2002
Dankbarkeit
Januar 2002


Dankbarkeit

„Unsere Dankbarkeit nimmt zu, wenn wir beständig darüber nachdenken, wie reich wir gesegnet sind, und im täglichen Gebet dafür Dank sagen.“

Ich bin in Süd-Utah aufgewachsen. Ein paar von uns suchten sich damals bei den vielen Tankstellen am alten Highway 91, der sich durch St. George zog, Arbeit. Mein jüngerer Bruder Paul, der gerade 18 war, arbeitete bei Tom’s Service, einer Tankstelle, die nur drei Straßen von unserem Elternhaus entfernt war.

An einem Sommertag kam ein Auto mit New Yorker Nummernschild vorgefahren und der Fahrer ließ den Tank füllen. (Für diejenigen unter Ihnen, die noch keine dreißig sind: Damals kam tatsächlich jemand zum Auto, tankte es voll, wusch die Scheiben und prüfte den Ölstand.) Während Paul die Windschutzscheibe wusch, fragte der Fahrer, wie weit es noch bis zum Grand Canyon sei. Paul erwiderte, es seien noch gut 250 Kilometer.

„Ich warte schon mein Leben lang darauf, endlich den Grand Canyon zu sehen“, rief der Mann. „Wie ist es da?“

„Weiß ich nicht“, erwiderte Paul. „Ich war noch nie da.“

„Sie wollen mir also sagen“, meinte der Mann, „dass Sie zweieinhalb Stunden von einem der sieben Weltwunder entfernt leben und noch nie dort waren?“

„Stimmt“, sagte Paul.

Der Mann dachte kurz nach und meinte dann: „Na ja, eigentlich verstehe ich das. Meine Frau und ich wohnen schon über zwanzig Jahre in Manhattan und wir waren noch nie an der Freiheitsstatue.“

„Da war ich aber schon“, erwiderte Paul.

Ist es nicht merkwürdig, dass wir manchmal kilometerweit reisen, um die Wunder der Natur oder die Schöpfungen des Menschen zu sehen, dabei aber die Schönheit vor unserer Haustür ignorieren?

Es entspricht der menschlichen Natur, dass wir unser Glück immer anderswo suchen. Karriereziele, Reichtum und materieller Lohn können unseren Blick trüben und manchmal sind wir für die vielen Segnungen, die mit unseren gegenwärtigen Lebensumständen verbunden sind, nicht mehr so recht dankbar.

Es ist riskant, wenn wir zu sehr darüber nachdenken, warum wir nicht mehr erhalten haben. Nützlich und demütigend ist es allerdings, wenn wir darüber nachdenken, warum wir so viel erhalten haben.

Ein altes Sprichwort besagt: „Wirklich reich ist, wer schon mit wenig zufrieden ist.“

In seinem Brief an die Philipper schrieb Paulus: „Ich sage das nicht, weil ich etwa Mangel leide. Denn ich habe gelernt, mich in jeder Lage zurechtzufinden.“ (Philipper 4:11.)

Alma gab seinem Sohn Helaman den folgenden Rat, den wohl jeder Vater seinen Kindern geben sollte: „Berate dich mit dem Herrn in allem, was du tust, und er wird dich zum Guten lenken; ja, und wenn du dich zur Nacht niederlegst, so lege dich nieder im Herrn, damit er in deinem Schlaf über dich wache; und wenn du dich morgens erhebst, so lass dein Herz von Dank erfüllt sein gegen Gott; und wenn du das alles tust, wirst du am letzten Tag emporgehoben werden.“ (Alma 37:37.)

Alma sagt: “Lass dein Herz von Dank erfüllt sein gegen Gott.“ Der Herr möchte, dass wir danken. Im Brief an die Thessalonicher lesen wir: „Dankt für alles; denn das will Gott von euch, die ihr Christus Jesus gehört.“ (1 Thessalonicher 5:18.)

Wir Träger des Priestertums sollten ständig bemüht sein, dankbarer zu sein. Unsere Dankbarkeit nimmt zu, wenn wir beständig darüber nachdenken, wie reich wir gesegnet sind, und im täglichen Gebet dafür Dank sagen.

Präsident David O. McKay hat gesagt: „Ein junger Mann, der die Tür hinter sich schließt, die Vorhänge zuzieht und Gott im Stillen um Hilfe anfleht, sollte zunächst voll Dankbarkeit sein Herz ausschütten – für seine Gesundheit, seine Freunde, seine Familie, für das Evangelium, für die Kundgebungen der Existenz Gottes. Zunächst sollte er bedenken, wie reich er gesegnet ist, und all seine Segnungen aufzählen.“ (Conference Report, April 1961, 7f.)

In allen unseren Gebeten sollte ständig unsere Dankbarkeit zum Ausdruck kommen. Häufig beten wir um bestimmte Segnungen, die wir mit unserem begrenzten Einblick unbedingt zu brauchen meinen. Der Herr erhört unsere Gebete zwar gemäß seinem Willen, doch freut er sich gewiss, wenn wir ihm demütig danken.

Brüder, wenn wir das nächste Mal beten, wollen wir dem Herrn doch lieber, statt ihm eine Bitte nach der anderen vorzulegen, von Herzen für alles, womit er uns segnet, danken.

Präsident Joseph F. Smith hat erklärt: „Eine dankbare Geisteshaltung ist immer angenehm und zufriedenstellend, da sie auch mit Hilfsbereitschaft gegenüber anderen verbunden ist; sie fördert Liebe und Freundschaft zutage und ist dem göttlichen Einfluss förderlich. Dankbarkeit gilt als das Gedächtnis des Herzens.“ (Joseph F. Smith, Gospel Doctrine, 262.)

Im Oktober 1879 wurde eine Gruppe von 237 beherzten Siedlern aus mehreren kleinen Ortschaften im Südwesten von Utah dazu berufen, einen neuen Weg in den heutigen Kreis San Juan im Südosten von Utah anzulegen und sich dort niederzulassen. Die Reise hätte eigentlich nur sechs Wochen dauern sollen, aber daraus wurden fast sechs Monate. Wir haben ausführliche Aufzeichnungen über ihre Mühen und Heldentaten, vor allem über die fast unmöglich scheinende Aufgabe, an einem Ort namens Hole-in-the-Rock, also „Loch im Fels“, den Colorado River zu überqueren. Wer diesen Ort besucht hat, staunt darüber, dass die Planwagen es überhaupt geschafft haben, durch diesen engen Spalt in den Cañonwänden aus rotem Felsgestein zu gelangen, um bis zum Colorado River zu kommen, der viel tiefer liegt. Nach der Überquerung des Colorado River mussten sie allerdings noch viele weitere Prüfungen bestehen, ehe sie im Kreis San Juan angekommen waren. Völlig erschöpft standen sie Anfang April 1880 vor ihrem letzten Hindernis, dem Comb Ridge, einem steilen Grat aus solidem Sandstein, der eine steile Wand bildet, die gut dreihundert Meter hoch ist.

Einhundertzwanzig Jahre danach kletterte unsere Familie an einem strahlenden Frühlingstag den Comb Ridge hinauf. Er ist steil und tückisch. Wir konnten uns kaum vorstellen, dass Planwagen, Gespanne, Männer, Frauen und Kinder einen solchen Aufstieg schaffen konnten. Aber unter unseren Füßen sahen wir die Einkerbungen, die die Wagenräder vor so langer Zeit als Zeugnis ihrer mühseligen Reise hinterlassen hatten. Wie war den Menschen zumute, nachdem sie so viel durchgemacht hatten? Waren sie nach den vielen Monaten voller Plackerei und Entbehrungen verbittert? Kritisierten sie ihre Führer, die sie auf eine so beschwerliche Reise geschickt und so viel von ihnen verlangt hatten? Unsere Fragen wurden beantwortet, als wir oben angekommen waren. Dort fanden wir in den roten Sandstein eingeritzt die folgenden Worte, die dort schon so lange stehen: „Wir danken dir, Gott.“

Brüder, ich bete, wir mögen im Herzen von Dankbarkeit für das erfüllt sein, was wir haben, statt uns mit dem aufzuhalten, was wir nicht haben. Machen wir uns doch als Priestertumsträger bei allem, was wir tun, eine dankbare Einstellung zu eigen. Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.