger: Bin ich so, wie der Erretter mich braucht?

Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Frage meiner Freundin in Oregon und der Lektion, die ich von meiner Oma gelernt habe, denn es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen unseren Gefühlen für Jesus Christus und unserer Einstellung zu uns selbst. Wenn wir nämlich in der Ergebenheit gegenüber dem Erretter stärker werden, werden wir uns mehr dessen bewußt, welche Ziele wir haben, wer wir sind und wovon wir überzeugt sind.

Ich liebe Nauvoo. Jedes Mal, wenn ich die Stadt Josephs besuche, gehe ich ans Ende der Parley Street, wo die Heiligen ihre Wagen aufgestellt haben, wenn sie sich bereit machten, die Stadt zu verlassen. Dort versuche ich mir vorzustellen, wie unseren Pionierschwestern wohl zumute war, wenn sie das bißchen, was sie mitnehmen konnten, auf einem Wagen verstauten, einen letzten Blick auf ihr Haus warfen und dann ihrem Glauben in die Wildnis nachfolgten.

Ich weine immer in der Parley Street, weil ich mich immer wieder fragen muß: Hätte ich den Wagen beladen? Wäre mein Zeugnis vom Propheten der Letzten Tage und von Jesus Christus stark genug gewesen, so daß ich alles aufgegeben hätte und überallhin gezogen wäre?

Es wird vielleicht keiner von uns in dieser Versammlung aufgrund seines Glaubens aufgerufen, sein Zuhause zu verlassen oder Entbehrungen auf sich zu nehmen. Aber wir sind dazu berufen, in einer Zeit zu leben, wo die Kluft zwischen den Philosophien der Menschen und den Lehren des Meisters immer weiter wird.

Wir leben in einer Zeit, in der der Widersacher einen gewaltigen Angriff gegen die Frauen und das Frauentum führt. Er weiß, daß der Einfluß einer rechtschaffenen Frau enorm ist und Generationen umfaßt. Er will, daß wir uns nicht für Ehe und Muttersein interessieren, daß wir uns von der Einstellung der Welt zu Mann und Frau verwirren lassen, daß wir uns zu sehr in die Hetze des Lebens fallen lassen, um wirklich nach dem Evangelium zu leben und zuzulassen, daß seine errettenden heiligen Handlungen und Wahrheiten uns tief in die Seele dringen. Er will uns um jeden Preis von Jesus Christus fernhalten. Wenn wir nämlich nicht zu Christus kommen, was bedeutet, daß wir niemals unser Leben ganz nach ihm ausrichten, müssen wir diese Bewährungszeit hier allein durchstehen, statt zu erfahren, was der Erretter verheißen hat, nämlich: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.” (Matthäus 11:28.)

Wir stehen jeden Tag am Ende unserer eigenen Parley Street. Der Herr brauchte die Stärke der Frauen dieser Kirche, als der Same der Wiederherstellung gesät und gehegt wurde. Und er braucht uns heute. Er braucht uns dafür, daß wir uns für das einsetzen, was recht ist, auch wenn das unpopulär ist. Er braucht uns dafür, daß wir die geistige Reife entwickeln, die Stimme des Herrn zu hören und die Täuschungen des Widersachers aufzudecken. Er freut sich über Frauen, die sich genau an ihre Bündnisse halten, Frauen, die vor der Macht des Priestertums Ehrfurcht empfinden, Frauen, die bereit sind, „die Dinge dieser Welt auf-[zu] geben und nach den Dingen einer besseren Welt [zu] trachten” (LuB 25:10). Er braucht uns dafür, daß wir alles sind, was wir sein können, daß wir uns erheben und unser Licht leuchten lassen „damit es den Nationen ein Banner sei” (siehe LuB 115:5).

Sind wir solche Frauen, wie der Herr sie braucht? Haben wir ein solches Zeugnis von Jesus Christus, daß unser Leben niemals wieder so sein wird wie vorher?

Vor ein paar Wochen bin ich kurz mit Präsident Hinckley zusammengetroffen. Er fragte mich etwas im Zusammenhang mit meiner Berufung, und ich sagte: „Ich bin so gern mit den Frauen der Kirche zusammen, sie sind so gut.” Daraufhin verbesserte er mich sofort: „Nein, Sheri. Sie sind nicht gut, sie sind großartig!”

Ich nehme die Propheten beim Wort. Und unser Prophet glaubt an uns. Er glaubt an unsere Stärke und unsere Flexibilität, an unseren Glauben und unsere Treue. Ungeachtet Ihrer gesellschaftlichen Stellung oder Ihres Familienstands, der Zahl Ihrer Kinder, Ihrer Ausbildung oder Ihrer beruflichen Leistungen, der Sprache, die Sie sprechen, der Dauer Ihrer Mitgliedschaft in der Kirche, ungeachtet dessen, ob Sie achtzehn sind oder achtzig, sind Sie eine geliebte Geisttochter des himmlischen Vaters, deren Bestimmung es ist, in der vorwärts gerichteten Bewegung des Gottesreichs eine entscheidende Rolle zu spielen. Eliza R. Snow hat verkündet: „Jede von uns ist verpflichtet, eine heilige Frau zu sein. … Keine Schwester lebt so isoliert und hat einen so eng begrenzten Wirkungskreis, daß sie nicht eine ganze Menge dafür tun könnte, daß hier auf der Erde das Reich Gottes aufgerichtet wird.” (Woman’s Exponent, 15. September 1873, Seite 62; Hervorhebung hinzugefügt.)

Eben habe ich von meiner Oma gesprochen. Sie hat ein einfaches Leben in einer unbeachteten Ecke des Weingartens gelebt. Sie war nie in Europa, hat nie ein Stück am Broadway gesehen. Es leben nur noch eine Handvoll Menschen, die sich überhaupt an sie erinnern.

Aber ich erinnere mich an sie. Sie ist zwar gestorben, als ich erst elf war, aber mein Leben ist von dieser einen gläubigen Frau grundlegend beeinflußt worden. Genauso ist jede von uns für die Sache des Herrn lebenswichtig. Wieviel Gutes wir doch tun könnten, wenn wir uns noch in dieser Stunde ihm, der unser Erlöser und unser Erretter ist, erneut weihen würden.

Wieviel rechtschaffenen Einfluß wir doch haben könnten, wenn wir uns, wie die Jungen Damen, dazu verpflichten würden, allzeit und in allem, wo auch immer wir uns befinden mögen, als Zeugen Gottes aufzutreten (siehe Mosia 18:9).

Zum Glück stehen wir alle gemeinsam in dieser Sache. Ungeachtet dessen, wo Sie in dieser Kirche dienen, meine Schwestern, sind Sie doch ein Mitglied der FHV, der Organisation des Herrn für die Frauen. Sind wir solche Frauen, wie der Herr sie braucht?

Könnten wir uns vielleicht dazu verpflichten, es nur ein wenig besser zu machen, als wir es bisher gemacht haben, und uns dabei bereit machen, die Frauen der Welt in allem, was göttlich und erhebend ist, anzuführen?

Meine Oma hatte recht. Wenn wir erkennen, daß Jesus der Messias ist, kann unser Leben niemals wieder so sein wie vorher. Mit meiner Oma bezeuge ich, daß der Erretter die eine Quelle der Stärke und des Trosts ist, auf die wir uns verlassen können. Er kam, um uns in unseren Schwächen beizustehen und unser gebrochenes Herz zu heilen. Er ist immer bereit, uns zu erheben, wenn wir nur zu ihm kommen.

Ich weiß das aus persönlicher Erfahrung. Die Antworten auf meine Gebete kommen nicht immer leicht oder rasch. Aber sie kommen immer. Immer und immer wieder habe ich die Barmherzigkeit und die führende Hand des Herrn selbst erfahren. Jesus Christus kennt den Weg, denn er ist der Weg. „Ich werde zu eurer rechten Hand sein und zu eurer linken, und mein Geist wird in eurem Herzen sein und meine Engel rings um euch, um euch zu stützen.” (LuB 84:88.)

Moronis abschließendes Zeugnis gibt uns den Weg vor: „Erwache und erhebe dich aus dem Staub, o Jerusalem; ja, und kleide dich in deine schönen Gewänder, o Tochter Zions. … Ja, kommt zu Christus, und werdet in ihm vollkommen, und verzichtet auf alles, was ungöttlich ist, und liebt Gott mit aller Macht, ganzem Sinn und aller Kraft, dann ist seine Gnade ausreichend für euch, damit ihr durch seine Gnade in Christus vollkommen seiet.” (Moroni 10:31,32.)

Mögen wir uns noch in dieser Stunde erheben, indem wir erneut den festen Entschluß fassen, unserem Erretter nachzufolgen und solche Frauen zu sein, wie er uns braucht. Von seiner grenzenlosen Barmherzigkeit und Stärke, von seiner Allmacht und Herrlichkeit gebe ich in der Gewißheit, daß er lebt, Zeugnis, im heiligen Namen Jesu Christi, amen.