2010–2019
„Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir“
April 2014


„Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir“

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Jean A. Stevens

Wenn wir nach und nach mehr Glauben an den Herrn und mehr Vertrauen zu ihm aufbringen, können wir seine Macht, uns zu segnen und zu befreien, in Anspruch nehmen.

Nur wenige Gefühle lassen sich mit den zarten Empfindungen vergleichen, die man hat, wenn man Vater oder Mutter wird. Nichts ist entzückender, als ein kostbares Baby direkt vom Himmel zu empfangen. Einer meiner Brüder erlebte diese Gefühle besonders intensiv. Sein erster Sohn wurde zu früh geboren und wog gerade mal 1300 Gramm. Hunter verbrachte die ersten zwei Monate seines Lebens auf der Frühchenstation des Krankenhauses. Diese Monate waren für die ganze Familie eine sehr bewegte Zeit, in der wir auf die Hilfe des Herrn hofften und sie erflehten.

Der kleine Hunter war auf alles angewiesen. Er kämpfte um die Kraft, die er fürs Überleben brauchte. Die starke Hand seines liebevollen Vaters ergriff häufig sein winziges Händchen, um dieses schutzlose kleine Kind zu ermutigen.

So verhält es sich bei allen Kindern Gottes. Unser Vater im Himmel streckt seine Hand nach uns aus – mit grenzenloser Liebe. Er hat Macht über alles und will uns helfen, zu lernen, zu wachsen und zu ihm zurückzukehren. Darin liegt die Absicht unseres Vaters, nämlich „die Unsterblichkeit und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen“1.

Wenn wir nach und nach mehr Glauben an den Herrn und mehr Vertrauen zu ihm aufbringen, können wir seine Macht, uns zu segnen und zu befreien, in Anspruch nehmen.

Dieser herrliche Gedanke, dass der Herr die Macht hat, seine Kinder zu befreien, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch Mormon. Nephi spricht gleich im allerersten Kapitel des Buches davon. In Vers 20 lesen wir: „Aber siehe, ich, Nephi, werde euch zeigen, dass die liebevolle, große Barmherzigkeit des Herrn über all denen waltet, die er ihres Glaubens wegen erwählt hat, um sie mächtig zu machen, ja, zur Kraft der Befreiung.“2

Vor vielen Jahren erkannte ich auf ganz persönliche Art und Weise, wie viel Wahrheit in diesem Vers steckt. Mir wurde bewusst, wie nahe uns der Vater im Himmel tatsächlich ist und wie sehr er uns helfen möchte.

Eines Abends, als es gerade dunkel wurde, fuhr ich mit meinen Kindern im Auto, als mir ein Junge auffiel, der die menschenleere Straße entlangging. Kaum waren wir an ihm vorbeigefahren, hatte ich das deutliche Gefühl, ich solle zurückfahren und ihm helfen. Aus Sorge jedoch, es könne dem Jungen Angst einjagen, wenn eine Wildfremde im Dunkeln neben ihm hielt, fuhr ich weiter. Das starke Gefühl kehrte wieder, und eine innere Stimme sagte: „Hilf diesem Jungen!“

Ich fuhr zu ihm zurück und fragte: „Brauchst du Hilfe? Ich hatte das Gefühl, ich solle dir helfen.“

Er wandte sich uns zu und sagte, während ihm Tränen die Wangen hinabliefen: „Wirklich? Ich habe darum gebetet, dass mir jemand hilft.“

Sein Gebet um Hilfe wurde mit der Inspiration, die ich empfing, beantwortet. Die klare Weisung, die ich damals durch den Heiligen Geist erhielt, hat sich meinem Herzen bis heute unvergesslich eingeprägt.

Nach 25 Jahren und dank der barmherzigen Liebe Gottes konnte ich jetzt vor einigen Monaten zum ersten Mal erneut Kontakt zu diesem Jungen aufnehmen. Ich erfuhr, dass nicht nur ich häufig von diesem Erlebnis erzähle – er tut es auch. Deric Nance ist jetzt selbst Familienvater. Auch er hat dieses Erlebnis nie vergessen. Mit diesem Erlebnis konnten wir für den Glauben, dass Gott unsere Gebete hört und erhört, eine Grundlage legen. Wir beide haben unseren Kindern an diesem Beispiel erklärt, dass Gott über uns wacht. Wir sind nicht allein.

An dem besagten Abend war Deric noch zu einer Veranstaltung in der Schule geblieben und hatte den letzten Bus verpasst. Jung wie er war, meinte er, es sei kein Problem, den Weg nach Hause zu Fuß zu gehen, und so marschierte er los.

Es waren bereits anderthalb Stunden vergangen, als er die menschenleere Straße entlangging. Er war noch etliche Kilometer von zu Hause entfernt und es waren keine Häuser in Sicht. Er hatte Angst. In seiner Verzweiflung ging er hinter einen Kieshaufen, kniete nieder und bat den himmlischen Vater um Hilfe. Deric war gerade ein paar Minuten wieder auf der Straße, als ich anhielt und ihm die Hilfe anbot, um die er gebetet hatte.

Heute, nach all den vielen Jahren, erinnert sich Deric: „Der Herr hat an mich gedacht, einen spindeldürren, kurzsichtigen Jungen. Trotz allem, was sich sonst auf der Welt ereignete, war er sich meiner Lage bewusst und liebte mich so sehr, dass er Hilfe sandte. Der Herr hat seit diesem Erlebnis auf der abgeschiedenen Straße noch viele weitere meiner Gebete erhört. Seine Antworten kommen nicht immer so unmittelbar und klar, aber er achtet heute noch genauso sorgsam auf mich wie an jenem einsamen Abend. Wenn sich die dunklen Schatten des Lebens über meine Welt legen, weiß ich immer, dass er einen Plan hat, wie ich sicher nach Hause komme.“

Wie Deric sagte, wird nicht jedes Gebet so schnell erhört. Doch unser Vater kennt uns tatsächlich und hört uns innerlich flehen. Er bewirkt seine Wunder, Gebet für Gebet, für einen nach dem andern.

Wir können darauf vertrauen, dass er uns hilft – nicht unbedingt so, wie wir es gerne hätten, aber doch auf die Weise, die uns am besten hilft, zu wachsen. Uns seinem Willen zu unterwerfen, mag schwierig sein, doch ist es notwendig, um so zu werden wie er und um den Frieden zu finden, den er uns anbietet.

Auch wir können das empfinden, was C. S. Lewis beschrieb: „Ich bete, weil ich mir selbst nicht helfen kann. … Ich bete, weil das Verlangen danach immerzu aus mir hervorbricht, ob ich wache oder schlafe. … Gott ändert sich dadurch nicht. Ich ändere mich.“3

In den heiligen Schriften gibt es viele Berichte von Menschen, die ihr Vertrauen auf den Herrn setzten und von ihm Hilfe und Befreiung erfuhren. Denken Sie an den jungen David, der dem sicheren Tod durch die Hand des starken Goliat entging, indem er sich auf den Herrn verließ. Betrachten Sie Nephi, dessen Flehen zu Gott dazu führte, dass er aus der Hand seiner Brüder befreit wurde, die ihm nach dem Leben getrachtet hatten. Erinnern Sie sich an den jungen Joseph Smith, der gebeterfüllt beim Herrn Hilfe suchte. Er wurde aus der Macht der Dunkelheit befreit und erhielt eine wundersame Antwort. Jeder dieser Menschen sah sich realen, handfesten Schwierigkeiten gegenüber. Jeder von ihnen handelte im Glauben und setzte sein Vertrauen auf den Herrn. Jeder von ihnen erhielt Gottes Hilfe. Und auch heute noch zeigen sich die Macht und Liebe Gottes im Leben seiner Kinder.

Ich habe dies kürzlich bei tiefgläubigen Heiligen in Simbabwe und Botsuana erleben dürfen. Ich nahm an einer Fast- und Zeugnisversammlung in dem kleinen Zweig Chiwaridzo teil. Die Zeugnisse der Kinder und Jugendlichen wie auch der Erwachsenen erfüllten mich mit Demut und Inspiration. Jeder von ihnen tat auf machtvolle Weise seinen Glauben an den Herrn Jesus Christus kund. Trotz der Herausforderungen und schwierigen Umstände in ihrer Umgebung leben sie jeden Tag im Vertrauen auf Gott. Sie erkennen seine Hand in ihrem Leben an und drücken dies oft mit den Worten aus: „Ich bin Gott so dankbar.“

Vor ein paar Jahren bezeugte eine treue Familie den Mitgliedern unserer Gemeinde ebenfalls beispielhaft dieses Vertrauen auf den Herrn. Arn und Venita Gatrell führten ein glückliches Leben, als bei Arn eine bösartige Krebsart festgestellt wurde. Die Prognose war erschütternd: Er hatte nur noch ein paar Wochen zu leben. Die Familie wollte ein letztes Mal zusammen sein. Alle Kinder kamen herbei, manche von weither. Sie konnten nur 48 kostbare Stunden als Großfamilie verbringen. Die Gatrells überlegten gründlich, was ihnen am wichtigsten war: ein Familienfoto, ein Familienessen und eine Session im Salt-Lake-Tempel. Venita sagte: „Als wir den Tempel verließen, war es das letzte Mal, dass wir in diesem Leben zusammen waren.“

Doch sie verließen den Tempel in der Gewissheit, dass es viel mehr gibt als nur dieses Leben. Dank heiliger Tempelbündnisse können sie auf Gottes Verheißungen hoffen. Sie können für immer zusammen sein.

Die folgenden zwei Monate waren mit mehr Segnungen angefüllt, als man aufzählen kann. Arns und Venitas Glaube und ihr Vertrauen auf den Herrn wuchsen – wie sich in Venitas Worten zeigt: „Ich wurde getragen. Ich lernte, dass man inmitten von Unruhe Frieden spüren kann. Ich wusste, dass der Herr über uns wacht. Wenn man auf den Herrn vertraut, kann man tatsächlich alle Herausforderungen des Lebens meistern.“

Eine ihrer Töchter meinte dazu: „Wir beobachteten unsere Eltern und sahen ihr Beispiel. Wir sahen ihren Glauben und wie sie damit umgingen. Ich hätte niemals um diese Prüfung gebeten, aber ich möchte sie auch nicht missen. Gottes Liebe umgab uns.“

Dass Arn schließlich verschied, war natürlich nicht der Ausgang, den sich die Gatrells erhofft hatten. Doch war diese Krise keine Glaubenskrise. Das Evangelium Jesu Christi ist keine Liste mit Punkten zum Abhaken, sondern etwas, was in unserem Herzen wohnt. Das Evangelium „ist keine Last, es schenkt uns Flügel“4. Es trägt uns. Es hat auch Familie Gatrell getragen. Sie empfanden Frieden inmitten des Sturms. Sie hielten aneinander und an den Tempelbündnissen fest, die sie geschlossen und gehalten hatten. Sie waren mehr und mehr imstande, auf den Herrn zu vertrauen, und sie wurden durch ihren Glauben an Jesus Christus und an die Macht seines Sühnopfers gestärkt.

Wo wir uns auch auf dem Weg eines Jüngers befinden mögen, welche Sorgen und Nöte wir auch haben mögen – wir sind nicht allein. Sie werden nicht vergessen. Wie bei Deric, den Heiligen in Afrika oder der Familie Gatrell liegt es an uns, ob wir in der Not Gottes Hand ergreifen. Wir können unseren Herausforderungen mit dem Gebet und mit Vertrauen auf den Herrn begegnen. Und dabei werden wir ihm ähnlicher.

Der Herr wendet sich an jeden von uns, wenn er sagt: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; hab keine Angst, denn ich bin dein Gott. Ich helfe dir, ja, ich mache dich stark, ja, ich halte dich mit meiner hilfreichen Rechten.“5

Ich gebe Ihnen mein demütiges, doch sicheres Zeugnis, dass Gott, unser Vater, uns persönlich kennt und sich uns zuwendet, um uns zu helfen. Durch seinen geliebten Sohn, Jesus Christus, können wir die Anfechtungen der Welt überwinden und sicher nach Hause zurückgeleitet werden. Mögen wir voller Glauben auf ihn vertrauen, darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Mose 1:39

  2. 1 Nephi 1:20

  3. Gesprochen von der Figur C. S. Lewis im Theaterstück Shadowlands von William Nicholson, 1989, Seite 103

  4. Harry Emerson Fosdick, Twelve Tests of Character, 1923, Seite 88

  5. Jesaja 41:10