1990–1999
Denn ich war blind, und jetzt kann ich sehen
April 1999


Denn ich war blind, und jetzt kann ich sehen

Wenn wir anderen Licht geben wollen, müssen wir selbst leuchten.

Als Jesus unter den Menschen weilte und lehrte, sprach er eine leichtverständliche Sprache. Ob er nun die staubige Straße von Peräa nach Jerusalem entlang zog, zu der am Ufer des Sees von Galiläa versammelten Menschenmenge sprach oder am Jakobsbrunnen in Samarien Rast machte ­ er lehrte in Gleichnissen. Jesus sprach oft vom Herz, das erkennen und fühlen kann, von den Ohren, die hören, und von den Augen, die wahrhaftig sehen können.

Einer, der nicht mit der Gabe des Sehens gesegnet war, war der Blinde, der tagaus, tagein immer am selben Fleck eines belebten Bürgersteigs in einer großen Stadt saß, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. In der einen Hand hatte er einen alten Filzhut voller Bleistifte. Mit der anderen Hand hielt er eine Blechtasse. Sein einfacher Appell an die Vorübergehenden war kurz und sachlich. Es klang endgültig, fast verzweifelt. Die Botschaft stand auf dem kleinen Pappschild, das ihm um den Hals hing. Sie lautete: “Ich bin blind.”

Die meisten Passanten blieben nicht stehen, um einen Bleistift zu kaufen oder eine Münze in die Blechtasse zu werfen. Sie hatten es zu eilig und waren zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Die Blechtasse war noch nie voll geworden, nicht einmal halb voll. Dann, an einem wunderschönen Frühlingstag, blieb ein Mann stehen und schrieb mit einem dicken Stift noch etwas auf das schäbige Schild. Da stand nun nicht mehr: “Ich bin blind”, sondern: “Es ist Frühling, und ich bin blind.” Bald war die Tasse bis zum Rand gefüllt. Vielleicht rührte etwas wie Charles L. O’Donnels Ausruf “Es gelingt mir einfach nicht, meine Augen zu wappnen gegen das erste blaue Frühlingslicht!” die vorbeieilenden Passanten. Allerdings war das Geld nur ein schwacher Ersatz für den Wunsch, ihm das Augenlicht schenken zu können.

Wir alle kennen Menschen, die nicht sehen können. Wir kennen auch viele andere, die zwar sehen können, die aber am hellen Mittag in Finsternis wandeln. Letztere haben wohl nie einen Blindenstock bei sich, um sich anhand des vertrauten “tapp, tapp, tapp” voran zu tasten. Sie haben wohl auch keinen treuen Blindenhund bei sich und tragen kein Schild mit der Aufschrift “Ich bin blind” um den Hals. Und doch sind sie blind ­ blind vor Zorn oder blind vor Gleichgültigkeit, vor Rachgier, vor Haß, vor Vorurteilen, vor Unwissenheit, vor versäumten kostbaren Gelegenheiten. über sie sagt der Herr: “Mit ihren Ohren hören sie nur schwer, und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile.”1

Sie könnten wohl ausrufen: “Es ist Frühling, das Evangelium Jesu Christi ist wiederhergestellt worden, und doch bin ich blind!” Manche fragen wie der Freund des Philippus: “Wie könnte ich [den Weg finden], wenn mich niemand anleitet?”2

Vor vielen Jahren, als ich eine Pfahlkonferenz besuchte, bemerkte ich, daß ein Ratgeber in der Pfahlpräsidentschaft blind war. Er übte sein Amt großartig aus und erfüllte seine Aufgaben, als ob er sehen könnte. Es war ein stürmischer Abend, als wir im Pfahlbüro, das sich im zweiten Stock des Gebäudes befand, zusammenkamen. Plötzlich donnerte es gewaltig. Unmittelbar darauf verlöschte das Licht im Gebäude. Instinktiv streckte ich die Hand nach dem blinden Bruder aus und sagte: “Hier, halten Sie sich an meinem Arm fest; ich helfe Ihnen die Treppe hinunter.”

Ich bin sicher, daß er ein Lächeln auf dem Gesicht hatte, als er antwortete: “Nein, Bruder Monson, hängen Sie sich bei mir ein, damit ich Ihnen helfen kann. Sie befinden sich hier auf meinem Territorium.”

Der Sturm legte sich, das Licht ging wieder an, aber ich werde nie vergessen, wie ich jene Treppe vorsichtig hinabstieg, geführt von einem Mann, der nicht sehen konnte und doch von Licht erfüllt war.

Vor langer Zeit an einem weit entfernten Ort sah Jesus unterwegs einen Mann, der von Geburt an blind war. Die Jünger fragten den Meister, warum der Mann blind war. Hatte er gesündigt, oder hatten seine Eltern gesündigt, so daß er blind geboren wurde?

“Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden… .

Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen

und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! … Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen.”3

Unter den Pharisäern entstand wegen dieses Wunders ein heftiger Streit.

“Da riefen die Pharisäer den Mann, der blind gewesen war, zum zweitenmal und sagten zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, daß dieser Mensch [Jesus] ein Sünder ist.

Er antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehen kann.”4

Denken wir an den Fischer namens Simon, uns allen besser bekannt als Petrus, der oberste der Apostel. Der zweifelnde, ungläubige, ungestüme Petrus verleugnete den Herrn, in Erfüllung der Prophezeiung, tatsächlich dreimal. Inmitten der Stöße, des Spotts und der Schläge “wandte sich der Herr um ­ ungeachtet der Qual seiner Demütigung und mit majestätischem Schweigen ­ und blickte Petrus an.”5 Der Wandel wird so geschildert: “Es war genug. Petrus kannte keine Gefahr mehr, er fürchtete den Tod nicht mehr. Er eilte in die Nacht hinaus, um der Morgendämmerung zu begegnen. Bußfertig und mit reuigem Herzen stand er vor dem Richterstuhl seines eigenen Gewissens, und dort wurde sein altes Leben, seine alte Scham, seine alte Schwäche, sein altes Selbst zu jenem Tod der gottgewollten Traurigkeit verurteilt, der zu einer neuen und edleren Geburt führen sollte.”6

Der Apostel Paulus erlebte etwas ähnliches wie Petrus. Vom Tag seiner Bekehrung bis zu seinem Tod forderte er die Menschen eindringlich auf: “Legt den alten Menschen ab … Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.”7

Simon der Fischer wurde zu Petrus dem Apostel. Saulus der Verfolger wurde zu Paulus dem Verkünder.

Der Lauf der Zeit hat nichts an der Fähigkeit des Erlösers geändert, das Leben eines Menschen zu ändern. Wie er dem toten Lazarus gesagt hat, sagt er auch Ihnen und mir: “Komm heraus!”8

Präsident Harold B. Lee sagte: “Jeder Mensch, der auf der Erde lebt, wird, wo auch immer er lebt, in welchem Land er auch geboren wird, unabhängig davon, ob er in Reichtum oder in Armut geboren wird, bei der Geburt mit jenem ersten Licht ausgestattet, das das Licht Christi, der Geist der Wahrheit oder der Geist Gottes genannt wird ­ jenes universelle Licht der Intelligenz, mit dem jeder Mensch gesegnet ist. Moroni sprach von diesem Geist, als er sagte:

Denn siehe, jedem Menschen ist der Geist Christi gegeben, damit er Gut von Böse unterscheiden könne; darum zeige ich euch, wie ihr urteilen sollt; denn alles, was einlädt, Gutes zu tun, und dazu bewegt, daß man an Christus glaubt, geht von der Macht und Gabe Christi aus; darum könnt ihr mit vollkommenem Wissen wissen, daß es von Gott ist.’”9

Wir alle kennen Menschen, die nach dieser Definition für die Segnungen des Erretters würdig sind.

So jemand war Walter Stover aus Salt Lake City. In Deutschland geboren, nahm Walter die Evangeliumsbotschaft bereitwillig an und kam nach Amerika. Er gründete ein eigenes Geschäft. Er gab großzügig von seiner Zeit und seinen Mitteln.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Walter Stover berufen, in sein Heimatland zurückzukehren. Er leitete die Kirche in diesem Land und war ein großer Segen für alle, denen er begegnete und mit denen er diente. Aus eigenen Mitteln baute er zwei Gemeindehäuser in Berlin ­ dieser schönen Stadt, die vom Krieg so verwüstet worden war. Er plante eine Zusammenkunft in Dresden für alle Mitglieder der Kirche aus dem ganzen Land und mietete einen Zug, um sie aus dem ganzen Land herzubringen, damit sie zusammenkommen und am Abendmahl teilnehmen konnten und damit er ihnen von der Güte Gottes Zeugnis geben konnte.

Auf der Beerdigung von Walter Stover sagte sein Schwiegersohn Thomas C. LeDuc über ihn: “Er hatte die Fähigkeit, in jedem Gesicht, das ihm begegnete, Christus zu sehen, und er handelte danach.”

Der Dichter schreibt:

Ein Fremder begegnete mir in der Nacht,

seine Lampe war erloschen;

da hielt ich inne, gab ihm Licht;

so wurde seines neu entfacht.

Ein Sturm erhob sich kurz darauf

und schüttelte die Welt;

und als der Wind sich legte,

war meine Lampe aus.

Zurück kam jedoch der fremde Mann ­

mit strahlend hellem Licht.

Er hielt die kostbare Flamme

und zündete meine wieder an.10

Die Moral dieses Gedichts ist vielleicht einfach die: Wenn wir anderen Licht geben wollen, müssen wir selbst leuchten.

Als der Prophet Joseph Smith in jenen Wald ging, der durch das, was sich dort ereignete, geheiligt wurde, beschrieb er das Erlebnis folgendermaßen: “Es war an einem strahlend schönen Morgen in den ersten Frühlingstagen des Jahres 1820. Zum erstenmal in meinem Leben unternahm ich so einen Versuch, denn bei all meiner Unruhe hatte ich doch noch nie versucht, laut zu beten.”11

Er überstand ein schreckliches Erlebnis mit einer unsichtbaren Macht und erlebte anschließend folgendes:

“Ich [sah] gerade über meinem Haupt eine Säule aus Licht, heller als die Sonne, allmählich herabkommen, bis es auf mich fiel… . Als das Licht auf mir ruhte, sah ich zwei Gestalten von unbeschreiblicher Helle und Herrlichkeit über mir in der Luft stehen. Eine von ihnen redete mich an, nannte mich beim Namen und sagte, dabei auf die andere deutend: Dies ist mein geliebter Sohn. Ihn höre!”12

Joseph hörte zu. Joseph lernte.

Gelegentlich werde ich gefragt: “Bruder Monson, wenn Ihnen der Erretter erscheinen würde, was würden Sie ihn dann fragen?”

Meine Antwort lautet immer gleich: “Ich würde ihn nichts fragen, sondern ihm zuhören!”

Spät am Abend auf einer Pazifischen Insel glitt ein kleines Boot leise zu seinem Ankerplatz an dem rauhen Landungssteg. Zwei polynesische Frauen halfen Meli Mulipola aus dem Boot und führten ihn zu dem ausgetretenen Pfad, der zur Dorfstraße führte. Die Frauen bestaunten die hellen Sterne, die am mitternächtlichen Himmel funkelten. Das freundliche Mondlicht begleitete sie auf ihrem Weg. Doch Meli Mulipola konnte diesen schönen Anblick ­ den Mond, die Sterne, den Himmel ­ nicht würdigen, denn er war blind.

Er hatte ganz normal sehen können bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem, während er auf einer Ananasplantage arbeitete, das Licht sich plötzlich in Finsternis verwandelte und aus dem Tag immerwährende Nacht wurde. Er hatte von der Wiederherstellung des Evangeliums und der Lehre der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage erfahren und hatte sein Leben mit diesen Lehren in Einklang gebracht.

Er und seine Lieben hatten diese lange Reise unternommen, weil sie gehört hatten, daß jemand, der das Priestertum Gottes trug, die Inseln besuchte. Er bat darum, durch die Hände derer, die das heilige Priestertum trugen, einen Segen zu bekommen. Sein Wunsch wurde erfüllt. Tränen strömten aus seinen blinden Augen, rollten über seine braunen Wangen und tropften schließlich auf sein Gewand. Er fiel auf die Knie und betete: “O Gott, du weißt, daß ich blind bin. Deine Diener haben mich gesegnet und gesagt, daß ich meine Sehkraft wiedererlangen kann, wenn es dein Wille ist. Ob ich in deiner Weisheit Licht sehen werde oder ob ich alle Tage meines Lebens Finsternis sehen werde ­ ich werde dir doch auf ewig dankbar sein für die Wahrheit deines Evangeliums, die ich nun sehen kann und die mir das Licht des Lebens schenkt.”

Er stand auf, dankte uns für den Segen und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Leise war er gekommen; leise verließ er uns wieder. Aber ich werde seine Gegenwart nie vergessen. Ich mußte an die Worte des Meisters denken: “Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.”13

Heute ist der Tag des Tempelbaus. Nie zuvor sind so viele Tempel errichtet und geweiht worden. Präsident Gordon B. Hinckley, Gottes Prophet auf der Erde, hat eine Vision von den bedeutenden heiligen Handlungen, die in einem solchen Haus des Herrn vollzogen werden. Die Tempel sind ein Segen für alle, die sie besuchen und für ihre Fertigstellung Opfer bringen. Das Licht Christi wird ihnen leuchten ­ selbst denen, die dieses Leben bereits verlassen haben. Präsident Joseph F. Smith sprach über die Arbeit für die Verstorbenen und sagte: “Durch unsere Bemühungen um sie werden die Ketten ihrer Knechtschaft abfallen, und die Finsternis rund um sie wird sich erhellen, so daß Licht auf sie fallen kann und sie in der Geisterwelt von der Arbeit hören, die hier von ihren Kindern verrichtet wird, und daß sie sich mit uns an dieser Pflichterfüllung freuen.”14

Der Apostel Paulus mahnte: “Sei den Gläubigen ein Vorbild.”15 Und Jakobus sagte: “Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst.”16

Ich schließe mit den Worten der Dichterin Minnie Louise Haskins, die schrieb:

Ich bat den Wächter, der am Jahrestor stand:

“Gib mir ein Licht, damit ich sicher

ins Ungewisse schreiten kann.”

Er aber antwortete:

“Geh hinaus in die Finsternis,

und leg deine Hand in Gottes Hand.

Das ist besser für dich als jedes Licht und

sicherer als jeder dir bekannte Weg.”

Also schritt ich weiter, fand die Hand Gottes

und ging glücklich in die Nacht hinaus;

Und er führte mich zu den Hügeln und

zur Morgendämmerung im einsamen Osten.17

Möge unser Licht an diesem Ostermorgen, an diesem Sabbat, so leuchten, daß wir unseren himmlischen Vater und seinen Sohn Jesus Christus verherrlichen, dessen Name der einzige Name unter dem Himmel ist, durch den uns Errettung zuteil werden kann.

Daß wir immer in den Fußstapfen von Jesus Christus wandeln mögen, ist mein demütiges Gebet. In seinem heiligen Namen, amen.

  1. Matthäus 13:15.

  2. Apostelgeschichte 8:31.

  3. Johannes 9:3, 5­7.

  4. Johannes 9:24,25.

  5. Frederic W. Farrar, The Life of Christ (1874), 580; Lukas 22:61.

  6. Farrar, The Life of Christ, 581.

  7. Epheser 4:22,24.

  8. Johannes 11:43.

  9. Harold B. Lee, Stand Ye in Holy Places (1974), 115.

  10. Verfasser unbekannt.

  11. JSLg 1:14.

  12. JSLg 1:16,17.

  13. Johannes 8:12.

  14. In Conference Report, Oktober 1916, 6.

  15. 1 Timotheus 4:12.

  16. Jakobus 1:22.

  17. Aus “The Gate of the Year”, in James Dalton Morrison, Hg., Masterpieces of Religious Verse (1948), 92.