1990–1999
Der Zehnte - ein Vorzug
April 1998


Der Zehnte -

ein Vorzug

Sie und ich, wir gehören nun zu den Generationen, die das Gesetz des Zehnten kennen und danach leben dürfen. Die Segnungen, die uns zuteil werden, wenn wir dieses Gesetz befolgen, sind sowohl materieller als auch geistiger Natur.

Amerika befand sich mitten in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Ich war eins von mehreren kleinen Kindern in unserer Familie, und mein Vater war schon seit vielen Monaten arbeitslos. Wer arbeitslos war, bekam keine Unterstützung von der Regierung, und das Wohlfahrtsprogramm der Kirche war noch nicht eingerichtet. Die Not drückte uns überall. Manche hätten sagen können, wir seien bettelarm. Ich war zwar noch klein, aber ich spürte doch die Anspannung und Sorge meiner Eltern.

Jeden Morgen knieten wir gemeinsam nieder, und reihum sprach jeden Morgen einer von uns das Gebet. Eines denkwürdigen Morgens war Mutter an der Reihe. Sie schilderte etwas von dem, was wir brauchten, und dankte dem himmlischen Vater dann dafür, daß wir nach dem Gesetz des Zehnten leben durften. Unmittelbar darauf spürte ich große Zuversicht. Es war ein Vorzug, nach dem Gesetz des Zehnten leben zu dürfen, und damit waren Segnungen verknüpft. Daran zweifelte ich nicht, denn meine Mutter wußte es ja. Dieses Gefühl ist mir erhalten geblieben und hat sich im Laufe meines Lebens noch verstärkt.

Als ich das erste Mal den Zehnten zahlte, betrug die Summe fünf Cent. Zusammen mit meinem Vater ging ich ins Büro des Bischofs, der meine fünf Münzen feierlich entgegennahm und eine Quittung dafür ausstellte. Dann erhob er sich, trat hinter seinem Schreibtisch hervor und setzte sich neben mich. Nachdem er mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte, gab er mir ein kleines, aber doch höchst wichtiges Stück Papier und sagte: „Ronald, du hast einen guten Anfang gemacht, und wenn du so weitermachst wie jetzt, kannst du im Zehntenzahlen vollkommen werden.“ Bis dahin war es mir immer völlig unmöglich erschienen, in irgendeinem Bereich vollkommen zu werden. Ich hatte schon genug Mühe damit, ein lieber Junge zu sein. Aber der Bischof spornte mich mit seinen Worten an, in diesem Evangeliumsbereich nach Vollkommenheit zu streben. Und dafür bin ich überreich gesegnet worden ­ sowohl materiell als auch geistig.

Während der folgenden Jahre ist mein Zeugnis vom Zehnten oft bestätigt worden. Weil ich dieses Gesetz befolgte, durfte ich unter anderem zum heiligen Priestertum ordiniert werden, im Haus des Herrn die Begabung empfangen, eine Vollzeitmission erfüllen und für Zeit und Ewigkeit an meine Familie gesiegelt werden. Außerdem durfte ich immer wieder in den Tempel gehen, um anderen Menschen zu dienen und in dem unterwiesen zu werden, was für die Ewigkeit von Bedeutung ist.

Der Erretter hat nach seiner Auferstehung und während seines Wirkens bei den Menschen im heutigen Amerika deutlich gemacht, wie heilig und wichtig das Gesetz des Zehnten ist.

Im Buch Mormon ist verzeichnet, daß der Erretter die Nephiten aus den heiligen Schriften unterwies, die sie besaßen, und über weitere heilige Schriften sprach, die sie nicht besaßen. Dabei gebot er ihnen, das niederzuschreiben, was der Vater dem Propheten Maleachi eingegeben hatte, nämlich unter anderem folgendes:

„Darf denn der Mensch Gott berauben? Und doch habt ihr mich beraubt. Ihr aber sprecht: Woran haben wir dich beraubt? Am Zehnten und an den Opfergaben… .

Bringt aber den ganzen Zehnten in das Vorratshaus, damit Speise in meinem Hause sei; und prüft mich nun hiermit, spricht der Herr der Heerscharen, ob ich euch nicht die Fenster des Himmels öffnen und euch Segen herabschütten werde, daß nicht genug Raum sein wird, ihn aufzunehmen.“ (3 Nephi 24:8,10.)

Weiterhin hat Christus deutlich gemacht, wie wichtig dieses Gebot für uns ist, indem er den Nephiten sagte: „Diese Schriften, die ihr nicht gehabt habt, von denen hat mir der Vater geboten, daß ich sie euch geben soll; denn es war nach seiner Weisheit, daß sie den zukünftigen Generationen gegeben werden sollen.“ (3 Nephi 26:2.)

Sie und ich, wir gehören nun zu den Generationen, die das Gesetz des Zehnten kennen und danach leben dürfen. Die Segnungen, die uns zuteil werden, wenn wir dieses Gesetz befolgen, sind sowohl materieller als auch geistiger Natur, wie viele von den hier Anwesenden bezeugen können.

In diesen, den Letzten Tagen, hat der Herr gesagt: „Siehe, jetzt, bis des Menschen Sohn kommt, sagt man heutigen Tages’, also heute’; und wahrlich, es ist ein Tag des Opferns und ein Tag, daß mein Volk gezehntet werde.“ (LuB 64:23.)

Kann man es denn als Opfer ansehen, den Zehnten zu zahlen? Ja, wenn man sich die Bedeutung der beiden lateinischen Begriffe vor Augen hält, aus denen das englische Wort sacrifice (Opfer) abgeleitet ist. Diese beiden Begriffe (sacer und facere) bedeuten zusammen „heilig machen“. Das, was wir dem Herrn mit dem Zehnten zurückgeben, wird wirklich heilig gemacht, und wer gehorsam ist, wird erbaut.

Schon vor langer Zeit hat der Herr dem Mose erklärt, wie heilig der Zehnte ist. Wir lesen in Levitikus: „Jeder Zehnte des Landes … gehört dem Herrn; es ist etwas Heiliges für den Herrn.“ (Levitikus 27:30.)

Als meine Frau und ich jung verheiratet waren, nahte der Zeitpunkt, wo unser erstes Kind geboren werden sollte. Ich studierte tagsüber Jura und arbeitete abends in einer Tankstelle. Wir hatten sehr wenig Geld. Unsere kleine Kellerwohnung war mit ein paar alten Möbeln und vielen Holzkisten eingerichtet.

Kurz vor der Geburt hatten wir alles zusammen, was wir für das Kind brauchten. Was uns aber fehlte, war ein Kinderbett, und wir hatten auch kein Geld, eins zu kaufen.

Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, jeden Monat am Fastsonntag den Zehnten zu zahlen. Als dieser Tag herankam, überlegten wir, ob wir das Zahlen des Zehnten verschieben und mit dem Geld lieber erst einmal ein Bettchen anzahlen sollten. Aber im Geist des Fastens und nachdem wir gebetet hatten, beschlossen wir, den Zehnten zu zahlen und auf den Herrn zu vertrauen.

Nur wenige Tage später traf ich auf der Straße im Geschäftsviertel unser Stadt völlig unverhofft meinen ehemaligen Missionspräsidenten. Er fragte mich, ob ich studierte oder berufstätig sei. Beides, sagte ich.

Ob ich verheiratet sei? „Ja.“

Ob wir Kinder hätten? „Nein, aber unser erstes Kind soll in ein paar Wochen zur Welt kommen.“

„Haben Sie ein Bettchen für das Baby?“, fragte er. „Nein“, erwiderte ich zögernd, überrascht von seiner direkten Frage.

„Wenn das so ist“, sagte er. „Ich arbeite jetzt in der Möbelbranche, und es würde mir große Freude machen, Ihnen als Geschenk ein Babybett in die Wohnung liefern lassen zu dürfen.“

Da überkam mich große Erleichterung und Dankbarkeit, und mein Zeugnis wurde gestärkt.

Mit diesem Geschenk wurde ein materielles Bedürfnis gestillt, aber es ist auch ein bewegendes Erinnerungsstück an das geistige Erlebnis, das damit verbunden war und mir erneut bestätigte, daß das Gesetz des Zehnten ein Gebot mit einer Verheißung ist.

Die wirklich schwierigen Probleme im Leben erfordern in erster Linie gar nicht große zeitliche Mittel, sondern die Gaben des Geistes. Solche Probleme können sein: Krankheit, Leid, der Tod eines lieben Menschen, ein widerspenstiges und ungehorsames Kind, falsche Anschuldigungen und andere schwere Enttäuschungen. In solchen Prüfungen brauchen wir eher Glauben, Inspiration, Trost, Mut, Geduld und die Fähigkeit, zu vergeben. Diese Segnungen können aus den Schleusen des Himmels auf uns herabgeschüttet werden.

In diesem Zusammenhang muß ich an die guten, glaubenstreuen Menschen denken, die an das glaubten, was Alma der ältere lehrte, und in die Herde Gottes kamen. Im Buch Mormon wird berichtet, daß sie gehorsam und rechtschaffen waren (siehe Mosia 18). Aber obwohl sie gute Menschen waren, mußten sie durch die Hand ihrer Feinde große Drangsal erleiden. Als sie Gott ihr Herz ausschütteten, ließ er ihnen Worte des Trostes zuteil werden und versicherte ihnen, er werde sie in ihren Bedrängnissen besuchen (siehe Mosia 24:14).

Weiter heißt es: „Der Herr stärkte sie, so daß sie ihre Last mühelos tragen konnten, und sie unterwarfen sich frohgemut und mit Geduld in allem dem Willen des Herrn.“ (Mosia 24:15.)

Mögen auch wir so gestärkt werden und so gehorsam sein.

Auch wenn wir nach dem Gesetz des Zehnten leben, bleiben uns die Prüfungen und das Ungemach, die mit dem Leben hier auf der Erde verbunden sind, sicher nicht erspart. Aber wenn wir vor dem Herrn gut dastehen, können wir darauf vertrauen, daß wir in Ungemach mit Glauben, Kraft, Weisheit und Hilfe durch andere Menschen gesegnet werden, so daß wir die Probleme nicht nur überwinden, sondern aus der Erfahrung lernen und dadurch Fortschritt machen.

Präsident Gordon B. Hinckley, unser Prophet und Führer, hat gesagt: „Ich kann vom Gesetz des Zehnten und von den damit verbundenen Segnungen Zeugnis geben, denn ich habe sie erlebt. Und jeder Mann und jede Frau in dieser Kirche, die ehrlich den Zehnten zahlen und dem Herrn gegenüber ehrlich sind, können von diesem gottgegebenen Grundsatz Zeugnis ablegen.“ (Ensign, Juli 1996, 73.)

Als eins dieser Mitglieder der Kirche füge ich dem mein Zeugnis hinzu. Die Segnungen, die uns zuteil werden, wenn wir nach diesem Grundsatz leben, schenken uns inneren Frieden, mehr Glauben und Inspiration und den Wunsch, die Gebote des himmlischen Vaters noch vollständiger zu halten.

Zum Schluß gebe ich ein noch wichtigeres Zeugnis, nämlich daß ich weiß, daß Gott lebt, daß er unser Vater ist und daß er uns liebt. Jesus von Nazaret ist der Sohn Gottes und unser Erretter und Erlöser. Wir werden heute von einem lebenden Propheten geführt, nämlich Gordon B. Hinckley. Im Namen Jesu Christi, amen.