2000–2009
Die Schwachen und die Einfachen in der Kirche
Oktober 2007


Die Schwachen und die Einfachen in der Kirche

Kein Mitglied der Kirche ist dem Herrn mehr oder weniger wert als ein anderes.

Wir würdigen Präsident James E. Faust. Er fehlt uns. Seine liebe Frau, Ruth, ist heute unter uns. Wir wünschen ihr alles erdenklich Gute. Wir begrüßen diejenigen, die für die Ämter berufen wurden, wie Präsident Hinckley es uns vorgelegt hat.

Ich spreche für uns alle, die heute bestätigt worden sind: Wir geloben, unser Allerbestes zu geben, um des Vertrauens würdig zu sein, das in uns gesetzt wird.

Wir haben gerade auf feierliche, heilige Weise die Führungsbeamten der Kirche bestätigt. Das geschieht immer dann, wenn Führungsbeamte oder Lehrer zu einem Amt berufen oder daraus entlassen werden, sowie bei jeder Umstrukturierung in einem Pfahl, einer Gemeinde, einem Kollegium oder einer Hilfsorganisation (siehe LuB 124:123,144; siehe auch LuB 20:65-67; 26:2). Diese Vorgehensweise gibt es nur in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

Wir wissen immer, wer berufen ist, zu führen oder zu lehren, und haben die Möglichkeit, den Vorgang zu bestätigen oder abzulehnen. Dies wurde nicht von einem Menschen erdacht, sondern in Offenbarungen festgelegt: „Keinem soll es gegeben sein, hinzugehen, um mein Evangelium zu predigen oder meine Kirche aufzurichten, außer er sei von jemandem ordiniert worden, der Vollmacht hat, und es ist der Kirche bekannt, dass er Vollmacht hat und von den Häuptern der Kirche ordnungsgemäß ordiniert worden ist.“ (LuB 42:11; Hervorhebung hinzugefügt.) Auf diese Weise ist die Kirche davor geschützt, dass ein Betrüger ein Kollegium, eine Gemeinde, einen Pfahl oder die Kirche an sich reißt.

Noch ein weiterer Grundsatz ist allein in der Kirche des Herrn zu finden. Sämtliche Lehr- und Führungsämter werden von Mitgliedern der Kirche ausgeübt. Auch das ist in den heiligen Schriften festgelegt. In einem Vers im Buch Lehre und Bündnisse wurde die Ordnung für die Führung in der Kirche für alle Zeit festgesetzt. Sie war beispiellos, ganz sicher nicht üblich in einer christlichen Kirche, weder damals noch heute:

„Darum habe ich, der Herr, der das Unheil kennt, das über die Bewohner der Erde kommen soll, meinen Knecht Joseph Smith Jr. aufgerufen und aus dem Himmel zu ihm gesprochen und ihm Gebote gegeben …

Das Schwache der Welt wird hervorkommen und die Mächtigen und Starken niederbrechen. …

Damit jedermann im Namen Gottes, des Herrn, ja, des Erretters der Welt, sprechen könne;damit auch der Glaube auf Erden zunehme; damit mein immerwährender Bund aufgerichtet werde; damit die Fülle meines Evangeliums durch die Schwachen und die Einfachen bis an die Enden der Welt und vor Königen und Herrschern verkündigt werde.

Siehe, ich bin Gott und habe es gesagt; diese Gebote sind von mir und sind meinen Knechten in ihrer Schwachheit, nach der Weise ihrer Sprache gegeben worden, damit sie Verständnis erlangen können.“ (LuB 1:17,19-24.)

Ich bin zutiefst dankbar für diese Verse, in denen erklärt wird, dass der Herr sich des „Schwachen der Welt“ bedienen wird (siehe LuB 1:19).

Jedes Mitglied ist verpflichtet, die Berufung zu dienen anzunehmen.

Präsident J. Reuben Clark Jr. hat gesagt: „Im Dienst für den Herrn zählt nicht, wo man dient, sondern wie man dient. In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage übernimmt jeder das Amt, zu dem er ordnungsgemäß berufen wird – er strebt nicht danach und er lehnt es auch nicht ab.“ (Frühjahrs-Generalkonferenz 1951.) Die Kirche hat keine bezahlten Geistlichen. Auf der ganzen Welt werden Führungsbeamte aus den Reihen der Mitglieder berufen. Bei uns gibt es keine Priesterseminare für die Ausbildung von Berufsgeistlichen.

Alles, was in der Kirche getan wird – leiten, lehren, berufen, ordinieren, beten, singen, das Abendmahl vorbereiten, Rat erteilen und alles Übrige –, tun ganz normale Mitglieder, das „Schwache der Welt“.

Wir sehen, wie die christlichen Kirchen darum ringen, den Bedarf an Geistlichen zu decken. Wir haben dieses Problem nicht. Wenn das Evangelium einmal verkündet und die Kirche gegründet ist, gibt es ein unerschöpfliches Angebot an glaubenstreuen Brüdern und Schwestern, die ein Zeugnis haben und willens sind, die Berufung zu dienen anzunehmen. Sie verpflichten sich dem Werk des Herrn und leben nach den Grundsätzen, die ihnen auferlegt werden.

Den Mitgliedern ist nach der Taufe der Heilige Geist gespendet worden (siehe LuB 33:15; 35:6). Der Heilige Geist lehrt und tröstet sie. Sie sind dann bereit, geführt, angeleitet und berichtigt zu werden, und zwar in allem, was sie für ihr Amt oder anderweitig brauchen (siehe Johannes 14:26; LuB 50:14; 52:9; 75:10).

Dieser Grundsatz unterscheidet die Kirche von allen anderen christlichen Kirchen auf der Welt. Wir befinden uns in der ungewöhnlichen Lage, über ein endloses Angebot an Lehrern und Führungsbeamten zu verfügen, unter allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern, in aller Welt. Es ist einzigartig, dass alle Mitglieder gleich sind. Niemand darf sich selbst für wertvoller halten als die anderen (siehe LuB 38:24,25). „Gott [sieht] nicht auf die Person …, sondern … ihm [ist] in jedem Volk willkommen …, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist.“ (Apostelgeschichte 10:34,35; siehe auch Römer 2:11; LuB 1:35; 38:16.)

Als junger Mann war ich Heimlehrer bei einer sehr alten Schwester. Sie erzählte mir etwas aus ihrer Lebenserfahrung.

Als sie ein kleines Mädchen war, kam Präsident Brigham Young nach Brigham City – ein großes Ereignis in der nach ihm benannten Stadt. Ihm zu Ehren reihte man die PV-Kinder, alle weiß gekleidet, entlang der Straße auf, die in den Ort führte. Jedes Kind bekam einen Korb mit Blumen, die es vor der Kutsche des Präsidenten der Kirche ausstreuen sollte.

Ihr jedoch missfiel etwas daran. Anstatt Blüten zu streuen, stieß sie einen Stein vor die Kutsche und zischte: „Er ist keinen Deut besser als mein Großvater Lovelund!“ Jemand hörte das, und sie wurde tüchtig ausgeschimpft.

Ich bin ganz sicher, dass Präsident Brigham Young der kleinen Janie Steed sofort Recht gegeben hätte. Er hätte sich nicht für wertvoller gehalten als Großvater Lovelund oder irgendein anderes würdiges Mitglied der Kirche.

Der Herr selbst sagte es sehr deutlich: „Und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein.“ (Matthäus 20:27.) „Der ist auch bestimmt, der Größte zu sein, auch wenn er der Geringste ist und aller Knecht.“ (LuB 50:26.)

Vor vielen Jahren erschien zum ersten Mal mein Foto in der Zeitung, weil ich auf einen bestimmten Posten berufen worden war. Jemand hörte einen meiner Lehrer aus der Highschool, der offenbar ziemlich erstaunt war, sagen: „Das beweist nur, dass man einem Frosch nicht ansehen kann, wie hoch er springen wird!“

Das Bild von diesem Frosch, der im Schlamm sitzt, anstatt zu springen, macht deutlich, wie unzulänglich ich mich immer gefühlt habe angesichts der Aufgaben, die an mich herangetragen wurden.

Solche Empfindungen sind heilsam – danach kann man sich über niemanden mehr erhaben fühlen, über niemanden.

Lange Zeit hat mir noch etwas anderes Rätsel aufgegeben. Vor 46 Jahren war ich ein 37-jähriger Seminarleiter. In der Kirche war ich als Aushilfslehrer für eine Klasse in der Gemeinde Lindon berufen.

Zu meiner großen Überraschung erhielt ich einen Anruf, in dem ich zu Präsident David O. McKay gebeten wurde. Er umschloss meine Hände mit den seinen und berief mich als Generalautorität, als Assistenten des Kollegiums der Zwölf Apostel.

Ein paar Tage später kam ich nach Salt Lake City zur Ersten Präsidentschaft, um als Generalautorität der Kirche eingesetzt zu werden. Dies war das erste Mal, dass ich der Ersten Präsidentschaft begegnete – Präsident David O. McKay und seinen Ratgebern, Präsident Hugh B. Brown und Präsident Henry D. Moyle.

Präsident McKay erklärte, dass eine der Pflichten des Assistenten des Kollegiums der Zwölf Apostel darin besteht, gemeinsam mit dem Kollegium der Zwölf Apostel ein besonderer Zeuge zu sein und Zeugnis zu geben, dass Jesus der Christus ist. Was er danach sagte, überwältigte mich: „Bevor wir fortfahren und Sie einsetzen, bitte ich Sie, uns Zeugnis zu geben. Wir möchten wissen, ob Sie dieses Zeugnis haben.“

Ich tat das, so gut ich es nur konnte. Ich gab mein Zeugnis genauso, wie ich es in der Fast- und Zeugnisversammlung in meiner Gemeinde gegeben hätte. Zu meinem Erstaunen wirkten die Brüder von der Präsidentschaft zufrieden und gingen dazu über, mir das Amt zu übertragen.

Das verwunderte mich sehr, denn ich hatte angenommen, jemand, der zu einem solchen Amt berufen werde, müsse ein ungewöhnliches, anderes und sehr viel größeres Zeugnis und entsprechende geistige Macht haben.

Das gab mir lange Zeit Rätsel auf, bis mir schließlich klar wurde, dass ich bereits besaß, was erforderlich war: ein beständiges Zeugnis im Herzen, dass die Fülle des Evangeliums durch den Propheten Joseph Smith wiederhergestellt wurde, dass wir einen himmlischen Vater haben und dass Jesus Christus unser Erlöser ist. Ich mag noch nicht alles darüber gewusst haben, aber ich hatte ein Zeugnis, und ich war gewillt zu lernen.

Ich unterschied mich wohl nicht von denen, über die es im Buch Mormon heißt: „Und wer mit reuigem Herzen und zerknirschtem Geist zu mir kommt, den werde ich mit Feuer und mit dem Heiligen Geist taufen gleichwie die Lamaniten, die wegen ihres Glaubens an mich zur Zeit ihrer Bekehrung mit Feuer und mit dem Heiligen Geist getauft wurden, und sie wussten es nicht.“ (3 Nephi 9:20; Hervorhebung hinzugefügt.)

Über die Jahre ist mir allmählich klar geworden, wie machtvoll und bedeutend dieses schlichte Zeugnis ist. Ich habe erkannt, dass der himmlische Vater der Vater unseres Geistes ist (siehe Numeri 16:22; Hebräer 12:9; LuB 93:29). Er ist ein Vater mit all der Güte und Liebe eines Vaters. Jesus hat gesagt: „Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt und weil ihr geglaubt habt, dass ich von Gott ausgegangen bin.“ (Johannes 16:27.)

Vor einigen Jahren begleitete ich Präsident Marion G. Romney zu einem Treffen mit Missionspräsidenten und deren Ehefrauen in Genf. Er erzählte ihnen, dass er 50 Jahre zuvor als junger Missionar in Australien einmal spätnachmittags eine Bibliothek aufgesucht hatte, um zu lesen. Als er hinausging, war es bereits Nacht. Er schaute hinauf in den Sternenhimmel, und da geschah es. Der Geist berührte ihn, und eine Gewissheit, ein Zeugnis, keimte in seiner Seele auf.

Er sagte diesen Missionspräsidenten, dass er nun, als Mitglied der Ersten Präsidentschaft, in keiner Weise sicherer wisse, dass Gott, der Vater, lebt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, der Einziggezeugte des Vaters, und dass die Fülle des Evangeliums wiederhergestellt ist, als er das als junger Missionar in Australien 50 Jahre zuvor gewusst habe. Er sagte weiter, sein Zeugnis habe sich dahingehend verändert, dass es inzwischen viel einfacher sei, eine Antwort vom Herrn zu erhalten. Die Gegenwart des Herrn sei näher, und er kenne den Herrn weitaus besser als 50 Jahre zuvor.

Man neigt naturgemäß dazu, diejenigen, die als Führungsbeamte bestätigt sind, als höherstehend und bedeutender in der Kirche oder für ihre Angehörigen anzusehen als ein gewöhnliches Mitglied. Irgendwie meinen wir, sie seien dem Herrn mehr wert als wir. Dem ist aber nicht so!

Meine Frau und ich wären sehr enttäuscht, wenn eines unserer Kinder meinte, dass wir uns als wertvoller für die Familie oder die Kirche betrachteten als sie, oder meinte, die eine Berufung in der Kirche würde höher geachtet als die andere oder irgendeine Berufung würde für weniger wichtig gehalten.

Kürzlich wurde einer unserer Söhne als Gemeindemissionsleiter bestätigt. Seine Frau berichtete uns, wie begeistert er über die Berufung war. Sie passt zu den sehr hohen Anforderungen, die seine Arbeit an ihn stellt. Er hat den Geist der Missionsarbeit und wird sein Spanisch gut gebrauchen können, das er seit seiner Missionszeit immer gepflegt hat. Auch wir freuten uns sehr über seine Berufung.

Aber was mein Sohn und seine Frau für ihre kleinen Kinder tun, übertrifft alles, was sie je in und außerhalb der Kirche tun können. Kein Dienst wäre dem Herrn wichtiger als ihre Hingabe füreinander und für ihre kleinen Kinder. Und so ist es auch bei unseren anderen Kindern. Alles, was wir in der Kirche tun, konzentriert sich letztlich auf das Zuhause und die Familie.

Als Generalautoritäten der Kirche sind wir genau wie Sie, und Sie sind genau wie wir. Sie können genauso auf die Macht der Offenbarung für Ihre Familie, für Ihre Arbeit und für Ihre Berufungen zugreifen, wie wir das tun.

Es ist aber auch wahr, dass es eine Ordnung für die Angelegenheiten der Kirche gibt. Wenn man zu einem Amt berufen wird, dann empfängt man Offenbarungen, die zu diesem Amt gehören und die kein anderer bekommen würde.

Kein Mitglied der Kirche ist dem Herrn mehr oder weniger wert als ein anderes. Das ist es wirklich nicht! Denken Sie daran, dass er ein Vater ist – unser Vater. Der Herr sieht nicht auf die Person.

Wir sind für den Fortschritt des Werkes des Herrn nicht bedeutsamer als Bruder und Schwester Tuotai Paletu’a in Nuku’alofa in Tonga oder Bruder und Schwester Cifuentes in Santiago de Chile oder Bruder und Schwester Dalebout in den Niederlanden oder Bruder und Schwester Sato in Japan – oder hunderte andere, denen ich auf meinen Reisen rund um die Welt begegnet bin. Nein, das sind wir wirklich nicht.

Und so schreitet die Kirche voran. Sie ruht auf den Schultern würdiger Mitglieder, die in ihrer ganz normalen Familie ein ganz normales Leben führen und vom Heiligen Geist und dem Licht Christi, das in ihnen ist, geführt werden.

Ich bezeuge, dass das Evangelium wahr ist und dass die Seelen in den Augen Gottes großen Wert haben – jede Seele – und dass es für uns ein Segen ist, dieser Kirche anzugehören. Ich habe das Zeugnis, das mich zu meiner jetzigen Berufung befähigt. Ich habe es seit meinem Treffen mit der Ersten Präsidentschaft vor so vielen Jahren. Dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.