2000–2009
Welchen Standpunkt beziehe ich?
Oktober 2004


Welchen Standpunkt beziehe ich?

Um Glück und Freude zu finden, was auch immer auf uns zukommen mag, müssen wir eindeutig Stellung für den Herrn beziehen.

Liebe Brüder und Schwestern und Freunde, wie Präsident Hinckley einmal gesagt hat, enthalten die „goldenen Jahre“ eher Blei als Gold! Deshalb muss ich heute sitzen, wenn ich zu Ihnen spreche. Ich erhole mich von einem Bandscheibenvorfall, bei dem ein Nerv am Rücken eingeklemmt wurde. Wie man mir sagte, werde ich bald wieder völlig genesen.

Ich möchte meinen tiefen Dank für all das Gute zum Ausdruck bringen, was die Welt den Diensten unserer verstorbenen Brüder, Elder Neal A. Maxwell und Elder David B. Haight vom Kollegium der Zwölf Apostel, zuzuschreiben hat. Wir haben einen schweren Verlust erlitten. Wir begrüßen Bruder Uchtdorf und Bruder Bednar, Männer voller Kraft und Glauben, im Kollegium der Zwölf Apostel.

Ich bete heute Morgen demütig darum, dass man mich versteht und nicht missversteht. Um in einer zunehmend ungerechten Welt zu überleben und sogar Glück und Freude zu finden, was auch immer auf uns zukommen mag, müssen wir eindeutig Stellung für den Herrn beziehen. Wir müssen versuchen, jeden Tag und jede Stunde treu zu sein, sodass die Grundlage unseres Vertrauens in den Herrn niemals erschüttert werden kann. Denjenigen, die sich vielleicht Gedanken über die scheinbar ungerechte Verteilung von Schmerz, Leid, Unheil und Kummer in diesem Leben machen, möchte ich mit meiner Botschaft Hoffnung schenken und Rat erteilen. Einige fragen sich vielleicht:

„Warum bin ich mit körperlichen oder geistigen Behinderungen geboren worden?“

„Womit habe ich diesen Kummer verdient?“

„Warum musste mein Vater nach diesem schrecklichen Schlaganfall, durch den er gelähmt wurde, so viel leiden? Er war ein so rechtschaffener Mann und immer gewissenhaft und treu gegenüber dem Herrn und seiner Kirche.“

„Warum musste ich meine Mutter zweimal verlieren – einmal durch die verheerenden Folgen von Alzheimer und dann durch ihren Tod? Sie war doch wie ein Engel.“

„Warum hat der Herr unsere kleine Tochter sterben lassen? Sie war uns so kostbar und wir haben sie sehr geliebt.“

„Warum hat der Herr unsere Gebete nicht so beantwortet, wie wir es uns gewünscht haben?“

„Das Leben ist ungerecht. Wir kennen einige, die etwas sehr Schlimmes getan haben. Dennoch scheinen sie alles zu haben, was sie möchten oder brauchen.“

Dr. Arthur Wentworth Hewitt nannte einige Gründe, warum die Guten genauso leiden wie die Schlechten: „Erstens: Ich weiß es nicht. Zweitens: Wir sind vielleicht nicht so unschuldig, wie wir glauben. Drittens glaube ich, es ist so, weil ihm an uns viel mehr liegt als an unserem Glücklichsein. Wie das? Bekämen wir in diesem Leben immer gleich das zurück, was wir verdient haben, wären die Guten immer glücklich und die Schlechten erlitten immer Unheil (wo es doch oft genau andersherum ist). Raffinierter könnte der Charakter wohl kaum ruiniert werden.“1

Von Präsident Kimball stammt diese aufschlussreiche Erklärung:

„Wenn Schmerz und Kummer und eine umfassende Strafe der schlechten Tat auf dem Fuße folgten, würde keine Menschenseele noch eine Missetat begehen. Wenn der Wohltäter umgehend Freude, Frieden und seinen Lohn erhielte, könnte nichts Böses geschehen – alle täten Gutes, aber nicht, weil es recht ist, Gutes zu tun. Die Stärke würde nicht erprobt, der Charakter nicht entwickelt, die Kraft würde nicht zunehmen, es gäbe keine Entscheidungsfreiheit. … Außerdem gäbe es weder Freude, Erfolg, Auferstehung, ewiges Leben, noch eine Gottheit.“2

Unsere Liebe zu Gott muss rein sein, ohne eigennützige Absichten. Unsere Hinwendung zum Herrn muss auf reiner Christusliebe beruhen.

All das Leid wäre in der Tat ungerecht, wenn alles mit dem Tod zu Ende wäre. So ist es aber nicht. Das Leben ist kein Einakter. Es besteht aus drei Akten. Der erste Akt fand im vorirdischen Dasein statt; der Akt, den wir jetzt erleben, ist das irdische Dasein, und dann gibt es noch einen Akt, wenn wir zu Gott zurückkehren.3 Jesus hat verheißen: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“4 Wir wurden auf die Erde gesandt, um geprüft und versucht zu werden. Der Herr erklärte Abraham: „Wir wollen sie hierdurch prüfen und sehen, ob sie alles tun werden, was auch immer der Herr, ihr Gott, ihnen gebietet.“5

Unser vergangenes und gegenwärtiges Leid kann, wie Paulus sagte, „nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“6 in der Ewigkeit. „Denn nach viel Drangsal kommen die Segnungen. Darum kommt der Tag, da ihr mit viel Herrlichkeit gekrönt werdet.“7 Drangsal ist also in dem Sinne nützlich, dass sie uns hilft, ins celestiale Reich zu gelangen.

Einige werden verbittert und verlieren die Hoffnung, weil es ihnen an Glauben mangelt oder sie den ewigen Plan nicht ganz verstehen. Ein solcher Mensch war ein Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert, der mit seinem glänzenden Verstand und Schreibstil sowohl Erfolg als auch Reichtum erlangte. Seine Frau kam aus einer religiösen Familie. Er wollte an Gott glauben, war sich aber nicht wirklich sicher, ob Gott existiert. Dann wurde er von einer Serie schwerer Schicksalsschläge getroffen. 1893 war er nach einer landesweiten Finanzkrise tief verschuldet. Seine älteste Tochter starb, als er sich auf einer Vortragsreise befand. Mit der Gesundheit seiner Frau stand es nicht mehr zum Besten, und sie starb 1904. Seine jüngste Tochter starb 1909. Auch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Seine Werke, die früher so spritzig gewesen waren, zeugten nun von seiner Bitterkeit. Nach und nach wurde er depressiv, zynisch und desillusioniert und blieb in dieser Verfassung bis zu seinem Tod im Jahr 1910. Trotz all seiner Brillanz mangelte es ihm an der inneren Stärke, mit Unglück fertig zu werden. Er ergab sich einfach seinem Schicksal.

Es kommt nicht so sehr darauf an, was uns geschieht, sondern wie wir damit umgehen. Das erinnert mich an eine Stelle in Alma. Nach einem langen Krieg waren viele hart geworden, während andererseits viele erweicht worden waren „wegen ihrer Bedrängnisse“.8 Dieselben Bedingungen führten zu gegenteiligen Ergebnissen. Der Schriftsteller, der so viel verloren hatte, konnte nicht aus der Quelle des Glaubens schöpfen. Jeder von uns muss sein eigenes Vorratshaus des Glaubens haben, das uns dabei hilft, die Schwierigkeiten dieser irdischen Prüfungszeit zu überwinden.

Thomas Giles aus Wales, der sich 1844 der Kirche anschloss, musste in seinem Leben ebenfalls viel durchleiden. Er war Bergmann, und als er einmal im Bergwerk nach Kohle grub, wurde er von einem großen Kohlestück am Kopf getroffen, wodurch ihm eine 23 cm lange Wunde zugefügt wurde. Ein Arzt, der ihn untersuchte, sagte, der Verletzte würde höchstens noch 24 Stunden leben. Aber dann kamen die Ältesten und gaben ihm einen Krankensegen. Ihm wurde verheißen, dass er wieder gesund werden würde und noch viel Gutes in der Kirche würde tun können, selbst wenn er nie wieder sehen könnte. Bruder Giles überlebte tatsächlich, war aber für den Rest seines Lebens blind. Innerhalb eines Monats nach seinem Unfall reiste er schon wieder kreuz und quer durchs Land, um seinen Aufgaben in der Kirche nachzukommen.

1856 wanderte Bruder Giles mit seiner Familie nach Utah aus. Bevor er sein Heimatland verließ, schenkten die Heiligen in Wales ihm eine Harfe, und er lernte sie mit viel Geschick zu spielen. In Council Bluffs schloss er sich einer Handkarrenabteilung an und zog gen Westen. Obwohl er blind war, zog er einen Handkarren von Council Bluffs nach Salt Lake City. Auf dem Weg über die Prärie starben seine Frau und zwei seiner Kinder. Sein Kummer war groß und sein Herz war fast gebrochen. Aber sein Glaube verließ ihn nicht. So wie jemand aus alter Zeit sagte er inmitten seiner Trauer: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“9 Brigham Young, der von seiner Geschichte erfahren hatte, lieh Bruder Giles nach seiner Ankunft in Salt Lake City eine wertvolle Harfe, bis seine eigene aus Wales eintraf. Bruder Giles reiste in Utah von Siedlung zu Siedlung und erfreute den Menschen das Herz mit seiner schönen Musik.10

Wie wir den von Gott gegebenen sittlichen Entscheidungsspielraum nutzen, verrät etwas darüber, warum uns manches widerfährt. Einige unserer Entscheidungen bringen unvorhergesehene Folgen mit sich, die sowohl gut als auch schlecht sein können. Oft wissen wir aber schon im Voraus, dass die eine oder andere Entscheidung schädliche oder gar gefährliche Konsequenzen nach sich zieht. Ich bezeichne diese als „bewusste Entscheidungen“, weil wir wissen, dass unser Handeln katastrophale Folgen haben wird. Zu diesen bewussten Entscheidungen gehören unerlaubte sexuelle Beziehungen und der Konsum von Drogen, Alkohol oder Tabak. Solche schlechten „bewussten Entscheidungen“ können jemanden daran hindern, auf Mission zu gehen oder die Segnungen des Tempels zu empfangen. Vielleicht treffen wir einige Entscheidungen bewusst falsch, weil die Verlockungen der Welt die Wirklichkeit verzerren und uns verwundbar machen. Wenn wir mit jemandem vom anderen Geschlecht ausgehen, behindert eine frühzeitige falsche Entscheidung manchmal, dass wir später eine richtige treffen.

Wo sollte nun jeder von uns seinen Standpunkt beziehen? Wenn wir Gott täglich unsere Treue beweisen, indem wir rechtschaffen handeln, kann er erkennen, wo wir stehen. Für uns alle ist das Leben eine Zeit, in der wir ausgesiebt und geläutert werden. Wir werden alle mit Prüfungen konfrontiert. In den Anfangstagen der Kirche wurden einzelne Mitglieder geprüft und geläutert, indem sie herausfinden mussten, ob sie, so wie Bruder Giles, den Glauben hatten, alle ihre Habe auf einen Wagen oder einen Handkarren zu laden und die Prärie zu überqueren. Einige hatten den Glauben nicht. Die anderen gingen „mit jedem Schritt im Glauben“ voran. In unserer immer schwieriger werdenden Zeit erleben auch wir, wie wir geläutert und geprüft werden. Die Prüfungen sind raffinierter, weil die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen. Kaum noch etwas scheint in öffentlichen Kommunikationsmitteln heilig zu sein. In diesem Umfeld müssen wir stets sicher sein, wo wir in unserer Verpflichtung zu den ewigen Wahrheiten und Bündnissen stehen.

Über den Umgang mit Leid lernen wir viel von einem „Mann [im Lande Uz] mit Namen Ijob. Dieser Mann war untadelig und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse.“11 Der Satan erhielt die Erlaubnis vom Herrn, Ijob in Versuchung zu führen und auf die Probe zu stellen. Ijob war reich. Er hatte sieben Söhne und drei Töchter. Doch sein Besitz und seine Kinder wurden ihm genommen. Wie wirkte sich das auf Ijob aus? Er sagte, mit Bezug auf den Herrn: „Er mag mich töten, ich harre auf ihn“12, und „schon das wird mir zum Heile dienen“.13 Ijob bestätigte: „Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt, als Letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen.“14 Ijob vertraute völlig darauf, dass der Herr sich um alles andere kümmern würde.

Um Freude in diesem Leben zu finden, müssen wir wie Ijob beschließen, für Gott und sein Werk alles zu ertragen. Wenn wir das tun, steht uns unbegrenzte und unschätzbare Freude bevor, in aller Ewigkeit beim Erlöser zu sein. In einem unserer bekannten Kirchenlieder singen wir:

Mein Herz, das an Jesus sich lehnt mit Vertraun,

kann sicher auf deine Verheißungen baun;

und mag alle Hölle auch gegen mich sein:

Du lässest mich nimmer, o nimmer allein.15

Präsident Howard W. Hunter hat einmal gesagt: „Gott weiß und sieht, was wir nicht wissen und nicht sehen.“16 Niemand von uns kennt die Weisheit des Herrn. Wir wissen im Voraus nicht genau, wie er uns von da, wo wir jetzt sind, dahin bringen will, wo wir hinsollen, aber mit dem Patriarchalischen Segen gibt er uns einen groben Umriss. Auf der Straße des Lebens, die zur Ewigkeit führt, stoßen wir auf viele Unebenheiten, Kurven und Weggabelungen. Wie oft werden wir auf diesem Weg nicht belehrt und korrigiert! Der Herr hat gesagt: „Wer Züchtigung nicht ertragen will, der ist meines Reiches nicht wert.“17 „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er.“18

In unserem irdischen Leben müssen wir im Glauben vorwärts gehen, ohne je zu zweifeln. Wenn die Reise scheinbar unerträglich wird, können wir in den Worten des Herrn Trost finden: „Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Nun heile ich dich.“19 Manche Heilung wird vielleicht in einer anderen Welt erfolgen. Wir erfahren vielleicht nie, warum manches in diesem Leben geschieht. Nur der Herr kennt den Grund für manches Leid, das uns trifft.

Präsident Brigham Young äußerte die tiefe Erkenntnis, dass zumindest einiges von dem, was wir erleiden, einen Grund hat. Er sagte:

„Alle intelligenten Wesen, die mit einer Krone der Herrlichkeit, der Unsterblichkeit und des ewigen Lebens gekrönt sind, müssen jede Zerreißprobe überstehen, die einem intelligenten Wesen bestimmt ist, damit sie ihre Herrlichkeit und Erhöhung erlangen. Jedes Unheil, das über ein sterbliches Wesen hereinbrechen kann, werden einige wenige erleiden, um sie darauf vorzubereiten, sich an der Gegenwart des Herrn zu erfreuen … Jede Prüfung und Erfahrung, die ihr durchgemacht habt, ist für eure Errettung notwendig.“20

Wir haben allen Grund zur Hoffnung. Wir können Freude haben, wenn wir bereit sind, alles für den Herrn zu opfern. Dann können wir uns auf die unschätzbar wertvolle Aussicht freuen, alle Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. Dann werden wir für immer bei unserem Erlöser sein und, wie Präsident Brigham Young auch sagte, „der Herrlichkeit, der hervorragenden Stellung und der Erhöhung, die Gott für die Glaubenstreuen bereithält, entgegensehen.“21 Gott lebt, Jesus ist der Messias, Präsident Gordon B. Hinckley ist unser Prophet und dies ist die Zeit, da wir uns alle vorbereiten müssen, Gott zu begegnen. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Aus einem Brief

  2. The Teachings of Spencer W. Kimball, Hg. Edward L. Kimball, 1982, Seite 77

  3. Siehe Kohelet 12:7

  4. Johannes 14:2

  5. Abraham 3:25

  6. Römer 8:18

  7. LuB 58:4

  8. Siehe Alma 62:41

  9. Ijob 1:21

  10. Siehe Andrew Jenson, Latter-day Saint Biographical Encyclopedia, 4 Bde., 1901–1936, 2:507f.

  11. Ijob 1:1

  12. Ijob 13:15

  13. Ijob 13:16

  14. Ijob 19:25,26

  15. „O fest wie ein Felsen“, Gesangbuch, Nr. 56

  16. Der Stern, Januar 1988, Seite 55

  17. LuB 136:31

  18. Hebräer 12:6

  19. 2 Könige 20:5

  20. Discourses of Brigham Young, Hg. John A. Widtsoe, 1954, Seite 345

  21. „Remarks“, Deseret News, 31. Mai 1871, Seite 197