2010–2019
Der Maßstab des Tempels
Oktober 2012


Der Maßstab des Tempels

Der hohe Maßstab, den diese Kirche beim Tempelbau ansetzt, ist ein Vorbild, ja, ein Symbol dafür, wie wir unser Leben führen sollen.

Als ich kürzlich den schönen Brigham-City-Utah-Tempel besichtigte, erinnerte ich mich an ein Erlebnis aus der Zeit, als ich beauftragt war, die Tage der offenen Tür und die erneute Weihung des historischen Laie-Hawaii-Tempels sowie die damit verbundenen Feierlichkeiten zu koordinieren.

Ein paar Monate vor Abschluss der umfangreichen Renovierungsarbeiten lud man mich ein, zusammen mit dem Direktor der Hauptabteilung Tempel, Elder William R. Walker, und einigen seiner Mitarbeiter den Tempel zu besichtigen. Auch einige Mitarbeiter der als Generalunternehmer beauftragten Firma waren dabei. Zweck der Besichtigung war auch, den Fortschritt und die Qualität der geleisteten Arbeit zu überprüfen. Zum Zeitpunkt der Besichtigung waren etwa 85 Prozent der Arbeiten abgeschlossen.

Während wir durch den Tempel gingen, sah und hörte ich, wie Elder Walker und seine Mitarbeiter die Arbeit inspizierten und sich mit dem Generalunternehmer unterhielten. Hin und wieder beobachtete ich, wie einer der Männer mit der Hand über die Wände strich, als wir von einem Raum zum nächsten gingen. Nachdem sich das einige Male so wiederholt hatte, rieb er die Finger aneinander und wandte sich an den Generalunternehmer: „Diese Wand fühlt sich zu rau an. Das entspricht nicht dem Maßstab des Tempels. Sie müssen diese Wand noch einmal abschleifen und polieren.“ Der Vertreter der Baufirma notierte pflichtbewusst jede Beobachtung.

Als wir uns einer Stelle im Tempel näherten, die nur wenige je zu Gesicht bekommen würden, blieb dieser Mann stehen und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf ein frisch eingesetztes, wunderschönes, bleiverglastes Fenster. Das Fenster, etwas über einen halben Meter breit und fast zwei Meter hoch, wies ein feines geometrisches Muster aus eingesetztem Buntglas auf. Der Mann zeigte auf ein kleines Buntglasquadrat von fünf Zentimetern innerhalb des einfachen Musters und sagte: „Das Quadrat dort ist schief.“ Ich betrachtete das Quadrat; für mich sah es so aus, als sei es gerade eingesetzt worden. Als ich jedoch ein Messgerät zur Hand nahm und es näher inspizierte, konnte ich den Mangel erkennen. Das kleine Quadrat stand tatsächlich etwa drei Millimeter schief. Der Generalunternehmer erhielt sodann die Anweisung, dieses Fenster auszutauschen, weil es nicht dem Maßstab des Tempels entsprach.

Ich war zugegebenermaßen überrascht, dass wegen eines so kleinen, kaum sichtbaren Mangels das ganze Fenster ausgetauscht werden musste. Es war doch unwahrscheinlich, dass irgendjemand je davon erfahren oder dieses Fenster an einer so abgelegenen Stelle im Tempel überhaupt bemerken würde.

Als ich an dem Tag vom Tempel nach Hause fuhr, dachte ich darüber nach, was ich aus diesem Erlebnis gelernt hatte – oder vielmehr, was ich gelernt zu haben glaubte. Erst einige Wochen später nämlich, als man mich einlud, den mittlerweile fertiggestellten Tempel zu besichtigen, verstand ich besser, was ich bei der vorherigen Besichtigung erlebt hatte.

Als ich den vollständig renovierten Laie-Hawaii-Tempel betrat, war ich von seiner Schönheit und der Verarbeitungsqualität überwältigt. Sie können sich vorstellen, wie gespannt ich war, als ich mich den „rauen“ Wänden und dem „mangelhaften“ Fenster näherte. Hatte der Generalunternehmer die Wände wirklich noch einmal abgeschliffen und poliert? War das Fenster tatsächlich ausgetauscht worden? Als ich an die rauen Wände herantrat, stellte ich überrascht fest, dass wunderschöne Tapeten die Wände zierten. Mein erster Gedanke war: „So hat also diese Firma das Problem gelöst: Die rauen Stellen wurden überdeckt.“ Doch weit gefehlt: Ich erfuhr, dass es von vornherein geplant gewesen war, diese Wände zu tapezieren. Ich fragte mich, warum einige wenige, kaum sichtbare raue Stellen eine Rolle spielten, wenn sie sowieso von Tapete bedeckt werden würden. Erwartungsvoll ging ich auf die Stelle zu, an der sich das mangelhafte Fenster befand. Zu meiner Überraschung stand direkt vor dem Fenster eine Topfpflanze, die vom Boden bis zur Decke reichte. Wiederum dachte ich: „Die Firma hat das Problem mit dem schief stehenden kleinen Quadrat gelöst, indem sie es versteckt hat.“ Ich trat etwas näher heran, schob die Blätter der Pflanze beiseite und lächelte, als ich sah, dass das Fenster tatsächlich ausgetauscht worden war. Das einst schief stehende kleine Quadrat fügte sich nun nahtlos und glatt in das Muster ein. Ich erfuhr, dass man bei der Raumgestaltung von vornherein vorgesehen hatte, eine Pflanze vor dieses Fenster zu stellen.

Weshalb erforderten ein paar raue Stellen und ein nicht ganz ebenmäßiges Fenster Zusatzarbeiten oder gar einen Austausch, wenn dies doch nur wenige in die Hand oder zu Gesicht bekommen würden? Warum galten für den Generalunternehmer so hohe Maßstäbe?

Als ich den Tempel gedankenversunken verließ, erhielt ich Antwort auf meine Fragen, als ich die frisch renovierte Fassade hochsah und die Worte las: „Heilig dem Herrn – das Haus des Herrn.“

Die Tempel dieser Kirche sind genau das, als was sie bezeichnet werden. Diese heiligen Gebäude werden für uns gebaut, und innerhalb ihrer Mauern werden heilige und errettende heilige Handlungen vollzogen. Doch soll kein Zweifel darüber aufkommen, wessen Haus der Tempel in Wahrheit ist. Indem die Maßstäbe für den Bau bis hin zum kleinsten Detail genau eingefordert werden, bekunden wir nicht nur unsere Liebe und Achtung gegenüber dem Herrn Jesus Christus, sondern zeigen auch allen Beobachtern, dass wir ihn, dessen Haus der Tempel ist, ehren und verehren.

In der Offenbarung, in der der Prophet Joseph Smith beauftragt wurde, in Nauvoo einen Tempel zu bauen, wies der Herr an:

„Kommt mit all eurem Gold und eurem Silber und euren Edelsteinen und mit all euren alten Kostbarkeiten und mit all jenen, die von alten Kostbarkeiten Kenntnis haben[,] und bringt … alle kostbaren Bäume der Erde mit; …

und baut meinem Namen ein Haus, dass der Allerhöchste darin wohnen kann.“1

Dies entspricht dem Muster, das König Salomo im Alten Testament festsetzte, als er dem Herrn einen Tempel baute und dabei nur beste Materialien und höchste Handwerkskunst zum Einsatz kamen.2 Heutzutage halten wir uns beim Bau der Tempel der Kirche in dem gebotenen Ausmaß weiterhin an dieses Muster.

Eines habe ich dabei gelernt: Auch wenn das Auge oder die Hand eines Menschen einen Mangel vielleicht niemals bemerken wird, kennt doch der Herr das Maß unserer Anstrengungen und weiß, ob wir unser Allerbestes gegeben haben. Das gilt auch für unsere Bemühungen, so zu leben, dass wir der Segnungen des Tempels würdig sind. Der Herr hat gesagt:

„Und insofern mir mein Volk im Namen des Herrn ein Haus baut und nicht zulässt, dass etwas Unreines hineingelangt, damit es nicht entweiht werde, wird meine Herrlichkeit darauf ruhen;

ja, und meine Gegenwart wird da sein, denn ich werde dorthin kommen; und alle, die im Herzen rein sind, die dorthin kommen, werden Gott sehen.

Aber wenn es entweiht wird, werde ich nicht dorthin kommen, und meine Herrlichkeit wird nicht da sein; denn ich komme nicht in unheilige Tempel.“3

Wenn uns etwas in unserem Leben auffällt, was nicht mit den Lehren des Herrn übereinstimmt, wenn wir nicht unser Allerbestes gegeben haben, müssen wir wie dieser Generalunternehmer schnell handeln und alles, was fehlerhaft ist, in Ordnung bringen. Uns muss bewusst sein, dass wir unsere Sünden nicht vor dem Herrn verbergen können. Denken wir daran: „Wenn wir versuchen, unsere Sünden zu verdecken …, siehe, dann ziehen sich die Himmel zurück [und] der Geist des Herrn ist betrübt.“4

Ich habe auch erkannt, dass der hohe Maßstab, den diese Kirche beim Tempelbau ansetzt, ein Vorbild, ja, ein Symbol dafür ist, wie wir unser Leben führen sollen. Wir können das, was der Apostel Paulus der Urkirche nahelegte, auch auf uns beziehen. Er sagte:

„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?

Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“5

Jeder von uns ist aus den besten Materialien erschaffen worden. Wir sind das wundersame Ergebnis göttlicher Handwerkskunst. Wenn wir jedoch das Alter der Verantwortlichkeit erreicht haben und das Schlachtfeld der Sünde und Versuchung betreten, mag unser eigener Tempel Renovierungs- und Reparaturarbeiten nötig haben. Vielleicht findet sich in uns manch raue Wand, die neu verputzt werden muss, oder ein Fenster unserer Seele, das ausgetauscht werden muss, damit wir an heiligen Stätten stehen können. Der Maßstab für den Tempel, den wir erfüllen sollen, lautet glücklicherweise nicht Vollkommenheit, obgleich wir danach streben. Vielmehr müssen wir die Gebote halten und unser Bestes geben, um als Jünger Jesu Christi zu leben. Mögen wir uns alle anstrengen, ein Leben zu führen, das der Segnungen des Tempels würdig ist, indem wir unser Bestes geben, die notwendigen Verbesserungen vornehmen und Makel und Unvollkommenheiten beseitigen, damit der Geist Gottes immer in uns wohnen kann. Im Namen Jesu Christi. Amen.