2000–2009
Mehr Heiligkeit gib mir
Oktober 2004


Mehr Heiligkeit gib mir

Es ist für Familien und für jeden Einzelnen wichtig, sich aktiv mehr Tugenden anzueignen, die über das Erdenleben hinausreichen.

Meine Frau und ich hatten vor unserer Eheschließung eine Unterredung mit Elder Richards’ Vater. Wir wissen, wovon Elder Richards in dieser Konferenzversammlung gesprochen hat.

Kürzlich kam bei einer Pfahlkonferenz am Ende eine junge Frau auf mich zu. Sie gab mir die Hand und sagte: „Bischof, Sie könnten Ihre Ansprachen bei der Generalkonferenz noch verbessern, wenn Sie lächeln würden.“ Ich wollte ihr etwas über Angst und Lächeln erzählen, aber ich hatte nicht die Zeit dazu. Aber ich versuche es und hoffe das Beste.

Immer wenn eine Generalkonferenz ihrem Ende zugeht, verspüre ich ein Verlangen nach mehr – mehr von der damit verbundenen Ruhe, mehr von der Gesellschaft des Geistes, mehr von dem Aufbauenden, was meine Seele erhellt und ihr gut tut.

Nach landläufiger Ansicht ist „mehr“ das Bessere und „weniger“ in der Regel unerwünscht. Für manche ist das Streben nach mehr weltlichen Gütern und Dienstleistungen der ganze Lebensinhalt geworden. Andere brauchen mehr weltlichen Wohlstand schlichtweg, um am Leben zu bleiben oder den Lebensstandard auf ein Mindestmaß zu erhöhen. Das maßlose Verlangen nach mehr hat oft negative Folgen. Beispielsweise wies uns Präsident Boyd K. Packer darauf hin, dass wir „wie der Vater sein [könnten], der entschlossen ist, seine Familie mit allem zu versorgen. Seine ganze Energie wendet er dafür auf und hat Erfolg; erst dann entdeckt er, dass er das, was sie am meisten brauchen – nämlich als Familie zusammen zu sein –, am meisten vernachlässigt hat. Und er erntet Kummer statt Zufriedenheit.“ („Eltern in Zion“, Der Stern, Januar 1999, Seite 25.)

Eltern, die erfolgreich mehr und mehr angehäuft haben, fällt es oft schwer, die Ansprüche maßlos verwöhnter Kinder zurückzuweisen. Ihre Kinder laufen daher Gefahr, nichts über wichtige Werte wie harte Arbeit, langfristigen Erfolg, Ehrlichkeit und Mitgefühl zu lernen. Zwar können auch wohlhabende Eltern gut erzogene, liebevolle und wertorientierte Kinder hervorbringen und sie tun es auch, aber die Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen, mit weniger auszukommen und der Gefahr zu begegnen, immer mehr zu wollen, waren nie so groß. Es ist schwer, zu noch mehr Nein zu sagen, wenn man es sich leisten kann, Ja zu sagen.

Viele Eltern machen sich zu Recht Sorgen um die Zukunft. Es ist schwer, zu mehr Sportausrüstung, Elektronik, Unterrichtsstunden, Kleidung, Vereinsaktivitäten usw. Nein zu sagen, wenn die Eltern glauben, mit mehr davon käme ihr Kind in einer immer stärker wettbewerbsorientierten Welt besser voran. Die jungen Leute scheinen zum Teil auch deshalb mehr zu wollen, weil ihnen unendlich mehr ins Auge fällt. Nach Schätzungen der amerikanischen Akademie für Pädiatrie sieht ein amerikanisches Kind im Jahr über 40 000 Werbespots.

Immer weniger Eltern bitten ihr Kind, im Haushalt mitzuhelfen, weil sie glauben, es sei mit dem Druck im sozialen Umfeld und in der Schule bereits überfordert. Ist ein Kind aber jeder Pflicht entbunden, lernt es womöglich nie, dass jeder sich nützlich machen kann und dass das Leben einen Sinn hat, der über sein persönliches Glück hinausgeht.

In ihrem Buch My Grandfather’s Blessings erzählt Dr. Rachel Remen, wie sie sich mit einem Ehepaar und dessen kleinem Sohn Kenny anfreundete. Wenn sie zu Besuch war, setzte sie sich mit Kenny auf den Fußboden und dann spielten sie mit seinen beiden Spielzeugautos. Manchmal bekam sie das Auto ohne Kotflügel und er das, bei dem eine Tür fehlte, und manchmal war es umgekehrt. Er liebte diese Autos!

Als es dann bei einer Tankstellenkette bei jedem Volltanken ein Spielzeugauto gab, schärfte sie ihren Kollegen im Krankenhaus ein, dort zu tanken und die Autos zu sammeln. Als sie alle Modelle beisammen hatte, steckte sie sie in eine große Schachtel, die sie Kenny mitbrachte. Sie hoffte nur, seine Eltern, die recht bescheiden lebten, wären nicht beleidigt. Aufgeregt machte Kenny die große Schachtel auf und holte ein Auto nach dem anderen heraus. Sie bedeckten die Fensterbänke und breiteten sich sogar auf dem Fußboden aus. Was für eine Sammlung! Als Rachel dann wieder einmal dort war, fiel ihr auf, dass Kenny immer nur aus dem Fenster starrte. Als sie Kenny fragte: „Was ist denn los? Magst du deine neuen Autos nicht?“, blickte er beschämt zu Boden. „Es tut mir Leid, Rachel. Ich glaube, ich weiß einfach nicht, wie man so viele Spielzeugautos gern haben kann.“ (Siehe „Owning“, 2000, Seite 60f.)

Wir alle haben Kinder, nachdem sie viele Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke aufgemacht hatten, schon sagen hören: „Ist das alles?“ Ungeachtet der Schwierigkeiten, vor denen diese Generation, die immer mehr will, steht, hat Gott uns den Rat erteilt, unseren Kindern beizubringen, „die Lehre von der Umkehr, vom Glauben an Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, und von der Taufe und der Gabe des Heiligen Geistes … zu verstehen, … zu beten und untadelig vor dem Herrn zu wandeln [und] … den Sabbattag [zu] beachten, dass sie ihn heilig halten.“ (LuB 68:25,28-29.)

Die Bedeutung von mehr und weniger ist nicht immer völlig klar. Es kommt vor, dass weniger eigentlich mehr ist und dass mehr eher weniger ist. Beispielsweise kann weniger Materialismus die Familie eher zusammenführen. Mehr Nachgiebigkeit gegenüber einem Kind kann dazu führen, dass es weniger begreift, worauf es im Leben ankommt.

Einige Lebensbereiche profitieren jedoch deutlich von der Ansicht, dass mehr besser ist. Das Kirchenlied „Mehr Heiligkeit gib mir“ (Gesangbuch, Nr. 79) führt uns Tugenden vor Augen, denen wir mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Jesus selbst beschrieb, was dazugehört, mehr wie er, der Erretter, zu sein. Er sagte: „Darum möchte ich, dass ihr vollkommen seiet, so wie ich oder euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist.“ (3 Nephi 12:48.)

Sanftmut ist eine grundlegende Tugend, wenn man Christus ähnlicher werden will. Ohne sie kann man andere wichtige Tugenden nicht entwickeln. Mormon sagte: „Niemand ist vor Gott annehmbar als nur die Sanftmütigen und die von Herzen Demütigen.“ (Moroni 7:44.) Sanftmut zu entwickeln ist ein Vorgang. Wir sind aufgefordert, täglich unser Kreuz auf uns zu nehmen (siehe Lukas 9:23). Dieses Aufnehmen darf keine sporadische Übung sein. Mehr Sanftmut bedeutet nicht Schwäche, vielmehr „nimmt man durch sie eine gütige und freundliche Haltung an. Sie spiegelt Gewissheit, Stärke und Gelassenheit wider, ebenso ein gesundes Selbstwertgefühl und wahre Selbstbeherrschung.“ (Neal A. Maxwell, „Meekly Drenched in Destiny“, Brigham Young University 1982–83 Fireside and Devotional Speeches, 1983, Seite 2.) Mehr Sanftmut ermöglicht uns, vom Geist geschult zu werden.

Die in dem Lied „Mehr Heiligkeit gib mir“ genannten Tugenden kann man in mehrere Gruppen gliedern. Einige bezeichnen persönliche Ziele, wie mehr Heiligkeit, mehr innere Freude, mehr Glauben, Dankbarkeit, Lauterkeit, Würdigkeit für das Reich, sinnvollere Gebete und mehr Gottvertrauen. Bei anderen geht es um Widerstände. Dazu gehören Dulden im Leid, Demut in Prüfung, Glauben in Not, Kraft, Freiheit von Sünde und göttlich Verstehn. Die übrigen binden uns fest an den Erlöser: mehr Glauben an Jesus, mehr Stolz auf sein Werk, mehr Hoffnung und Liebe, mehr Freude im Dienen, mehr Schmerz für sein Leiden und mehr für seinen Tod, mehr heilend und segnend, mehr, Heiland, wie du. Bei diesen Tugenden ist mehr besser. Weniger ist nicht wünschenswert.

So mancher erfährt Freude im Dienen, wenn er das Evangelium Jesu Christi und seine Wiederherstellung verkündet und vom Erretter, seinem Leben und Wirken und seinem Sühnopfer Zeugnis gibt.

Ein Distriktsleiter der Missionare wunderte sich einmal, warum Elder Parker, dessen Mission bald zu Ende ging, erfolgreich war, obwohl er nicht in der Lage war, sich die Lektionen zu merken. Um sich ein Bild zu machen, begleitete er Elder Parker zu einer Belehrung. Elder Parkers Vortrag wirkte so verworren, dass der Distriktsleiter gegen Ende der eigentlichen Lektion ganz durcheinander war und annahm, der Familie ginge es ebenso.

Da „beugte Elder Parker sich vor und legte dem Vater der Familie seine Hand auf den Arm. Er blickte ihm direkt in die Augen, sagte ihm, wie lieb er ihn und seine Familie hatte, und gab so demütig und machtvoll Zeugnis, wie es der Distriktsleiter kaum jemals zuvor gehört hatte. Als er damit fertig war, liefen allen Mitgliedern der Familie, auch dem Vater und den beiden Missionaren, Tränen über die Wangen. Dann zeigte Elder Parker dem Vater, wie man betet, und alle knieten sich nieder und der Vater betete darum, dass jeder für sich ein Zeugnis empfangen möge, und er dankte dem Himmlischen Vater für die übergroße Liebe, die er verspürte. Zwei Wochen später ließ sich die ganze Familie taufen.“

Später entschuldigte sich Elder Parker bei dem Distriktsleiter dafür, dass er die Lektionen nicht beherrschte. Er sagte, er könne sie sich einfach nicht merken, obwohl er täglich stundenlang daran arbeite. Bevor er eine Familie unterweise, bete er zum Himmlischen Vater auf den Knien um einen Segen, dass die Menschen seine Liebe und den Geist spüren mögen, wenn er Zeugnis gibt, und dass sie wissen mögen, dass er die Wahrheit sagt. (Siehe Allan K. Burgess und Max H. Molgard, „That Is the Worst Lesson I’ve Ever Heard!“, Sunshine for the Latter-day Saint Soul, 1998, Seite 181ff.)

Was können wir aus dieser einfachen Geschichte lernen? Glauben Sie, Elder Parker spürte, dass er sich mehr anstrengen musste, die Lektionen zu lernen? Kann es sein, dass er erkannt hatte, dass er mehr Zweck im Gebet an den Tag legen musste? Meinen Sie, er bat in seinen Gebeten immer wieder um mehr Kraft? Könnte die fehlende Merkfähigkeit ihn geduldig im Leiden und sanftmütig gemacht haben? Bewies er großen Glauben an den Erlöser und Gottvertrauen? Das ganz gewiss!

In den vergangenen sieben Wochen sind vier schlimme Hurricanes über die Küste Floridas und den Golf von Mexiko hinweggefegt. Die meisten Länder in der Karibik sind schwer verwüstet worden. Lebensmittel, Kleidung und ein Dach über dem Kopf sind Mangelware. Die Straßen und Wege sind mit großen Mengen Schutt verstopft. Die Infrastruktur vor Ort wurde zerstört oder ist reparaturbedürftig.

Letzte Woche war ich in Tallahassee in Florida und bekam viel Dank und Lob für die Hilfe, die die Kirche bei diesen Katastrophen geleistet hat. Der Gouverneur von Florida, Bush, Vizegouverneurin Toni Jennings, Partner wie das Rote Kreuz und die Heilsarmee sowie nationale und bundesstaatliche Hilfskräfte haben ihren Dank zum Ausdruck gebracht, den ich hiermit an Sie, die bei den Aufräumarbeiten mitgeholfen oder sich am humanitären Fonds der Kirche beteiligt haben, weiterleite. Vielen Dank! Ich bin sicher, Sie haben mehr Freude im Dienen verspürt.

Wie andernorts an den vorangegangenen Wochenenden kamen letztes Wochenende über zweitausend freiwillige Helfer aus dem gesamten Südosten der USA in Pensacola in Florida zusammen, um die Folgen des Hurricanes Ivan zu beseitigen. In unseren Gemeindehäusern, in anderen Kirchen und bei den Mitgliedern zu Hause rollten sie auf dem Fußboden ihren Schlafsack aus. Sie hatten von tausenden Anfragen erfahren und kamen, um dort zu helfen, wo sie gebraucht wurden. Die Missionare beteiligten sich, indem sie das Dach der Methodistischen Kirche am Ort mit den allgegenwärtigen blauen Abdeckplanen verkleideten. Die Ersthelfer, die Feuerwehrleute und die Polizisten, waren dankbar, dass Mitglieder der Kirche sich um ihre Familien kümmerten, solange sie selbst im Einsatz waren.

Das geschah zu der Zeit, als Hurricane Jeanne sich der Küste näherte, nachdem er in Haïti und anderswo in der Karibik viel Unheil angerichtet hatte. Vielen Dank noch einmal an diejenigen, die von ihren Mitteln geben, und an diejenigen, die tatkräftig so vielen ihre Last erleichtert haben. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Wunsch, mehr heilend und segnend und mehr wie der Erretter zu sein. An diesem Wochenende kümmern sich 2500 Helfer um das, was Hurricane Jeanne angerichtet hat.

Was unser Verlangen nach mehr hier und mehr dort betrifft, möchte ich nicht den Geizkragen aus der Weihnachtsgeschichte als Vorbild für gute Eltern hinstellen. Ich meine jedoch, dass es für Familien und für jeden Einzelnen wichtig ist, sich aktiv mehr Tugenden anzueignen, die über das Erdenleben hinausreichen. Um mit dem Leben in einer Überflussgesellschaft gut zurechtzukommen und die Eigenschaften zu entwickeln, die entstehen, wenn man wartet, teilt, spart, hart arbeitet und mit dem auskommt, was man hat, muss man vor allem gebeterfüllt und behutsam vorgehen. Mögen wir mit dem Wunsch und der Fähigkeit gesegnet werden, dass wir erkennen, wann mehr eigentlich weniger ist und wann mehr tatsächlich besser ist. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.