2000–2009
Das wichtigste Gebot
Oktober 2007


Das wichtigste Gebot

Wenn wir den geringsten unter den Kindern des himmlischen Vaters helfend die Hand reichen, reichen wir sie ihm.

Brüder und Schwestern, ich möchte eine sehr wichtige Frage stellen. Welche Eigenschaft zeichnet uns am besten als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aus?

Ich möchte heute über die Antwort auf diese Frage sprechen.

Im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt waren die Mitglieder der aufblühenden Gemeinde in Korinth vom Evangelium begeistert. Fast alle waren Neubekehrte der Kirche. Viele hatten sich durch die Predigten des Apostels Paulus und anderer zu ihr hingezogen gefühlt.

Aber die Heiligen in Korinth waren auch streitsüchtig. Es gab Auseinandersetzungen unter ihnen. Manche fühlten sich anderen überlegen. Sie verklagten sich gegenseitig vor Gericht.

Als Paulus davon hörte, war er enttäuscht und schrieb ihnen einen Brief, in dem er sie dringend bat, einiger zu werden. Er beantwortete viele der Fragen, über die sie gestritten hatten. Gegen Ende erklärte er ihnen dann, dass er ihnen „einen anderen Weg, … der alles übersteigt“ 1, zeigen wolle.

Erinnern Sie sich an die Worte, die er daraufhin schrieb?

„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ 2

Paulus’ Botschaft an diese junge Gemeinschaft von Heiligen war einfach und deutlich: Nichts, was ihr tut, hat wirklich Bedeutung, wenn ihr keine Nächstenliebe habt. Ihr könnt in Zungen reden, die Gabe der Prophezeiung haben, alle Geheimnisse verstehen und alle Erkenntnis haben; selbst wenn ihr den Glauben habt, Berge zu versetzen, wird es euch ohne Nächstenliebe überhaupt nichts nützen.3

„Die Nächstenliebe ist die reine Christusliebe.“ 4 Der Erlöser war ein Beispiel dafür und lehrte diese Liebe auch dann noch, als er von denen, die ihn verachteten und hassten, gepeinigt wurde.

Einmal versuchten die Pharisäer, Jesus eine Falle zu stellen, indem sie ihm eine scheinbar unlösbare Frage stellten: „Meister“, fragten sie, „welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“5

Die Pharisäer hatten diese Frage ausgiebig diskutiert und über 600 Gebote6 ermittelt. Wenn es schon für die Gelehrten so schwierig war, eine Rangfolge festzulegen, dann dachten sie sicher, dass dieser Sohn eines Zimmermanns aus Galiläa unmöglich die Frage beantworten könne.

Als die Pharisäer aber seine Antwort hörten, müssen sie sehr beunruhigt gewesen sein, denn sie wies auf ihre große Schwäche hin. Er antwortete:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

Das ist das wichtigste und erste Gebot.

Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“7

Seit jenem Tag ist diese inspirierte Aussage durch viele Generationen hindurch wiederholt worden. Was nun uns betrifft, so bestimmt das Ausmaß unserer Liebe die Größe unserer Seele.

In den heiligen Schriften wird uns gesagt: „Wer aber Gott liebt, der ist von ihm erkannt.“8 Was für eine wunderbare Verheißung – von ihm erkannt zu sein. Der Gedanke, der Schöpfer des Himmels und der Erde könnte uns kennen und mit einer reinen, ewigen Liebe lieben, beschwingt die Seele.

1840 schickte der Prophet Joseph Smith einen Brief an die Zwölf Apostel, in dem er erklärte: „Liebe ist eine wesentliche Eigenschaft der Gottheit. Sie muss auch bei allen gefunden werden, die Söhne Gottes werden wollen. Wer von der Liebe Gottes durchdrungen ist, der will nicht allein seiner Familie ein Segen sein, vielmehr will er überall, wo er ist, der ganzen Menschheit zum Segen gereichen.“9

Wenn wir auf unsere Mitmenschen in Liebe zugehen, erfüllen wir die andere Hälfte des wichtigsten Gebotes: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“10

Beide Gebote sind notwendig, denn wenn wir einer des anderen Last tragen, erfüllen wir das Gesetz Christi.11

Liebe ist der Anfang, die Mitte und das Ende des Pfades, den wir als Jünger gehen. Sie ermutigt, rät, heilt und tröstet. Sie führt uns durch Täler der Finsternis und durch den Schleier des Todes. Zu guter Letzt führt sie uns in die Herrlichkeit und Erhabenheit des ewigen Lebens.

Für mich war der Prophet Joseph Smith immer ein Beispiel für die reine Liebe Christi. Viele fragten ihn, warum er so viele Anhänger gewann und auch behielt. Seine Antwort: „Das ist so, weil ich den Grundsatz der Liebe befolge.“12

Man erzählt die Geschichte von einem vierzehnjährigen Jungen, der nach Nauvoo gekommen war, um nach seinem Bruder, der in der Nähe wohnte, zu suchen. Der Junge war im Winter ohne Geld und ohne Freunde angekommen. Als er sich nach seinem Bruder erkundigte, wurde er zu einem großen Haus gebracht, das wie ein Hotel aussah. Dort traf er einen Mann, der sagte: „Komm herein, Sohn, wir werden für dich sorgen.“

Der Junge nahm das Angebot an und wurde ins Haus gebracht, wo man ihm zu essen gab, ihn wärmte und ihm ein Bett zum Schlafen gab.

Obwohl es bitterkalt war, machte der Junge sich am nächsten Tag bereit, die dreizehn Kilometer dorthin zu gehen, wo sein Bruder sich aufhielt.

Als der Herr des Hauses das sah, sagte er dem Jungen, er solle noch eine Weile da bleiben. Er sagte, dass bald ein Pferdegespann käme und er damit zurückfahren könne.

Als der Junge protestierte und sagte, dass er kein Geld habe, sagte der Mann ihm, er solle sich keine Sorgen machen, sie würden sich um ihn kümmern.

Später fand der Junge heraus, dass der Hausherr kein anderer war als Joseph Smith, der Mormonenprophet. Dieser Junge erinnerte sich sein ganzes Leben lang an diesen Akt der Nächstenliebe.13

Vor kurzem wurde bei der Sendung Music and the Spoken Word des Tabernakelchors die Geschichte eines älteren Mannes und seiner Frau erzählt, die seit vielen Jahrzehnten verheiratet waren. Weil die Frau langsam ihr Augenlicht verlor, konnte sie sich nicht mehr so pflegen, wie sie es viele Jahre lang getan hatte. Ohne darum gebeten worden zu sein, begann der Mann, ihr die Fingernägel zu lackieren.

„Er wusste, dass sie ihre Fingernägel sehen konnte, wenn sie sie genau im richtigen Winkel dicht vor die Augen hielt, und das entlockte ihr ein Lächeln. Er freute sich, wenn er sah, dass sie glücklich war, und lackierte ihr deshalb mehr als fünf Jahre lang die Nägel, bis sie verstarb.“14

Das ist ein Beispiel für reine Christusliebe. Manchmal ist die größte Liebe nicht in den dramatischen Szenen zu finden, die von Dichtern und Schriftstellern unsterblich gemacht werden. Oft sind die größten Erscheinungsformen der Liebe einfache gütige und fürsorgliche Taten, die wir für diejenigen vollbringen, denen wir auf unserem Lebenspfad begegnen.

Wahre Liebe bleibt für immer bestehen. Sie ist ewig geduldig und verzeiht. Sie glaubt, hofft und erträgt alles. Das ist die Liebe, die der himmlische Vater für uns verspürt.

Wir sehnen uns alle danach, solche Liebe zu erfahren. Selbst wenn wir Fehler machen, hoffen wir, dass andere Menschen uns trotz unserer Unzulänglichkeiten lieben – selbst wenn wir es nicht verdienen.

Oh, es ist wunderbar zu wissen, dass der himmlische Vater uns liebt – sogar mit all unseren Fehlern! Seine Liebe ist derart, dass er uns niemals aufgeben wird, nicht einmal dann, wenn wir es selbst tun.

Wir selbst sehen uns im Licht von gestern und heute. Der himmlische Vater sieht uns im Licht der Ewigkeit. Auch wenn wir uns mit weniger zufrieden geben, wird der himmlische Vater es nicht tun, denn er sieht uns als die herrlichen Wesen, die wir werden können.

Das Evangelium Jesu Christi ist ein Evangelium, das uns wandelt. Es nimmt uns als irdische Männer und Frauen und veredelt uns zu Männern und Frauen für die Ewigkeit.

Das Instrument für diese Veredelung ist unsere christliche Liebe. Es gibt keinen Schmerz, den sie nicht stillen, keine Verbitterung, die sie nicht hinwegnehmen, keinen Hass, den sie nicht wandeln kann. Der griechische Dramatiker Sophokles hat geschrieben: „Ein Wort befreit uns von aller Last und allem Schmerz im Leben. Das Wort ist Liebe.“15

Die am meisten geschätzten und heiligsten Augenblicke unseres Lebens sind die, die vom Geist der Liebe erfüllt sind. Je größer unsere Liebe ist, desto größer ist unsere Freude. Letztendlich ist das wahre Maß für den Erfolg im Leben, ob wir solche Liebe entwickeln.

Lieben Sie den Herrn?

Verbringen Sie Zeit mit ihm. Denken Sie über seine Worte nach. Nehmen Sie sein Joch auf sich. Trachten Sie danach, zu verstehen und zu gehorchen, „denn die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten“16. Wenn wir den Herrn lieben, ist Gehorsam keine Last mehr. Gehorsam wird zur Freude. Wenn wir den Herrn lieben, trachten wir weniger nach dem, was uns nützt, und wenden unser Herz dem zu, was anderen Menschen zum Guten gereicht und sie erhebt.

In dem Maße, wie sich unsere Liebe zum Herrn vertieft, werden wir geistig und seelisch geläutert. Wir erleben „in unserem Herzen eine mächtige Wandlung …, sodass wir keine Neigung mehr haben, Böses zu tun, sondern, ständig Gutes zu tun“.17

Brüder und Schwestern, wenn Sie gebeterfüllt darüber nachdenken, was Sie tun können, um Harmonie und Geistigkeit zu vermehren und das Reich Gottes aufzubauen, dann denken Sie auch an Ihre heilige Pflicht, andere die Liebe zum Herrn und zu ihren Mitmenschen zu lehren. Das ist der Hauptzweck unseres Daseins. Ohne Nächstenliebe – oder reine Christusliebe – bedeutet alles andere, was wir erreichen, nur wenig. Mit ihr wird alles andere wach und lebendig.

Wenn wir andere Menschen inspirieren und ihnen beibringen, ihr Herz mit Liebe zu füllen, strömt Gehorsam von innen nach außen – durch freiwillige Aufopferung und Dienen. Ja, diejenigen, die heimlehren gehen, weil es ihre Aufgabe ist, erfüllen vielleicht ihre Pflicht. Aber diejenigen, die aus ihrer aufrichtigen Liebe zum Herrn und ihren Mitmenschen heraus heimlehren, gehen an die Aufgabe mit einer ganz anderen Einstellung heran.

Kommen wir auf meine anfängliche Frage zurück: Welche Eigenschaft zeichnet uns am besten als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aus? Ich würde antworten: Wir sind Menschen, die den Herrn mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und all unseren Gedanken lieben, und wir lieben unseren Nächsten wie uns selbst.

Das ist die charakteristische Eigenschaft unserer Gemeinschaft. Es ist wie ein Leuchtfeuer, das der Welt zeigt, wessen Jünger wir sind.18

Am letzten Tag wird der Erretter nicht danach fragen, welche Berufungen wir hatten. Er wird sich nicht nach unseren materiellen Gütern oder unserem Ruhm erkundigen. Er wird fragen, ob wir die Kranken betreut, den Hungrigen zu essen und zu trinken gegeben, die Gefangenen besucht und den Schwachen Beistand geleistet19 haben. Wenn wir den geringsten unter den Kindern des himmlischen Vaters helfend die Hand reichen, reichen wir sie ihm.20 Das ist der Wesenskern des Evangeliums Jesu Christi.

Wenn wir wirklich lernen wollen, wie man liebt, müssen wir nur über das Leben unseres Erlösers nachdenken. Wenn wir vom Abendmahl nehmen, werden wir an das größte Beispiel für Liebe in der gesamten Weltgeschichte erinnert. „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab.“ 21

Die Liebe des Erlösers zu uns war so groß, dass sie „selbst Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern und aus jeder Pore bluten“22 ließ.

Weil der Heiland sein Leben für uns hingegeben hat23, haben wir den Glanz der Hoffnung, das Vertrauen und die Sicherheit, dass wir, wenn wir aus diesem weltlichen Dasein scheiden, wieder bei ihm wohnen werden. Durch das Sühnopfer Jesu Christi können wir von Sünde gereinigt werden und an der Gabe unseres allmächtigen Vaters teilhaben. Dann werden wir die Herrlichkeit kennen, die „Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“.24

Das ist die Macht der Nächstenliebe, die uns verwandelt.

Als Jesus seinen Jüngern ein neues Gebot gab, nämlich liebt einander, wie ich euch geliebt habe25, gab er ihnen den einzigartigen Schlüssel zu wahrem Glück in diesem Leben und Herrlichkeit im nächsten.

Liebe ist das wichtigste von allen Geboten – alle anderen hängen davon ab. Für uns, als Nachfolger des lebendigen Christus, ist sie der Mittelpunkt. Sie ist der eine Wesenszug, der unser Leben am meisten verbessern wird, wenn wir ihn entwickeln.

Ich gebe Zeugnis, dass Gott lebt. Seine Liebe ist grenzenlos und ewig. Sie erstreckt sich auf all seine Kinder. Weil er uns liebt, hat er uns Propheten und Apostel gegeben, die uns in unserer Zeit leiten. Er hat uns den Heiligen Geist gegeben, der lehrt, tröstet und inspiriert.

Er hat uns seine heiligen Schriften gegeben. Und ich bin dankbarer, als ich sagen kann, dass er einem jeden von uns ein Herz gegeben hat, das fähig ist, die reine Christusliebe zu erfahren.

Ich bete darum, dass unser Herz mit dieser Liebe erfüllt werden möge und dass wir unserem Vater im Himmel und anderen Menschen mit einer neuen Sicht und neuem Glauben die Hand reichen. Ich bezeuge, dass wir mehr Erfüllung im Leben finden werden, wenn wir dies tun. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. 1 Korinther 12:31

  2. 1 Korinther 13:1

  3. Siehe 1 Korinther 13:1,2

  4. Moroni 7:47

  5. Matthäus 22:36

  6. Siehe Frederic W. Farrar, The Life of Christ, Salt Lake City, Bookcraft, 1994, Seite 528f.

  7. Matthäus 22:37-40

  8. 1 Korinther 8:3

  9. History of the Church, 4:227

  10. Galater 5:14

  11. Siehe Galater 6:2

  12. History of the Church, 5:498

  13. Mark L. McConkie, Remembering Joseph: Personal Recollections of Those Who Knew the Prophet Joseph Smith, 2003, Seite 57

  14. „Selflessness“, 23. September 2007, Radio- und Fernsehsendung Music and the Spoken Word; kann unter www.musicand thespokenword.com/messages eingesehen werden

  15. Oedipus at Colonus, aus The Oedipus Cycle, englische Übers. von Dudley Fitts und Robert Fitzgerald, New York, Harcourt Brace & Company, 1949, Seite 161f.

  16. 1 Johannes 5:3

  17. Mosia 5:2

  18. Siehe Johannes 13:35

  19. Siehe Matthäus 25:31-40

  20. Siehe Matthäus 25:40

  21. Johannes 3:16

  22. LuB 19:18

  23. Siehe Johannes 15:13

  24. 1 Korinther 2:9; siehe auch Jesaja 64:3

  25. Siehe Johannes 13:34