2010–2019
Entwickeln wir ein gutes Urteilsvermögen und verurteilen wir andere nicht
April 2010


Entwickeln wir ein gutes Urteilsvermögen und verurteilen wir andere nicht

Ein gutes Urteilsvermögen brauchen wir nicht nur, um Menschen zu verstehen, sondern auch bei Entscheidungen, die uns dem Vater im Himmel näherbringen oder uns von ihm wegführen.

Wir kommen in der Welt, in der wir leben, oft in die Situation, dass wir in einer schwierigen Frage ein Urteil abgeben müssen. Im Hinblick auf unsere Mitmenschen hat der Erretter uns jedoch geboten: „Richtet nicht.“1 Wie kann man sich daran halten und in einer Welt voller Betrug und Korruption dennoch ein gutes Urteilsvermögen entwickeln? In jedem Lebensabschnitt muss man sich bei wichtigen Entscheidungen ein Urteil bilden, etwa bei der Wahl der Freunde oder eines Partners für die Ewigkeit oder bei der Wahl eines Berufes, der es einem ermöglicht, die Familie zu versorgen und dem Herrn zu dienen. Der Erlöser hat uns zwar aufgefordert, andere nicht zu verurteilen, aber er erwartet von uns trotzdem ein sehr gutes Urteilsvermögen.

Wir ertappen uns womöglich oft dabei, dass wir über andere vorschnell ein Urteil fällen, das unsere Beziehung zu ihnen verändern oder neu bestimmen kann. Aufgrund unzureichender Informationen urteilen wir dabei oft falsch oder wir sehen nicht über das hinaus, was wir unmittelbar vor Augen haben.

Beispielsweise wird oft die Geschichte erzählt, als Jesus bei Maria und Marta zu Besuch war, die mit ihrem Bruder Lazarus in Betanien lebten. Es war ein angenehmer Ort für den Meister, wo er sich ausruhen und eine gepflegte Umgebung genießen konnte. Bei einem seiner Besuche war Marta eifrig damit beschäftigt, eine Mahlzeit zuzubereiten, während Maria sich darauf verlegte, sich dem Meister zu Füßen zu setzen, um sich von ihm belehren zu lassen.

„Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? …

Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen.

Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“2

Diese Geschichte wird im sonntäglichen Unterricht häufig dergestalt besprochen, dass der Eindruck entsteht, Marta habe weniger Glauben besessen. Aber es gibt noch eine andere Geschichte über diese großartige Frau, Marta, die mehr über ihre Erkenntnis und ihr Zeugnis aussagt. Sie trug sich zu, als der Erlöser kam, um ihren Bruder Lazarus von den Toten aufzuwecken. In diesem Fall ging Marta Jesus entgegen, als sie hörte, dass er komme. Als sie vor ihm stand, sagte sie, sie wisse, dass Gott ihm alles geben werde, worum er ihn bitte.

Christus erklärte Marta daraufhin die großartige Lehre von der Auferstehung:

„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?“

Sie gab daraufhin machtvoll Zeugnis: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“3

Wie oft ist Marta fälschlich als jemand verurteilt worden, der sich mehr um alltägliche Verrichtungen als um Geistiges kümmerte? Doch in der schweren Zeit, als ihr Bruder starb, offenbarten sich in ihrem Zeugnis unwiderlegbar ihr tiefes Verständnis und ihr fester Glaube.

Manch eine Schwester hat häufig die erste Geschichte gehört und sich gefragt, ob sie wohl wie Maria oder wie Marta sei, doch die Wahrheit erkennt man erst, wenn man den ganzen Menschen sieht und besonnen urteilt. Wenn man mehr über Marta erfährt, erkennt man, dass sie tatsächlich sehr geistig gesinnt war und von der Mission des Erlösers und seiner göttlichen Macht über das Leben ein überragendes Zeugnis besaß. Wer Marta falsch beurteilt, wird das wahre Wesen dieser wunderbaren Frau wohl nicht erfassen.

Ich selbst habe als junger Arzt etwas sehr Wichtiges gelernt, was vorschnelle Urteile betrifft. Als ich einmal in der Notaufnahme Nachtschicht hatte, kamen ein junger Mann und seine Frau, die unter starken Schmerzen litt. An ihrer Kleidung und Erscheinung konnte man sofort erkennen, dass sie kein leichtes Leben hatten. Sein Haar war ungepflegt und sehr lang. Ihre Kleidung war seit geraumer Zeit nicht gewaschen worden, und ihre Gesichter waren von einem harten Leben gezeichnet.

Nach der Untersuchung setzte ich mich mit dem Mann zusammen, um das Problem zu erläutern und die Behandlung zu besprechen. Der Mann schaute mich mit Augen an, die eine solch tiefe Liebe widerspiegelten, wie man es selten erlebt, und fragte mit all der Liebe eines besorgten Ehemanns: „Herr Doktor, wird meine liebe Frau wieder gesund werden?“ In diesem Augenblick bezeugte mir der Heilige Geist, dass dieser Mann ein Kind Gottes war. In seinen Augen war für mich der Erretter sichtbar. Man konnte seine Liebe für einen anderen Menschen deutlich spüren, und ich hatte ihn falsch beurteilt. Diese Lektion hinterließ einen bleibenden Eindruck.

Ein gutes Urteilsvermögen brauchen wir nicht nur, um Menschen zu verstehen, sondern auch bei Entscheidungen, die uns dem Vater im Himmel näher bringen oder uns von ihm wegführen. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, fallen mir viele Situationen ein, in denen eine geringe, auf einem Fehlurteil basierende Kursänderung mich weit von dort weggeführt hätte, wo der Herr mich haben wollte – Entscheidungen, wie noch vor Abschluss der Ausbildung eine Familie zu gründen, in jeder Hinsicht im Evangelium aktiv zu sein, auch bei einem sehr dürftigen Einkommen den Zehnten und andere Spenden zu zahlen und in schwierigen Zeiten Berufungen anzunehmen, trugen dazu bei, dass ich lernte, was es bedeutet, Opfer zu bringen. Man enthält sich selbst viele Segnungen vor, wenn man eine Entscheidung, die eigentlich geistiger Natur ist, nach weltlichen Gesichtspunkten trifft.

Menschen, die ein gutes Urteilsvermögen entwickelt haben, zeichnen sich durch vieles aus. Ich möchte Ihnen vier Tipps geben, wie man solch ein Urteilsvermögen bei wichtigen Entscheidungen entwickeln kann.

Erstens: Richten Sie Ihre persönlichen Maßstäbe am Evangelium Jesu Christi aus. Wenn man sich nicht auf das Evangelium Jesu Christi stützt, kann man sich niemals ein gutes Urteil bilden. Das Evangelium hat schon lange und erfolgreich Menschen zu einem glücklichen Leben verholfen. Einige weltliche Vorstellungen lassen die Menschheit hilflos nach eigenen Maßstäben suchen. Deshalb hören wir Schlagwörter wie „eine neue Moral“. Dieser Ausdruck ist irreführend! Die moralischen Maßstäbe sind ewig und haben sich nicht verändert; wir dürfen auch nicht versuchen, sie neu zu definieren. Für die Jugendlichen sind diese Maßstäbe in der Broschüre Für eine starke Jugend niedergelegt. Diese Maßstäbe stehen ganz und gar im Einklang mit dem Evangelium Jesu Christi und sind dazu bestimmt, ein Leben lang gültig zu bleiben. Vielleicht täten wir Erwachsenen gut daran, diese Broschüre zu lesen und auf uns zu beziehen.

Zweitens: Hören Sie auf die Worte des lebenden Propheten. Wie viele finanzielle Fehlentscheidungen wären unterblieben, wenn wir die jahrelang von unseren Propheten gegebenen Ratschläge beachtet hätten, auf riskante Spekulationen zu verzichten und uns an einen sorgsam ausgearbeiteten Haushaltsplan zu halten, um Konsumschulden zu vermeiden. Wie viele Ehen hätten durch gutes Urteilsvermögen gerettet werden können, weil man dann Medien gemieden hätte, die zu Pornografiesucht und seelischer Qual führen. Mit jeder Generalkonferenz und jeder Zeitschrift der Kirche erhalten wir Ratschläge der Propheten, die uns zu einem guten Urteilsvermögen verhelfen, wenn wir sie beherzigen. Missachten wir sie, gibt es für uns keine Entschuldigung.

Drittens: Lernen Sie, auf den Heiligen Geist zu hören. Nach der Taufe bekommen wir die Gabe des Heiligen Geistes, doch häufig nutzen wir diese Gabe nicht und vergessen, dass der Geist uns bei den wichtigsten Entscheidungen im Leben helfen kann. Der Herr hat uns diese Gabe gegeben, weil er weiß, dass wir schwierige Entscheidungen treffen müssen. Wenn wir ein gutes Urteilsvermögen entwickeln wollen, müssen wir unbedingt auf diese Stimme hören. Wenn wir auf den Geist hören wollen, brauchen wir vor allem erst einmal Ruhe. Dann können wir uns Zeit nehmen, nachdenken und die leise, sanfte Stimme hören. Diesen Frieden brauchen wir sowohl in unserer Umgebung als auch in uns. Deshalb gehört mehr dazu, als nur die Musik der Welt oder das Geplärr anderer Medien abzuschalten – man muss auch den Lärm der Sünde in seiner Seele abstellen. Dadurch wird die Kommunikation mit dem Heiligen Geist, die wir so dringend brauchen, möglich.

Christus hat gesagt: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“4 Der Friede, der daraus erwächst, dass man auf den Heiligen Geist hört, nimmt einem die Furcht, im Leben eine schlechte Entscheidung zu treffen.

Viertens: Halten Sie die Gebote. Unsere Bereitwilligkeit, Gottes Gebote zu halten, erschließt uns viele verheißene Segnungen. Das Buch Mormon ist nicht nur ein weiterer Zeuge für Jesus Christus, sondern es wird in diesem Buch auch aufgezeigt, welche Folgen es hat, wenn man die Gebote hält oder nicht hält. Im zweiten Kapitel des ersten Buches Nephi sagt der Herr zu Nephi: „Insofern ihr meine Gebote haltet, wird es euch wohl ergehen.“5

Die gleiche Verheißung wurde von fast jedem großen Propheten im Buch Mormon wiederholt. Die daran anschließenden tausend Jahre aufgezeichneter Geschichte legen Zeugnis davon ab, dass diese Worte wahr sind. Das Gleiche gilt für uns heute. Ein gutes Urteilsvermögen wird am besten innerhalb der Grenzen gelernt und praktiziert, die der Herr uns durch die Gebote gesetzt hat.

Ich bezeuge: Wenn wir vor schwierigen Entscheidungen stehen und uns an diese Richtlinien halten, wird uns besser klar, wie wir urteilen sollen. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Matthäus 7:1; siehe auch JSÜ, Matthäus 7:2, wo der Erretter uns gebietet: „Richtet nicht unrecht.“

  2. Lukas 10:40-42

  3. Johannes 11:20-27

  4. Johannes 14:27

  5. 1 Nephi 2:20