2010–2019
Was am wichtigsten ist
Oktober 2010


Was am wichtigsten ist

Wenn das Leben mit seinem rasanten Tempo und den vielen Belastungen es Ihnen schwer macht, sich von Herzen zu freuen, dann ist jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt, sich wieder auf das zu besinnen, was am wichtigsten ist.

Es ist bemerkenswert, was man durch die Beobachtung der Natur über das Leben lernen kann. Anhand von Baumringen beispielsweise können Forscher fundierte Schätzungen über das Klima und die Wachstumsbedingungen anstellen, die vor hunderten oder gar tausenden von Jahren herrschten. Beschäftigt man sich mit dem Wachstum der Bäume, stellt man fest, dass Bäume in Zeiten mit idealen Bedingungen eine normale Wachstumsgeschwindigkeit zeigen. In Zeiten, in denen die Wachstumsbedingungen nicht ideal sind, verlangsamt sich das Wachstum der Bäume hingegen, und sie stecken ihre gesamte Kraft in das Wesentliche, zum Überleben Notwendige.

An dieser Stelle denkt der eine oder andere von Ihnen vielleicht: „Das ist ja alles gut und schön, aber was hat das mit dem Steuern eines Flugzeugs zu tun?“ Nun, das kann ich Ihnen erklären.

Haben Sie schon einmal in einem Flugzeug gesessen, das in Turbulenzen geriet? Meist entstehen solche Turbulenzen durch eine plötzliche Veränderung der Luftbewegung, wodurch das Flugzeug absackt, giert und schlingert. Flugzeuge sind zwar so gebaut, dass sie weit heftigeren Turbulenzen standhalten, als man jemals auf einem regulären Flug erleben wird, aber für die Passagiere kann das dennoch sehr beunruhigend sein.

Was denken Sie, was ein Pilot unternimmt, wenn er in Turbulenzen gerät? Ein Flugschüler könnte glauben, eine höhere Geschwindigkeit wäre eine gute Strategie, weil er dann schneller durch die Turbulenzen kommt. Aber das könnte gerade falsch sein. Berufspiloten wissen, dass es eine optimale Geschwindigkeit gibt, mit der man beim Durchfliegen der Turbulenzen deren negative Auswirkungen minimiert. In den meisten Fällen bedeutet das, die Geschwindigkeit zu verringern. Das gleiche Prinzip gilt bei Bremsschwellen auf der Straße.

Deshalb ist es ein kluger Rat, die Geschwindigkeit ein wenig zu drosseln, den Kurs beizubehalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn widrige Bedingungen herrschen.

Das Tempo des modernen Lebens

Diese einfache, doch ganz entscheidende Lektion müssen wir lernen. Sie mag uns in Verbindung mit Bäumen oder Turbulenzen logisch erscheinen, aber es ist erstaunlich, wie leicht es ist, dieses Prinzip zu missachten, wenn es darum geht, es im täglichen Leben anzuwenden. Wenn die Belastungen zunehmen, wenn wir in Bedrängnis geraten oder einen Schicksalsschlag erleiden, dann versuchen wir allzu oft, dasselbe hektische Tempo beizubehalten oder sogar noch zu beschleunigen, weil wir irgendwie meinen, je rasanter wir vorgehen, desto besser kommen wir zurecht.

Ein Merkmal des modernen Lebens scheint zu sein, dass wir uns ungeachtet aller Turbulenzen oder Hindernisse mit immer höherer Geschwindigkeit bewegen.

Seien wir einmal ehrlich: Es ist doch ziemlich leicht, gut beschäftigt zu sein. Wir alle können uns eine Aufgabenliste vorstellen, die unseren Terminkalender sprengt. Manche meinen vielleicht sogar, ihr Selbstwert sei von der Länge ihrer Aufgabenliste abhängig. Sie stopfen die Lücken in ihrem Zeitplan mit unzähligen Sitzungen und Details voll – selbst wenn sie unter Anspannung stehen oder erschöpft sind. Da sie ihr Leben unnötig verkomplizieren, sind sie häufig zunehmend frustriert, sie empfinden kaum noch Freude und sehen wenig Sinn in ihrem Leben.

Es heißt, dass jede Tugend, die man übertreibt, zum Laster werden kann. Unsere Tage zu überfrachten, wäre sicher ein Beispiel dafür. Man kann einen Punkt erreichen, wo Meilensteine zu Mühlsteinen werden und Ziele zu einem Klotz am Bein.

Wie sieht die Lösung aus?

Wer klug ist, erkennt die Lehren, die man aus den Baumringen und den Turbulenzen ziehen kann, und wendet sie an. Er widersteht der Versuchung, sich in der hektischen Hast des Alltags zu verfangen. Er folgt dem Rat: „Es gibt Wichtigeres im Leben, als es immer schneller zu verbringen.“1 Kurz gesagt, er konzentriert sich auf das, was am wichtigsten ist.

Elder Dallin H. Oaks sagte vor kurzem bei einer Generalkonferenz: „Wir müssen einiges, was gut ist, aufgeben, um etwas anderes zu wählen, was besser oder am besten ist, weil wir dadurch Glauben an den Herrn Jesus Christus entwickeln und unsere Familie stärken.“2

Die Suche nach dem, was am besten ist, führt unweigerlich zu den elementaren Grundsätzen des Evangeliums Jesu Christi – zu den einfachen, schönen Wahrheiten, die uns der liebevolle, ewige und allwissende Vater im Himmel offenbart hat. Diese grundlegenden Lehren und Grundsätze bieten, obwohl sie so einfach sind, dass ein Kind sie verstehen kann, die Antwort auf die schwierigsten Fragen des Lebens.

Einfachheit bringt eine Schönheit und Klarheit mit sich, die wir manchmal in unserem Verlangen nach komplexen Lösungen nicht zu schätzen wissen.

Ein Beispiel: Bald nachdem Astronauten und Kosmonauten die Erde umkreisen konnten, stellte man fest, dass ein Kugelschreiber im Weltraum nicht funktionierte. Also machten sich ein paar sehr kluge Leute daran, dieses Problem zu lösen. Man brauchte zwar tausende von Stunden und viele Millionen Dollar, doch schließlich wurde ein Stift entwickelt, der überall, bei jeder Temperatur und auf fast jeder Oberfläche schreiben konnte. Doch wie kamen die Astronauten und Kosmonauten zurecht, bis das Problem gelöst war? Sie benutzten einfach einen Bleistift!

Leonardo da Vinci soll einmal gesagt haben: „Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung.“3 Wenn wir die elementaren Grundsätze im Plan des Glücklichseins – im Erlösungsplan – betrachten, erkennen wir an seiner Klarheit und Einfachheit, wie erhaben und schön die Weisheit des himmlischen Vaters ist, und wissen sie zu schätzen. Wenn wir dann unsere Wege an seinen Wegen ausrichten, sind wir im Begriff, selbst Weisheit zu erlangen.

Auf die Grundlagen kommt es an

Man erzählt sich, dass der legendäre Footballtrainer Vince Lombardi am ersten Trainingstag immer ein Ritual vollzog. Er hielt einen Football hoch, zeigte ihn den Spielern, die ja schon seit vielen Jahren Football spielten, und sagte: „Meine Herren, … das ist ein Football.“ Er sprach über die Form und die Größe des Balls und wie man ihn tritt, trägt und wirft. Dann ging er mit der Mannschaft aufs leere Spielfeld und sagte: „Das ist ein Footballfeld.“ Er ging mit den Spielern über das Spielfeld, beschrieb die Abmessungen, die Form, die Spielregeln und wie das Spiel gespielt wird.4

Dieser Trainer wusste, dass selbst erfahrene Spieler, ja, die ganze Mannschaft, nur dann Herausragendes leisten konnten, wenn sie die Grundlagen beherrschten. Sie könnten wohl ihre Zeit damit zubringen, raffinierte Spielzüge einzuüben, aber wenn sie die wesentlichen Grundlagen des Spiels nicht beherrschten, würden sie niemals die Meisterschaft gewinnen.

Ich denke, dass die meisten von uns instinktiv erfassen, wie wichtig die Grundlagen sind. Wir lassen uns nur manchmal von so vielem ablenken, was verlockender erscheint.

Druckerzeugnisse, eine breite Fülle an Medien, elektronische Geräte und Apparate – bei richtiger Nutzung ausnahmslos hilfreich – können zur schädlichen Ablenkung oder gnadenlosen Isolationszelle werden.

Doch inmitten der unzähligen Stimmen und Möglichkeiten steht der demütige Mann aus Galiläa mit ausgestreckten Händen da und wartet. Seine Botschaft ist ganz einfach: „Komm und folge mir nach!“5 Er spricht nicht über ein lautes Megafon, sondern mit einer sanften, leisen Stimme6. Die grundlegende Evangeliumsbotschaft kann in der Informationsflut, die uns von allen Seiten überschwemmt, ganz leicht untergehen.

In den heiligen Schriften und den Worten der lebenden Propheten liegt der Nachdruck auf den elementaren Grundsätzen und Lehren des Evangeliums. Wir wenden uns diesen elementaren Grundsätzen, den reinen Lehren, deshalb wieder zu, weil sie das Tor zu Wahrheiten von tiefer Bedeutung sind. Sie eröffnen uns Erfahrungen, die so erhaben und bedeutsam sind, dass sie unsere Auffassungsgabe sonst übersteigen würden. Diese schlichten, grundlegenden Prinzipien sind der Schlüssel dazu, mit Gott und den Mitmenschen in Harmonie zu leben. Sie sind die Schlüssel, die die Fenster des Himmels öffnen. Sie führen uns zu dem Frieden, der Freude und der Erkenntnis, die der Vater im Himmel seinen Kindern, die ihn hören und ihm gehorchen, verheißen hat.

Meine Brüder und Schwestern, wir täten gut daran, das Tempo ein wenig zu drosseln, mit der für unsere Umstände optimalen Geschwindigkeit voranzugehen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, emporzublicken und klar zu erkennen, was am wichtigsten ist. Beachten wir doch die grundlegenden Weisungen, die der Vater im Himmel seinen Kindern gegeben hat, die das Fundament bilden für ein reiches, ergiebiges irdisches Leben mit der Verheißung ewigen Glücks. Sie werden uns beeinflussen, alles in Weisheit und Ordnung zu tun, denn es ist nicht erforderlich, dass wir schneller laufen, als wir Kraft haben, aber es ist ratsam, dass wir eifrig sind und dadurch den Preis gewinnen.7

Brüder und Schwestern, eifrig das zu tun, was am wichtigsten ist, führt uns zum Erlöser der Welt. Und so reden wir von Christus, wir freuen uns über Christus, wir predigen von Christus, wir prophezeien von Christus, damit wir wissen mögen, von welcher Quelle wir Vergebung unserer Sünden erhoffen können.8 In der Komplexität, Verwirrung und Hektik der modernen Lebensweise ist dies der vortrefflichere Weg9.

Was also sind die Grundlagen?

Wenn wir uns an den Vater im Himmel wenden und nach seiner Weisheit trachten, um zu wissen, was am wichtigsten ist, erfahren wir immer wieder, wie entscheidend diese vier Beziehungen sind: zu unserem Gott, zu unserer Familie, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst. Wenn wir bereitwillig unser Leben überdenken, werden wir erkennen, wo wir vom vortrefflicheren Weg abgekommen sind. Die Augen unseres Verständnisses werden aufgetan, und wir begreifen, was wir tun müssen, um unser Herz zu reinigen und unser Leben wieder richtig auszurichten.

Erstens: Unsere Beziehung zu Gott ist überaus heilig und unabdingbar. Wir sind seine Geistkinder. Er ist unser Vater. Er möchte, dass wir glücklich werden. Wenn wir ihn suchen, wenn wir von seinem Sohn Jesus Christus lernen, wenn wir unser Herz dem Einfluss des Heiligen Geistes öffnen, finden wir im Leben mehr Halt und Sicherheit. Wir verspüren mehr Frieden, Freude und Erfüllung, wenn wir unser Bestes geben, um nach Gottes ewigem Plan zu leben und seine Gebote zu halten.

Wir verbessern unsere Beziehung zum Vater im Himmel, indem wir über ihn lernen, mit ihm sprechen, von unseren Sünden umkehren und engagiert Jesus Christus nachfolgen, denn „niemand kommt zum Vater außer durch [Christus]“10. Um unsere Beziehung zu Gott zu festigen, müssen wir etwas Zeit auf sinnerfüllte Weise nur mit ihm verbringen. In der Stille uns auf das tägliche persönliche Gebet und Schriftstudium konzentrieren, immer danach streben, würdig für einen Tempelschein zu sein – dies ist eine kluge Art, Zeit und Mühe zu investieren, um dem Vater im Himmel näherzukommen. Beherzigen wir die Aufforderung des Psalmisten: „Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin.“11

Die zweite wichtige Beziehung ist die zu unserer Familie. Da kein anderweitiger Erfolg ein Versagen in der Familie wettmachen kann12, muss uns unsere Familie sehr wichtig sein. Wir schaffen tiefe und liebevolle Beziehungen in der Familie durch ganz schlichte gemeinsame Erlebnisse – etwa gemeinsame Mahlzeiten, den Familienabend und einfach miteinander Spaß zu haben. In der Beziehung zur Familie wird Liebe in Wirklichkeit so buchstabiert: Z-e-i-t, also Zeit. Sich Zeit füreinander zu nehmen ist der Schlüssel zur Harmonie in der Familie. Wir sprechen lieber miteinander als übereinander. Wir lernen voneinander und schätzen sowohl unsere Unterschiede als auch unsere Gemeinsamkeiten. Wir schaffen eine heilige Verbundenheit miteinander, wenn wir uns durch das Familiengebet, das Evangeliumsstudium und den Gottesdienst am Sonntag gemeinsam Gott zuwenden.

Die dritte wichtige Beziehung ist die zu unseren Mitmenschen. Um diese Beziehung aufzubauen, muss man sich jeweils auf einen Menschen konzentrieren – indem man auf seine Bedürfnisse eingeht, ihm Gutes tut, sich Zeit für ihn nimmt und ihn von Talenten profitieren lässt. Eine Schwester hat mich sehr beeindruckt. Alter und Krankheit machten ihr schwer zu schaffen, und es gab nicht viel, was sie tun konnte, doch sie stellte fest, dass sie zuhören konnte. Also hielt sie jede Woche nach Menschen Ausschau, die besorgt oder mutlos aussahen. Dann verbrachte sie etwas Zeit mit ihnen und hörte ihnen zu. So war sie vielen Menschen ein großer Segen.

Die vierte wichtige Beziehung ist die zu uns selbst. Der Gedanke, dass man zu sich selbst eine Beziehung hat, mag seltsam erscheinen, aber es ist so. Manche Menschen kommen mit sich selbst nicht aus. Den ganzen Tag lang kritisieren sie sich selbst und setzen sich herab, bis sie sich allmählich selbst verabscheuen. Ich lege Ihnen nahe, zur Ruhe zu kommen und sich ein wenig Zeit zu nehmen, um sich selbst besser kennenzulernen. Machen Sie einen Spaziergang in der Natur, beobachten Sie einen Sonnenaufgang, erfreuen Sie sich an Gottes Schöpfung, denken Sie über die Wahrheiten des wiederhergestellten Evangeliums nach, und finden Sie heraus, was diese Ihnen persönlich bedeuten. Lernen Sie, sich so zu sehen, wie der Vater im Himmel Sie sieht – als seine kostbare Tochter, als seinen kostbaren Sohn mit gottgegebenen Anlagen.

Erfreuen Sie sich am reinen Evangelium

Brüder und Schwestern, seien wir weise. Wenden wir uns der reinen Quelle zu, nämlich den Lehren des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi. Genießen wir sie voll Freude in ihrer Einfachheit und Klarheit. Der Himmel steht wieder offen. Das Evangelium Jesu Christi ist wieder auf der Erde, und die einfachen Wahrheiten des Evangeliums sind eine reiche Quelle der Freude!

Brüder und Schwestern, wir haben wahrhaft Grund, uns zu freuen. Wenn das Leben mit seinem rasanten Tempo und den vielen Belastungen es Ihnen schwer macht, sich von Herzen zu freuen, dann ist jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt, sich wieder auf das zu besinnen, was am wichtigsten ist.

Kraft erlangt man nicht durch hektische Betriebsamkeit, sondern dadurch, dass man fest auf dem Fundament der Wahrheit und des Lichts ruht. Man erlangt sie dadurch, dass man seine Aufmerksamkeit und seine Bemühungen auf die Grundlagen des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi richtet. Man erlangt sie, indem man dem, was von Gott und am wichtigsten ist, Aufmerksamkeit schenkt.

Vereinfachen wir unser Leben doch ein wenig. Nehmen wir die notwendigen Veränderungen vor, um uns wieder auf den einfachen, schlichten Weg eines Jüngers Christi zu besinnen – einen Weg von erhabener Schönheit, der immer zu einem sinnerfüllten Leben voller Freude und Frieden führt. Darum bete ich, und ich segne Sie im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Mahatma Gandhi, zitiert in Wisdom for the Soul von Larry Chang, 2006, Seite 356

  2. Dallin H. Oaks, „Gut, besser, am besten“, Liahona, November 2007, Seite 107

  3. Leonardo da Vinci, zitiert in The Book of Positive Quotations, John Cook, Hg., 2. Auflage, 1993, Seite 262

  4. Vince Lombardi, zitiert in Run to Win: Vince Lombardi on Coaching and Leadership von Donald T. Phillips, 2001, Seite 92

  5. Lukas 18:22

  6. Siehe 1 Könige 19:12

  7. Siehe Mosia 4:27

  8. Siehe 2 Nephi 25:26

  9. SieheEther 12:11

  10. Johannes 14:6

  11. Psalmen 46:11

  12. Siehe J. E. McCulloch, Home: The Savior of Civilization, 1924, Seite 42; zitiert bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1935