1990–1999
Geistige Fähigkeiten
Oktober 1997


Geistige Fähigkeiten

Wir brauchen ein Vorbild - jemanden, der uns zeigt, wie man geistige Fähigkeiten entfaltet. Ich habe … Präsident Gordon B. Hinckley als ein solches Vorbild gewählt.

Wenn man von der Ersten Präsidentschaft gebeten wird, auf der Generalkonferenz zu sprechen, bekommt man kein Thema zugewiesen. Die Sprecher beten um Inspiration und bereiten sich gemäß den Eingebungen vor, die sie erhalten. Ich habe das Gefühl, daß ich über „geistige Fähigkeiten” sprechen soll.

Ein Vers aus den heiligen Schriften weist auf die Möglichkeiten hin, die jeder Mensch hat: „Es ist der Geist im Menschen”, heißt es bei Ijob, „des Allmächtigen Hauch, der ihn verständig macht.”1 Um solch eine Möglichkeit zu nutzen, braucht man mehr als nur verbalen Ansporn. Wir brauchen ein Vorbild - jemanden, der uns zeigt, wie man geistige Fähigkeiten entfaltet. Ich habe für meine Ansprache Präsident Gordon B. Hinckley als ein solches Vorbild gewählt.2 Ich hoffe, er wird mir verzeihen. Ich spreche ja nicht über ihn, um ihm zu schmeicheln, sondern um ihm nachzueifern. Wir können aus seinem Beispiel lernen und so unsere geistigen Eigenschaften verbessern. In diesem Jahr durften meine Frau und ich Präsident Hinckley und seine Frau in elf Länder3 begleiten, für die ich einige Verantwortung trage. Das hat uns die seltene Gelegenheit gegeben, ihn unter den verschiedensten Umständen aus der Nähe zu beobachten. Seine Unterweisung ist immer inspirierend und sachdienlich. Man sollte sie genau studieren und dann für sich anwenden. Sie sind das Wort des Herrn an sein Volk.4

Aber ich will nicht Präsident Hinckleys Ansprachen wiederholen. Ich will vielmehr den Blick auf seine geistigen Fähigkeiten lenken. Er hat viele solcher Fähigkeiten entwickelt, darunter „Glauben, Tugend, Erkenntnis, Mäßigung, Geduld, brüderliches Wohlwollen, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Demut [und] Eifer.”5

Seine Demut beispielsweise ist so aufrichtig, daß er es sicher lieber sähe, wenn ich nur auf den Herrn Jesus Christus als unser großes Vorbild verwiese.6 Und das ist er natürlich auch! Der Herr hat gesagt: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.”7 Wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, daß der Erretter unser höchster und beständiger Maßstab ist.

Wir können aber auch viel von einem Mann lernen, der schon sein Leben lang bestrebt ist, dem Herrn ähnlicher zu werden. Vor über siebenundachtzig Jahren war Gordon B. Hinckley ein Baby auf dem Arm seiner lieb vollen Eltern. Ich nehme an, daß er aussah wie andere Babys auch. Ein Kind hat einen kleinen Körper, und seine geistigen Fähigkeiten sind noch nicht entwickelt. Der Körper wächst in wenigen Jahren zur vollen Größe heran, aber der Geist erreicht vielleicht niemals die Grenzen seines Leistungsvermögens, weil der Fortschritt kein Ende hat.

Präsident Hinckleys Persönlichkeit, seine Eigenart und die ihm eigene Intelligenz gehörten immer nur ihm und sind einzigartig. Aber zu diesen angeborenen Eigenschaften hat er geistige Fähigkeiten hinzugefügt, die immer noch zunehmen.

Seine Eltern und er selbst wußten, wie wichtig Bildung und eine Mission sind. Nachdem er die Universität abgeschlossen hatte, stand er 1933 vor einer wichtigen Entscheidung, als er auf Mission berufen wurde. Damals konnten die meisten jungen Männer in der Kirche nicht auf Mission gehen, weil wegen der weltweiten Wirtschaftskrise niemand Geld hatte. Seine wunderbare Mutter hatte in der Vergangenheit voller Voraussicht und Glauben ein kleines Sparkonto für die Mission angelegt. Sie war, als er berufen wurde, zwar schon tot, aber das Geld half ihm jetzt.

Kurz nachdem Eider Hinckley die Arbeit in England aufgenommen hatte, verließ ihn der Mut, und er schrieb seinem Vater. Die weise Antwort seines Vaters auf diesen Brief schloß mit den Worten: „Vergiß dich selbst und geh an die Arbeit.”8 Dank seinen Eltern und dem entscheidenden Entschluß zu bleiben, beendete Eider Hinckley seine Mission ehrenvoll. Heute sagt er oft, daß er alles Gute, was er seitdem erlebt hat, dieser Entscheidung verdankt. Während der Mission entwickelte er gute Gewohnheiten; er lernte zu studieren, zu arbeiten, sich mitzuteilen, sparsam zu sein, sich die Zeit einzuteilen und noch mehr. Damals lernte er, daß für den Herrn nichts unmöglich ist.9

Schon vor langer Zeit machte Präsident Hinckley sich die Macht des Betens zunutze. Ich habe schon oft beobachtet, wie er wegen bedeutender Angelegenheiten betete und eine inspirierte Antwort erhielt. Durch das Beten weckt man jene erhebenden Eigenschaften des Geistes, die Gott „allen denen verleiht, die wahre Nachfolger … Jesu Christi sind.”10

Hobbys können gut zur geistigen Entwicklung beitragen. Gute Musik, Tanz, bildende Kunst und das Schreiben gehören zu den kreativen Tätigkeiten, die die Seele bereichern können. Ein gutes Hobby kann Herzeleid vertreiben und dem Leben Reiz verleihen.11 Ein Hobby Präsident Hinckleys ist schon seit vielen Jahren sein Zuhause. Als junger Vater hat er gelernt, wie man etwas baut. Er hat sich die Fertigkeiten angeeignet, die man braucht, um ein Haus zu renovieren und die nötigen Reparaturen auszuführen. Und was noch wichtiger ist, er hat sozusagen das Vertrauen seiner Frau und seiner Kinder aufgebaut und instandgehalten. Damals wie heute schufen und schaffen sie sich gemeinsam wunderbare Erinnerungen mit den Kindern und den Enkelkindern, die wissen, daß sie zu einem „auserwählten Geschlecht [gehören, das] aus der Finsternis in [das] wunderbare Licht [des Herrn] gerufen” worden ist.12 Von dem Beispiel, das Bruder und Schwester Hinckley als Eltern geben, können wir viel lernen. Zu Hause herrscht Eiebe, wenn die Ehepartner mit Sorgfalt der Pflicht, Gottes Gebote zu halten, nachkommen.

Präsident Hinckleys Eiebe zum Eernen wird durch seine Neugier angeregt. Er ergreift jede Gelegenheit, von anderen Menschen zu lernen. Einmal hörte ich, wie er einen Polizeibeamten fast eine Stunde lang über die Verbrechensbekämpfung in einer großen Stadt ausfragte. Ich habe gehört, wie er mit Bauunternehmern, mit

Reportern und mit Fachleuten aus den Bereichen Kunst, Architektur, Wirtschaft, Regierungswesen, Rechtswissenschaften, Medizin und anderen Gebieten sprach. Er kennt ihre Fachbegriffe, ihre Schwierigkeiten und ihre Stärken.

Die bemerkenswerte Fähigkeit im Schreiben hat er, weil er so lebt, daß der Geist mit ihm ist. Solche Fertigkeiten können auch andere Menschen erlangen, schließlich heißt es in den heiligen Schriften: „Denn allen, die Gott anriefen, wurde es gegeben, unter dem Geist der Inspiration zu schreiben/’13

Präsident Hinckley hat im Lauf der Jahre einen bemerkenswerten Sinn für Humor entwickelt. Sie kennen sicher sein treffendes Wort: „Meine Frau und ich merken, daß die sogenannten goldenen Jahre auch einen Anteil Blei haben.”14 Ich möchte dazu sagen: Präsident Hinckley, wir sind froh, daß wir ein solches „Senkblei” haben, mit dem wir unsere Position ausloten können! Es ist ausgleichender Ballast für jemanden, der sich voll Eifer zu weit hinauslehnen könnte. Und es stabilisiert den Charakter.

Zwar steht Präsident Hinckley im Mittelpunkt meiner Ansprache, aber ich muß auch Schwester Hinckley mit einbeziehen. Die beiden sind seit sechzig Jahren verheiratet und schon lange eins im Geist, haben dabei aber ihre Individualität bewahrt. Sie verschwenden keine Zeit damit, über die Vergangenheit nachzudenken oder sich Sorgen um die Zukunft zu machen. Und auch unter widrigen Umständen halten sie durch.

In Mittelamerika hatten sie einmal auf dem Weg von einem Gemeindehaus zum Flughafen einen Verkehrsunfall. Meine Frau und ich fuhren hinter ihnen und sahen genau, was passierte. Ein Lastwagen, der mit ungesicherten Metallstangen hoch beladen war, kam ihnen auf einer Kreuzung entgegen. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, bremste der Lastwagenfahrer heftig. Die Eisenstangen flogen wie Speere vom Laster und bohrten sich in den Wagen, in dem die Hinckleys saßen. Die Fenster wurden zertrümmert, Kotflügel und Türen verbeult. Der Unfall hätte sehr schlimm enden können. Während man ihnen Glassplitter von Kleidung und Haut entfernte, sagte Präsident Hinckley: „Dem Herrn sei Dank für seinen Segen. Fahren wir jetzt mit einem anderen Wagen weiter.”

Zu Präsident Hinckleys geistigen Eigenschaften gehört das Mitgefühl. Er nimmt Anteil an den Menschen und hat den Drang, ihnen zu helfen. Ich habe erlebt, wie er mit den Trauernden geweint und sich gefreut hat, wenn die Heiligen gesegnet wurden. Jeder, dessen Herz wirklich vom Geist des Herrn angerührt ist, kann dieses Mitgefühl erlangen.

Präsident Hinckley und seine Frau zeigen uns, daß man immer verständiger wird, wenn man lernt und dann eifrig lehrt.15 Wenn man nicht durch Krankheit eingeschränkt ist, nimmt die Fähigkeit zu geistiger Entwicklung im Alter nicht ab, sondern sogar zu.

Jeder Präsident der Kirche - ausgerüstet mit dem Heiligen Geist als ständigem Begleiter - übernimmt in einem Alter, wo die meisten Männer pensioniert sind, eine gewaltige Arbeitslast. Präsident Hinckley schlägt ein Tempo an, das es bisher noch nicht gegeben hat. 1996 besuchte er die Missionare, die Mitglieder und die Freunde der Kirche in dreiundzwanzig Ländern auf vier Kontinenten. Er hielt über zweihundert große Ansprachen. 1997 geht er genauso vor. Sein anstrengender Terminplan wird von dem festen Entschluß diktiert, sich „voll Eifer” dem Aufbau des Gottesreichs „zu widmen”.16 Schon oft habe ich ihn sagen hören: „Ich weiß nicht, wie ich etwas erledigen kann, ohne mich hinzuknien und um Hilfe zu bitten, und dann aufzustehen und an die Arbeit zu gehen.” Unerschütterlicher Glaube, harte Arbeit und ansteckender Optimismus - das ist unser Prophet.

Wenn Präsident Hinckley vor vielen Zuhörern spricht, habe ich gesehen, wie er auf den Heiligen Geist vertraut, der ja die Aufgabe hat, „den Verstand zu erleuchten und zu erheben, die Seele zu reinigen und zu heiligen, zu guten Werken anzuspornen und das, was Gottes ist, zu offenbaren.”17

Präsident Hinckley hat seine physischen Empfindungen durch den Geist im Griff. Selbst wenn er Anlaß zu ganz normalen Klagen hätte, beispielsweise nach langen Flugreisen oder wenn er sich ausgebrannt fühlt, ist er stets aufmerksam. Ich glaube, sein persönliches Mittel gegen Erschöpfung ist die Begeisterung für das Werk.18 Er erhält seine Energie vom Herrn, der gesagt hat: „Ich will dir von meinem Geist mitteilen, und er wird dir den Verstand erleuchten und dir die Seele mit Freude erfüllen.”19

Eins der denkwürdigsten Erlebnisse hatten wir, als wir den Bauplatz des Tempels in Guayaquil in Ekuador besuchten. Präsident Hinckley erzählte uns dort, wie dieses Grundstück ausgesucht worden war. Bei einem früheren Besuch hatte man ihm einige Grundstücke gezeigt, aber mit keinem war er so recht zufrieden. Während gebeterfüllt weiter gesucht wurde, erkundigte er sich nach einem Grundstück auf einem Hügel beim Flughafen. Es hieß aber, daß es nicht zum Verkauf stehe. Präsident Hinckley wollte das Grundstück trotzdem sehen. Dort empfing er vom Allmächtigen die Inspiration, daß dies der Platz für den Tempel sei. Und nun durften wir auf dem Grundstück stehen, das für diesen heiligen Zweck vom Herrn vorgesehen und dann erworben worden war. Unsere Freude war unbeschreiblich.

Der Prophet trifft täglich wichtige Entscheidungen. Das tut er mit großer Kompetenz. Er regt jeden von uns an, Entscheidungen zu treffen, die uns „in diesem Leben und im ewigen Leben in der kommenden Welt wachsen lassen und Freude bringen”.20

Dieser Präsident der Kirche beruft viele Menschen zum Dienen und weiß, daß von ihnen viel verlangt wird. Er weiß ganz genau, welchen Möglichkeiten und Risiken sie dabei ausgesetzt sind. „Ja, dieses Werk erfordert Opfer”, hat er gesagt. „Es erfordert Anstrengung. Es bedeutet, daß man den Mut hat, etwas auszusprechen, und den Glauben, etwas zu versuchen. … Es braucht Männer und Frauen mit ernsthaftem Wollen.”21 „Wir wissen, daß es bei dem, was Sie tun können, Grenzen gibt, aber wir wissen auch, daß Begeisterung, Planung, Überlegung und Anstrengung keine Grenzen zu haben brauchen.”22

Brüder und Schwestern, der Geist, der in jedem von uns wohnt, kann durch Begeisterung bereichert und durch den Allmächtigen erleuchtet werden. Der Vorgang des geistigen Wachstums wird in den heiligen Schriften offenbart: „Intelligenz hält fest an Intelligenz; Weisheit empfängt Weisheit; Wahrheit nimmt Wahrheit an … [und] Licht hält fest an Licht.”23 „Was von Gott ist, das ist Licht, und wer Licht empfängt und in Gott verbleibt, empfängt mehr Licht; und das Licht wird heller und heller bis zum vollkommenen Tag.”24

Dankbar folgen wir Propheten, die einen Auftrag von Gott haben: „Und was sie, bewegt vom Heiligen Geist, reden werden, soll heilige Schrift sein, soll der Wille des Herrn sein, soll der Sinn des Herrn sein, soll das Wort des Herrn sein, soll die Stimme des Herrn und die Kraft Gottes zur Errettung sein.”25

Wenn wir den Lehren der Propheten folgen, können wir unsere geistigen Fähigkeiten entfalten, indem wir jemandem wie Präsident Gordon B. Hinckley nacheifern. Ich danke Gott für diesen Propheten. Er ist der Gesalbte des Herrn. Ich folge ihm bereitwillig. Ich liebe ihn und unterstütze ihn. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Ijob 32:8. Das Wort Geist ist in diesem Vers von dem hebräischen Wort ruwach übersetzt worden, das Wind, Luft, Atem, Verstand oder Geist bedeutet. Das griechische Wort für Geist ist pneuma. Aus dieser Wurzel sind die Wörter Pneu (luftgefüllter Reifen), Pneumonie (Lungenentzündung) und pneumatisch abgeleitet. Pneuma bedeutet auch Luft, Atem, Verstand oder Geist. Es kommt im griechischen Neuen Testament 385mal vor.

  2. Vor vierundzwanzig Jahren fühlte Eider Gordon B. Hinckley sich veranlaßt, über seine Erlebnisse auf einer Auslandsreise mit Präsident Harold B. Lee zu sprechen. (Siehe Ensign, Januar 1974,124f.)

  3. USA, Panama, Nicaragua, Costa Rica, Honduras, El Salvador, Guatemala, Uruguay, Paraguay, Ekuador und Venezuela.

  4. Siehe Amos 3:7; LuB 68:4.

  5. LuB 4:6.

  6. Zu den vielen Geboten in den heiligen Schriften siehe 3 Nephi 27:27; Mormon 7:10.

  7. Johannes 13:15. Wenn wir ihn lieben, halten wir seine Gebote (siehe Exodus 20:6; Deuteronomium 5:10, Johannes 14:15; LuB 124:87).

  8. Sheri L. Dew, Go Forward With Faith: The Biography of Gordon B. Hinckley, 1996, 64.

  9. Siehe Jeremia 32:17; Lukas 1:37.

  10. Moroni 7:48.

  11. Siehe Richard G. Scott, Der Stern, Juli 1996, 24f.

  12. I.Petrus 2:9.

  13. Mose 6:5; siehe auch JST Genesis< 6:5.

  14. Der Stern, Juli 1995, 64.

  15. Siehe LuB 88:78.

  16. LuB 58:27.

  17. James E. Talmage, Artides of Faith, 1962, 167; siehe auch LuB 121:26.

  18. Das Wort Enthusiasmus kommt von den griechischen Wurzeln en, was in bedeutet, und theos, was Gott bedeutet. Also: Gott in uns.

  19. LuB 11:13; siehe auch LuB 124:88.

  20. ”Caesar, Gircus, or Christ?” BYU Speeches ofthe Year, 26. Oktober 1965, 8.

  21. Der Stern, Mai 1973,197.

  22. Bonneville International Management Seminar, 23. Februar 1992.

  23. LuB 88:40.

  24. LuB 50:24.

  25. LuB 68:4.