2010–2019
Habt Mitgefühl und bewirkt Gutes
Oktober 2010


Habt Mitgefühl und bewirkt Gutes

Das Schöne an der Besuchslehrarbeit zeigt sich dann, wenn ein Leben verändert wird, Tränen getrocknet werden, ein Zeugnis wächst, Menschen geliebt und Familien gestärkt werden.

Meine lieben Schwestern, wie schön ist es, bei Ihnen zu sein und Ihre Kraft und Ihre Liebe zum Herrn zu spüren. Danke für die Liebe und das Mitgefühl, die Sie Ihren Mitmenschen tagtäglich entgegenbringen.

Wie wir wissen, gingen in den Anfangstagen der FHV in Nauvoo Schwestern von Haus zu Haus. Sie kümmerten sich umeinander, stellten fest, wo jemand Hilfe brauchte, brachten Essen, pflegten die Kranken und zeigten Mitgefühl für jede Frau und ihre Familie.1 Dabei kommt mir eine Schriftstelle in Judas in den Sinn: „Habt Mitgefühl und bewirkt Gutes.“2 Wenn ich über diese Schriftstelle und ihre Bedeutung nachdenke, wenden sich meine Gedanken dem Erlöser zu. In den heiligen Schriften ist häufig von seiner Liebe und seinem Mitgefühl für alle Menschen die Rede.

Im Neuen Testament lesen wir oft, dass Christus Mitgefühl3 hatte, wenn er sich der Sorgen und Nöte der Menschen annahm. Er hatte Mitgefühl, wenn er sah, dass sie hungrig waren, und gab ihnen zu essen. Wenn sie krank waren, heilte er sie. Wenn sie geistig gestärkt werden mussten, belehrte er sie.

Mitgefühl bedeutet, dass man für den anderen Liebe und Barmherzigkeit empfindet. Es bedeutet, dass man verständnisvoll ist und sich wünscht, das Leid des anderen zu lindern. Es bedeutet, dass man freundlich und einfühlsam ist.

Der Erretter hat uns aufgefordert, so zu handeln, wie er gehandelt hat4, die Last des anderen zu tragen, diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen, mit den Trauernden zu trauern5, die Hungrigen zu speisen, die Kranken zu besuchen6, den Schwachen beizustehen, die herabgesunkenen Hände emporzuheben7 und „einander die Lehre des Reiches zu lehren“8 Für mich beschreiben diese Worte und Verhaltensweisen die Besuchslehrerinnen – diejenigen, die sich um andere kümmern.

Die Besuchslehrarbeit gibt den Frauen Gelegenheit, übereinander zu wachen, einander zu stärken und einander zu lehren. Einem Lehrer im Aaronischen Priestertum vergleichbar, der die Aufgabe hat, „immer über die Kirche zu wachen und bei ihnen zu sein und sie zu stärken“9, zeigt eine Besuchslehrerin ihre Liebe, indem sie gebeterfüllt über jede Frau nachdenkt, die ihr anvertraut ist.

Schwester Julie B. Beck hat uns auf etwas aufmerksam gemacht: „Weil wir dem Beispiel und den Lehren Jesu Christi folgen, sind wir dankbar für diese heilige Aufgabe, an seiner Stelle unseren Nächsten zu lieben, zu kennen, zu verstehen, zu lehren und ihm zu dienen.“10

Heute möchte ich über zwei Punkte sprechen:

  • den Segen, den Sie anderen bringen, wenn Sie als Besuchslehrerin tätig sind

  • den Segen, den Sie empfangen, wenn Sie anderen dienen

Der Segen, den Sie anderen bringen, wenn Sie als Besuchslehrerin tätig sind

Vor kurzem kam ich in Anchorage in Alaska mit einer Gruppe von Frauen zusammen. Es waren vielleicht zwölf Frauen im Raum, und sechs weitere hörten aus anderen Orten kreuz und quer in ganz Alaska über die Freisprecheinrichtung am Telefon zu. Viele dieser Frauen wohnten hunderte Kilometer von einem Gemeindehaus entfernt. Von diesen Frauen habe ich etwas über das Besuchslehren gelernt.

Um alle Schwestern persönlich zu besuchen, hätten sie ein Flugzeug oder ein Boot nehmen oder eine sehr lange Strecke mit dem Auto zurücklegen müssen. Wegen des Zeitaufwands und der Kosten waren Hausbesuche folglich unmöglich. Doch diese Schwestern fühlten sich eng miteinander verbunden, weil sie inständig füreinander beteten und sich um Führung durch den Heiligen Geist bemühten, um zu wissen, was ihre Schwestern brauchten, auch wenn sie nicht oft persönlich bei ihnen waren. Sie schafften es, über Telefon, das Internet und per Post miteinander in Verbindung zu bleiben. Sie dienten mit Liebe, weil sie mit dem Herrn Bündnisse eingegangen waren und den Wunsch hatten, ihren Schwestern Gutes zu tun und sie zu stärken.

Ein anderes engagiertes Besuchslehrpaar in der Demokratischen Republik Kongo ging weite Strecken zu Fuß, um eine Frau mit ihrem Baby zu besuchen. Diese Schwestern bereiteten gebetsvoll eine Botschaft vor und wollten wissen, wie sie das Leben dieser lieben Frau, die sie besuchten, positiv verändern konnten. Die Frau freute sich maßlos über ihren Besuch. Für sie war der Besuch eine Botschaft des Himmels direkt an sie. Dass die Besuchslehrerinnen mit ihr in ihrer einfachen Behausung zusammenkamen, war für alle – die Schwester, ihre Kinder und die Besuchslehrerinnen – aufbauend und segensreich. Der lange Fußmarsch kam ihnen nicht wie ein Opfer vor. Diese Besuchslehrerinnen hatten Mitgefühl, sie bewirkten etwas Gutes und brachten dieser Frau Segnungen.

Große Entfernungen, Kosten und die eigene Sicherheit machen persönliche monatliche Kontakte in manchen Gegenden unmöglich. Aber durch die Macht der persönlichen Offenbarung können Schwestern, die ernsthaft bestrebt sind, einander lieb zu haben, und die übereinander wachen und einander stärken, sinnvolle Wege finden, diese Berufung vom Herrn zu erfüllen.

Eine inspirierte FHV-Leiterin berät sich mit ihrem Bischof und spricht gebeterfüllt Besuchslehraufträge aus, um ihm zu helfen, über jede Frau in der Gemeinde zu wachen und sich ihrer anzunehmen. Wenn uns dieser Kreislauf von Beratung und Offenbarung bewusst ist, sehen wir auch leichter ein, wie wichtig unsere Aufgabe ist, uns um andere zu kümmern, und wir haben größere Zuversicht, dass der Heilige Geist uns in unseren Bemühungen leitet.

Ich bin jemand, der gern jeden Monat mehrere Frauen besucht und dann stolz und mit einem erleichterten Seufzer erklärt: „Ich bin mit meiner Besuchslehrarbeit fertig!“ Wenn aber nur der Teil erledigt wäre, über den ich Bericht erstatte, und ich sonst keine Beweggründe hätte, wäre das eine Schande.

Das Schöne an der Besuchslehrarbeit zeigt sich nicht in 100 Prozent auf dem monatlichen Bericht, sondern dann, wenn ein Leben verändert wird, Tränen getrocknet werden, ein Zeugnis wächst, Menschen geliebt und aufgemuntert, Familien gestärkt, die Hungrigen gespeist, die Kranken besucht und die Trauernden getröstet werden. Genau genommen ist man mit dem Besuchslehren nie fertig, weil man ständig übereinander wacht und einander stärkt.

Ein weiterer Segen der Besuchslehrarbeit besteht darin, dass man Einigkeit und Liebe fördert. In den heiligen Schriften finden wir Rat, wie dies gelingt: „Und er gebot ihnen, sie sollten … eines Sinnes vorwärtsblicken, einen Glauben und eine Taufe haben und ihre Herzen in Einigkeit und gegenseitiger Liebe verbunden haben.“11

Viele Frauen haben berichtet, dass sie deshalb wieder in der Kirche aktiv wurden, weil eine treue Besuchslehrerin Monat für Monat vorbeikam und sich um sie kümmerte, ihnen aus der Not half, sie lieb hatte oder ihnen Gutes tat.

Manchmal ist die Botschaft das Wichtigste, worüber Sie bei einem bestimmten Besuch sprechen. Es gibt Frauen, die mit Ausnahme der Botschaft, die Sie überbringen, nur wenig geistig Erbauliches erleben. Die Besuchslehrbotschaften im Liahona sind Evangeliumsbotschaften. Sie helfen jeder Frau, ihren Glauben zu vertiefen und ihre Familie zu stärken und heben den mildtätigen Dienst am Nächsten hervor.

Manchmal besteht der wichtigste Segen bei Ihrem Besuch darin, einfach zuzuhören. Zuhören gibt einem Trost und führt zu Verständnis und Heilung. Ein andermal müssen Sie vielleicht die Ärmel hochkrempeln und sich in der Wohnung zu schaffen machen oder helfen, ein weinendes Kind zu beruhigen.

Der Segen, den Sie empfangen, wenn Sie anderen dienen

Der Segen, den Sie empfangen, wenn Sie anderen dienen, ist vielfältiger Natur. Manchmal habe ich gesagt: „Ach, ich muss meine Besuchslehrarbeit erledigen!“ (Das war dann, wenn ich vergessen hatte, dass es darum ging, Frauen zu besuchen und zu lehren. Das war dann, wenn ich das Besuchslehren eher als Last betrachtete denn als Segen.) Ich kann aber ehrlich sagen, dass ich mich jedes Mal, wenn ich meine Besuche machte, besser fühlte. Ich wurde erbaut und fühlte mich geliebt und gesegnet – meist noch viel mehr als die Schwester, die ich besuchte. Ich empfand mehr Liebe. Mein Wunsch, zu dienen, wurde stärker. Und mir wurde bewusst, welch wunderbaren Plan der Vater im Himmel für uns eingerichtet hat, damit wir übereinander wachen und füreinander sorgen.

Ein weiterer Segen der Besuchslehrarbeit besteht darin, dass wir diejenigen kennenlernen, die wir sonst wohl nicht so gut kennenlernen würden, und mit ihnen Freundschaft schließen. Manchmal können wir auf diese Weise die Antwort auf ein Gebet sein. Auch persönliche Offenbarung und geistige Erlebnisse sind eng mit der Besuchslehrarbeit verbunden.

Einige meiner schönsten geistigen Erfahrungen, die mich demütig stimmten und mit Freude erfüllten, habe ich gemacht, wenn ich Frauen aus meiner eigenen Gemeinde oder irgendwo auf der Welt zu Hause besuchte. Wir haben miteinander über das Evangelium gesprochen, wir haben zusammen geweint und gelacht und Probleme gelöst, und ich wurde erbaut und gesegnet.

Eines Abends, es war gegen Monatsende, traf ich gerade Reisevorbereitungen. Eine meiner Schwestern hatte ich in diesem Monat noch nicht besucht. Es war schon recht spät. Ich hatte keinen Termin. Ich hatte nicht angerufen. Eine Partnerin hatte ich auch nicht. Aber ich kam zu dem Schluss, dass es wichtig war, meine Freundin Julie zu besuchen. Julies Tochter Ashley war mit der Glasknochenkrankheit geboren worden. Ashley war fast sechs Jahre alt, aber sie war sehr klein und konnte nicht viel mehr tun, als ihre Arme bewegen und sprechen. Sie lag den ganzen Tag auf einem Schaffell, Tag für Tag. Ashley war ein glückliches, fröhliches Kind, und ich war gern mit ihr zusammen.

Als ich an diesem Abend bei Julie eintraf, bat sie mich herein, und Ashley rief mir gleich zu, dass sie mir etwas zeigen wolle. Ich ging hinein und kniete mich neben Ashley nieder. Ihre Mutter war auf der anderen Seite. Ashley meinte: „Schau, was ich kann!“ Dann drehte sich Ashley, mit ein wenig Unterstützung von ihrer Mutter, auf die Seite und wieder zurück. Sie hatte fast sechs Jahre gebraucht, um dieses wunderbare Ziel zu erreichen. Als wir in diesem besonderen Moment beide klatschten, jubelten, lachten und weinten, dankte ich dem Vater im Himmel, dass ich den Besuch gemacht und dieses wichtige Ereignis nicht versäumt hatte. Dieser Besuch liegt nun schon viele Jahre zurück und die kleine Ashley weilt inzwischen nicht mehr unter uns. Doch ich werde immer dankbar dafür sein, dass ich dieses besondere Erlebnis mit ihr hatte.

Meine eigene Mutter war viele Jahre lang eine wunderbare und tüchtige Besuchslehrerin. Sie dachte ständig darüber nach, wie sie den Familien, die sie besuchte, etwas Gutes tun konnte. Sie schenkte besonders den Kindern der Frauen, die sie besuchte, ihre Aufmerksamkeit und hoffte, so die Familien zu stärken. Ich weiß noch, wie eine Fünfjährige einmal in der Kirche auf meine Mutter zulief und ausrief: „Du bist meine Besuchslehrerin. Ich hab dich lieb!“ Für meine Mutter war es ein Segen, am Leben wunderbarer Frauen und ihrer Familie teilzuhaben.

Aber nicht alle Erfahrungen im Zusammenhang mit der Besuchslehrarbeit sind schön und angenehm. Manchmal ist es schwer, wenn man zum Beispiel jemanden besucht, bei dem man überhaupt nicht willkommen ist, oder wenn es schwierig ist, mit einer Schwester, die sehr viel zu tun hat, einen Termin zu vereinbaren. Bei manchen Schwestern mag es länger dauern, eine gute Beziehung aufzubauen. Aber wenn uns wirklich etwas daran liegt, eine Schwester lieb zu haben, uns um sie zu kümmern und für sie zu beten, dann wird uns der Heilige Geist helfen, einen Weg zu finden, wie wir über sie wachen und sie stärken können.

Präsident Thomas S. Monson ist ein Meister darin, sich so um andere zu kümmern wie der Erlöser. Er ist ständig damit befasst, andere zu besuchen und ihnen zu helfen. Er hat gesagt: „Wir sind umgeben von Menschen, die unsere Aufmerksamkeit, unseren Zuspruch, unsere Unterstützung, unseren Trost und unsere Freundlichkeit brauchen. … Wir sind die Hände des Herrn hier auf der Erde, und wir haben den Auftrag, zu dienen und seine Kinder emporzuheben. Er ist auf einen jeden von uns angewiesen.“12

„Und niemand kann bei diesem Werk helfen, wenn er nicht demütig und voller Liebe ist und Glauben, Hoffnung und Nächstenliebe hat und in allem, was auch immer seiner Obhut anvertraut wird, maßvoll ist.“13

Die Frauen, die wir als Besuchslehrerin besuchen, sind unserer Obhut anvertraut. Mögen wir voller Liebe und Mitgefühl sein und somit im Leben derer, die uns anvertraut sind, Gutes bewirken.

Schwestern, ich habe Sie lieb. Ich bete darum, dass Sie die Liebe unseres Vaters im Himmel und unseres Erlösers Jesus Christus spüren. Ich bezeuge Ihnen, dass der Erretter lebt. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Siehe Jill Mulvay Derr, Janath Russell Cannon und Maureen Ursenbach Beecher, Women of Covenant: The Story of Relief Society, 1992, Seite 32f.

  2. Judas 1:22, King-James-Übersetzung

  3. Siehe Matthäus 9:36; 14:14

  4. Siehe Johannes 13:15

  5. Siehe Mosia 18:8,9

  6. Siehe Mosia 4:26

  7. Siehe Lehre und Bündnisse 81:5

  8. Lehre und Bündnisse 88:77

  9. Lehre und Bündnisse 20:53

  10. Julie B. Beck, „Die FHV – ein heiliges Werk“, Liahona, November 2009, Seite 113

  11. Mosia 18:21

  12. Thomas S. Monson, „Was habe ich heute für einen anderen getan?“, Liahona, November 2009, Seite 85

  13. Lehre und Bündnisse 12:8