2010–2019
Wenn du die Verantwortung übernimmst
April 2015


Wenn du die Verantwortung übernimmst

Mögen wir vorwärtsstreben, indem wir unsere Pflicht erlernen, richtige Entscheidungen treffen, gemäß dieser Entscheidungen handeln und den Willen unseres Vaters annehmen.

Ich war erst 12 Jahre alt, als zum ersten Mal Missionare zum Predigen in die Stadt in Nordchile kamen, wo ich geboren wurde. Nachdem ich schon sechs Monate lang den kleinen Zweig besucht hatte, bot mir an einem Sonntag ein Missionar das Brot an, als er das Abendmahl austeilte. Ich sah ihn an und sagte leise: „Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“, fragte er.

Ich antwortete ihm: „Weil ich kein Mitglied der Kirche bin.“1

Der Missionar konnte es kaum glauben. Seine Augen strahlten. Bestimmt dachte er: „Diese Junge kommt doch zu jeder Versammlung! Wie kann es sein, dass er nicht der Kirche angehört?“

Am nächsten Tag waren die Missionare bei mir zu Hause und ließen nichts unversucht, um meine ganze Familie zu unterweisen. Meine Familie hatte zwar kein Interesse, aber die Tatsache, dass ich über sechs Monate lang die Kirche besucht hatte, gab den Missionaren den Mut weiterzumachen. Endlich kam der große Moment, auf den ich lange gewartet hatte, als sie mich fragten, ob ich ein Mitglied der Kirche Jesu Christi werden möchte. Die Missionare erklärten mir, dass ich als Minderjähriger das Einverständnis meiner Eltern brauchte. Ich ging mit den Missionaren zu meinem Vater und war überzeugt, dass seine liebevolle Antwort lauten würde: „Mein Sohn, wenn du volljährig bist, kannst du das allein entscheiden.“

Während die Missionare mit ihm sprachen, betete ich eifrig, dass sein Herz berührt werden möge, damit er mir die Erlaubnis gab, die ich wollte. Seine Antwort an die Missionare lautete folgendermaßen: „Brüder, die letzten sechs Monate habe ich gesehen, wie mein Sohn Jorge jeden Sonntagmorgen früh aufsteht, seine beste Kleidung anzieht und zur Kirche geht. Die Kirche hat ihn in jeder Hinsicht positiv beeinflusst.“ Dann wandte er sich an mich und überraschte mich, als er sagte: „Mein Sohn, wenn du die Verantwortung für diese Entscheidung übernimmst, bekommst du meine Erlaubnis, dich taufen zu lassen.“ Ich umarmte meinen Vater, gab ihm einen Kuss und dankte ihm für seine Erlaubnis. Am folgenden Tag ließ ich mich taufen. Letzte Woche war der 47. Jahrestag dieses besonderen Moments in meinem Leben.

Welche Verantwortung tragen wir als Mitglieder der Kirche Jesu Christi? Präsident Joseph Fielding Smith hat es so erklärt: „Wir haben zwei große Aufgaben. … Erstens müssen wir nach unserer eigenen Errettung streben, und zweitens müssen wir unsere Pflicht gegenüber unseren Mitmenschen erfüllen.“2

Das sind also die Hauptaufgaben, die unser Vater uns übertragen hat: unsere eigene Errettung und die anderer erstreben. Dabei muss uns klar sein, dass Errettung hier bedeutet, den höchsten Grad der Herrlichkeit zu erlangen, den unser Vater für seine gehorsamen Kinder bereitet hat.3 Diese Aufgaben, mit denen wir betraut wurden – und wir haben sie aus freien Stücken angenommen –, müssen unsere Prioritäten, unsere Wünsche, unsere Entscheidungen und unser Verhalten im täglichen Leben bestimmen.

Für jemanden, der verstanden hat, dass dank dem Sühnopfer Christi die Erhöhung tatsächlich erreichbar ist, bedeutet es Verdammnis, sie nicht zu erreichen. Das Gegenteil von Errettung ist folglich Verdammnis, so wie das Gegenteil von Erfolg Misserfolg ist. Präsident Thomas S. Monson hat erklärt: „Wer einmal gesehen hat, dass Herausragendes für ihn erreichbar ist, kann sich nicht lange mit Mittelmäßigkeit zufriedengeben.“4 Wie können wir uns dann also mit etwas Geringerem als der Erhöhung zufriedengeben, wenn wir wissen, dass Erhöhung möglich ist?

Ich möchte Ihnen vier Grundprinzipien vorstellen, die uns dabei helfen, unseren Wunsch zu erfüllen, dem Vater im Himmel gegenüber Verantwortung zu zeigen sowie seinen Erwartungen zu entsprechen, nämlich so zu werden, wie er ist.

1. Unsere Pflicht erlernen

Wenn wir Gottes Willen tun wollen und wenn wir ihm gegenüber verantwortlich sein wollen, müssen wir anfangen zu lernen, zu verstehen, zu akzeptieren und gemäß dem zu leben, was er für uns will. Der Herr hat gesagt: „Darum lasst nun einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.“5 Es ist nicht genug, den Wunsch zu haben, das Rechte zu tun, wenn wir uns nicht vergewissern, dass wir wissen, was unser Vater von uns erwartet und von uns möchte.

In der Geschichte von Alice im Wunderland weiß Alice nicht, welchen Weg sie nehmen soll und fragt deshalb die Grinsekatze: „Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier aus nehmen muss?“

Die Katze entgegnet: „Das hängt in erster Linie davon ab, wo du hin willst.“

Alice antwortet: „Das ist mir ziemlich egal.“

„Dann ist es auch egal, welchen Weg du nimmst“, sagt die Katze.6

Wir jedoch kennen den Weg, der zum „Baum [führt], dessen Frucht begehrenswert [ist], um einen glücklich zu machen“7. Der Weg, der zum Leben führt, ist eng, man muss sich anstrengen, um diesen Weg entlangzugehen, und „nur wenige finden ihn“8.

Nephi hat gesagt: „Die Worte von Christus werden euch alles sagen, was ihr tun sollt.“9 Dann sagt er weiter: Der Heilige Geist wird „euch alles zeigen, was ihr tun sollt“10. Folglich sind die Quellen, die es uns ermöglichen, unsere Pflicht zu erlernen, die Worte Christi, die wir durch Propheten aus alter und heutiger Zeit sowie durch persönliche Offenbarung und den Heiligen Geist empfangen.

2. Eine Entscheidung treffen

Ob wir von der Wiederherstellung des Evangeliums erfahren haben oder von einem bestimmten Gebot, den Pflichten, die mit einer bestimmten Berufung einhergehen, oder den Bündnissen, die wir im Tempel eingehen – wir haben die Wahl, ob wir gemäß unserer neuen Erkenntnis handeln. Jeder Mensch wählt frei für sich selbst, ob er einen heiligen Bund wie die Taufe oder die heiligen Handlungen im Tempel eingehen möchte. Da es für die Menschen in alter Zeit ein normaler Teil des religiösen Lebens war, einen Eid abzulegen, hieß es damals im Gesetz: „Ihr sollt nicht falsch bei meinem Namen schwören.“11 In der Mitte der Zeiten lehrte der Heiland jedoch ein höheres Gesetz, wie wir unsere Verpflichtungen halten sollen, als er sagte, dass ein Ja ja bedeuten soll und ein Nein nein.12 Das Wort eines Menschen sollte ausreichen, um seine Aufrichtigkeit und sein Bekenntnis zu jemand anderem zu erkennen – vor allem, wenn dieser Jemand der Vater im Himmel ist. Wenn wir uns an eine Verpflichtung halten, zeigt dies die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit unseres Wortes.

3. Entsprechend handeln

Nachdem wir gelernt haben, was unsere Pflicht ist, und die damit verbundenen Entscheidungen treffen, müssen wir entsprechend handeln.

Ein beeindruckendes Beispiel für die feste Entschlossenheit, seine Verpflichtung gegenüber dem Vater zu erfüllen, finden wir in der Begebenheit, als ein Gelähmter zum Heiland gebracht wurde, um geheilt zu werden. „Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“13 Wir wissen, dass das Sühnopfer Jesu Christi notwendig ist, um Vergebung für unsere Sünden zu erhalten, aber als der Gelähmte geheilt wurde, war dieses bedeutende Ereignis noch gar nicht geschehen – das Leiden des Heilands in Getsemani und sein Tod am Kreuz mussten erst noch stattfinden. Jesus segnete den Gelähmten jedoch nicht nur mit der Fähigkeit, aufzustehen und zu gehen, sondern er gewährte ihm Vergebung für seine Sünden und gab damit das unmissverständliche Zeichen, dass er nicht zurückweichen würde, sondern die Verpflichtung, die er dem Vater gegenüber eingegangen war, erfüllen würde und in Getsemani und am Kreuz das tun würde, was er versprochen hatte.

Der Weg, für den wir uns entschieden haben, ist schmal. Entlang des Weges gibt es Herausforderungen, die Glauben an Jesus Christus erfordern und uns höchste Anstrengungen abverlangen, um auf dem Weg zu bleiben und vorwärtszustreben. Wir müssen umkehren und gehorsam und geduldig sein, auch wenn wir nicht alles verstehen, was uns widerfährt. Wir müssen anderen vergeben und im Einklang mit dem leben, was wir gelernt haben, und mit den Entscheidungen, die wir getroffen haben.

4. Bereitwillig den Willen des Vaters annehmen

Die Nachfolge Christi erfordert nicht nur von uns, dass wir unsere Pflicht erlernen, richtige Entscheidungen treffen und entsprechend handeln, sondern es ist auch wichtig, dass wir die Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln, den Willen Gottes anzunehmen, auch wenn er nicht unseren rechtschaffenen Wünschen oder Vorlieben entspricht.

Die Einstellung des Aussätzigen beeindruckt mich und ich bewundere sie: Er kam zum Heiland, „bat ihn um Hilfe; fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde.“14 Der Aussätzige hat nichts verlangt, auch wenn sein Wunsch möglicherweise gerecht war; er war einfach dazu bereit, den Willen des Herrn anzunehmen.

Vor einigen Jahren wurde ein glaubenstreues Paar, mit dem ich befreundet bin, mit einem Sohn gesegnet, nach dem es sich lange gesehnt und um den es lange gebetet hatte. Das Zuhause unserer Freunde war voller Freude, als sie und ihre Tochter – damals ihr einziges weiteres Kind – die Gesellschaft des kleinen Jungen genossen, der gerade erst angekommen war. Eines Tages passierte jedoch etwas Unerwartetes: Der kleine Junge, der erst etwa drei Jahre alt war, fiel plötzlich ins Koma. Als ich davon erfuhr, rief ich meinen Freund an, um ihm in dieser schwierigen Zeit unsere Unterstützung zuzusagen. Seine Antwort war mir eine Lehre. Er sagte: „Wenn es der Wille des Vaters ist, ihn zu sich zu nehmen, dann ist es für uns in Ordnung.“ Die Worte meines Freundes enthielten nicht einen Hauch von Anklage, Aufmüpfigkeit oder Unzufriedenheit. Ganz im Gegenteil: Alles, was ich in seinen Worten spüren konnte, warrn Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er ihnen erlaubt hatte, sich eine kurze Zeit an ihrem kleinen Sohn zu erfreuen, und auch die völlige Bereitschaft, den Willen des Vaters für sie anzunehmen. Einige Tage später wurde dieser kleine Junge in sein himmlisches Zuhause geholt.

Mögen wir vorwärtsstreben, indem wir unsere Pflicht erlernen, richtige Entscheidungen treffen, gemäß dieser Entscheidungen handeln und den Willen unseres Vaters annehmen.

Wie dankbar und glücklich bin ich über die Entscheidung, die mein Vater mich vor 47 Jahren treffen ließ. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass die Bedingung, die er mir gestellt hat – die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen –, bedeutete, dass ich meinem Vater im Himmel gegenüber verantwortlich bin und nach meiner eigenen Erlösung sowie der meiner Mitmenschen strebe und dabei immer mehr so werde, wie mein Vater im Himmel es von mir erwartet und sich wünscht. An diesem besonderen Tag bezeuge ich, dass Gottvater und sein geliebter Sohn leben. Im Namen Jesu Christi. Amen.