2002
Jetzt ist die Zeit
Januar 2002


Jetzt ist die Zeit

„Mögen wir so leben, dass wir, wenn wir abberufen werden, nichts Schwerwiegendes beklagen müssen und nichts unerledigt geblieben ist.“

Ich denke heute morgen an meine Jugendzeit zurück, als wir in der Sonntagsschule so oft das schöne Lied gesungen haben:

„Sei willkommen, Sonntagmorgen,

der uns stets so friedlich lädt,

weg von Erdenleid und Sorgen zu

dem Herren im Gebet!“1

Am heutigen Sonntagmorgen bete ich darum, dass Sie mich bei meiner Ansprache mit Ihrem Glauben und Ihren Gebeten unterstützen.

Wir alle sind durch die tragischen Ereignisse des 11. September 2001 zutiefst erschüttert. Ohne Vorwarnung ist Zerstörung und Vernichtung über die Menschen gekommen, und der Tod hat Männer, Frauen und Kinder in großer Zahl dahingerafft. Zukunftspläne wurden unversehens zunichte gemacht, und an ihre Stelle traten die Tränen und der tiefe Schmerz der Betroffenen.

In den vergangenen dreieinhalb Wochen haben wir unzählige Berichte von Betroffenen erhalten, die direkt oder indirekt mit den Ereignissen jenes Tages in Berührung gekommen waren. Ich möchte Ihnen zu Gehör bringen, was Rebecca Sindar, eine liebe Schwester unserer Kirche, geschrieben hat. Schwester Sindar war an jenem Dienstagmorgen mit dem Flugzeug von Salt Lake City nach Dallas unterwegs. Ihr Flug wurde, wie alle Flüge zum Zeitpunkt der Tragödie, unterbrochen, und sie musste in Amarillo in Texas zwischenlanden. Schwester Sindar schreibt: „Wir mussten alle aussteigen und scharten uns am Flughafen um die dort aufgestellten Fernsehgeräte, um die Nachrichten mitzuverfolgen. Die Menschen standen vor den Telefonen Schlange, weil sie ihre Angehörigen beruhigen und ihnen sagen wollten, dass sie gelandet waren und sich in Sicherheit befanden. Ich werde wohl nie die gut zehn Missionare vergessen, die in unserem Flugzeug in ihr Missionsgebiet unterwegs gewesen waren. Sie tätigten ihre Anrufe, und dann sah ich sie in einer stillen Ecke des Flughafens zum Beten niederknien. Ich hätte dieses Bild so gern den Müttern und den Vätern dieser lieben Missionare vermitteln wollen – wie nämlich diese jungen Männer sofort erkannten, dass sie beten sollten.“

Brüder und Schwestern, wir alle müssen sterben. Der Tod ruft die Betagten, die schon schwach auf den Füßen sind. Er kommt aber auch zu denjenigen, die mitten im Leben stehen, und oft bringt er sogar das Lachen eines kleinen Kindes zum Schweigen. Jeder muss sterben. Das ist eine Tatsache, die keiner leugnen und der keiner entkommen kann.

Oft kommt der Tod als Eindringling. Er ist ein Feind, der plötzlich mitten im Fest des Lebens auftaucht und das Licht und den Frohsinn auslöscht. Der Tod legt seine schwere Hand auf unsere Lieben und lässt uns mitunter verwirrt und voller Fragen zurück. In manchen Situationen, beispielweise bei schwerem Leid und bei Krankheit, kommt der Tod als Engel der Barmherzigkeit. Doch in den meisten Fällen betrachten wir ihn als Feind des Menschenglücks.

Das Dunkel des Todes kann aber durch das Licht offenbarter Wahrheit auf immer vertrieben werden. „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, hat der Herr gesagt. „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“2

Diese Zusicherung – diese heilige Bestätigung vielmehr –, dass es nämlich ein Leben jenseits des Grabes gibt, kann ganz gewiss jenen Frieden schenken, den der Erretter seinen Jüngern mit folgenden Worten verheißen hat: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“3

Inmitten der Finsternis und des Schreckens von Golgota konnte man die Stimme des Lammes vernehmen: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“4 Dann war die Finsternis nicht länger dunkel, denn er war bei seinem Vater. Er war von Gott gekommen und zu ihm zurückgekehrt. Und wer mit Gott durch das Erdenleben geht, der weiß aus eigener, heiliger Erfahrung, dass Gott seine Kinder nicht im Stich lässt, sofern sie ihm vertrauen. In der Nacht des Todes ist Gottes Gegenwart „besser als ein Licht und sicherer als jeder Weg, den man gut kennt“.5

Saulus sah auf dem Weg nach Damaskus in einer Vision den auferstandenen, erhöhten Christus. Als er dann Paulus geworden war, der Verteidiger der Wahrheit und ein furchtloser Missionar im Dienste des Meisters, gab er Zeugnis vom auferstandenen Herrn und schrieb den Heiligen in Korinth: „Christus … ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift,

und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.

Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich. …

Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln.

Als letztem von allen erschien er auch mir.“6

In unserer Evangeliumszeit ist dieses Zeugnis unerschrocken vom Propheten Joseph Smith verkündet worden, der mit Sidney Rigdon bezeugt hat:

„Und nun, nach den vielen Zeugnissen, die von ihm gegeben worden sind, ist dies, als letztes von allen, das Zeugnis, das wir geben, nämlich: Er lebt!

Denn wir haben ihn gesehen, ja, zur rechten Hand Gottes; und wir haben die Stimme Zeugnis geben hören, dass er der Einziggezeugte des Vaters ist,

dass von ihm und durch ihn und aus ihm die Welten sind und erschaffen worden sind und dass ihre Bewohner für Gott gezeugte Söhne und Töchter sind.“7

Dieses Wissen hält uns aufrecht und verleiht uns Kraft. Diese Wahrheit tröstet. Diese Zusicherung führt den, der von Kummer gebeugt ist, aus dem Dunkel ans Licht. Diese Kenntnis steht jedem offen.

So zerbrechlich ist das Leben, und so gewiss ist der Tod. Wir wissen nicht, wann wir aus dem Leben scheiden müssen. Und deshalb frage ich: „Was machen wir aus dem Heute?“ Wenn wir nur für das Morgen leben, haben wir heute viele inhaltslose Gestern. Machen wir uns etwa auch schuldig in dem Sinne, dass wir sagen: „Ich möchte ja ein paar Kurskorrekturen vornehmen. Morgen nehme ich das in Angriff.“ Wer so denkt, für den liegt das Morgen immer in der Ewigkeit. Denn ein Morgen gibt es meist nur dann, wenn wir schon heute dahingehend etwas unternommen haben. Wir singen ja in dem bekannten Lied:

„So viel Freude und Arbeit harrt heute dein,

o so gehe und nutze die Zeit.

Lass bis morgen nicht ruhn, was du heute kannst tun,

und sei stets zum Wirken bereit.“8

Stellen wir uns doch die Frage: „Hab ich Gutes am heutigen Tag getan? Half ich jemand in Kummer und Plag?“ Das ist ein Rezept, das einen glücklich machen kann! Das ist eine Medizin, die Zufriedenheit und inneren Frieden bringt – wenn wir nämlich einen anderen Menschen zur Dankbarkeit angeregt haben.

Gelegenheiten, anderen etwas Liebes zu tun, gibt es unzählige, aber sie verstreichen rasch. Dem einen können wir Trost und Zuspruch geben, dem anderen ein freundliches Wort. Hier freut sich einer über ein Geschenk, dort muss man tatkräftig zupacken. Es gilt Menschen zu erretten.

„Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.“9 Wer sich dies stets vor Augen hält, findet sich nicht in der beklagenswerten Lage von Jacob Marleys Geist, der in der bekannten Geschichte Ein Weihnachtslied in Prosa von Charles Dickens mit Ebenezer Scrooge spricht. Marley bringt zum Ausdruck, wie traurig er ist, weil er so viele Möglichkeiten ungenutzt hat verstreichen lassen. Er sagt: „Weißt nicht, dass jede christliche Seele, die in ihrem kleinen Kreis, wie immer er sei, mildtätig wirkt, ihr irdisches Leben zu kurz findet für die ausgedehnten Möglichkeiten, nützlich zu sein. Weißt nicht, dass keine noch so lange Reue die versäumten Gelegenheiten eines Lebens aufwiegen kann! So einer war ich! Oh, so war ich.“

Und dann fügt Marley hinzu: „Warum wandelte ich auch durch das Gewühl der Mitmenschen mit gesenkten Augen und erhob sie nie zu dem segensvollen Stern, der die drei Weisen zu einer armen Herberge führte? Gab es nicht ärmliche Hütten genug, zu denen sein Licht mich hätte leiten können?“

Glücklicherweise ändert sich Ebenezer Scrooge und wird ein besserer Mensch. Mir gefällt sein Ausspruch: „Ich bin nicht mehr der Mann, der ich war.“10

Weshalb ist diese Geschichte so berühmt? Wieso hat sie uns immer noch etwas zu sagen? Meiner Meinung nach ist sie von Gott inspiriert. Sie bringt das Gute im Menschen zum Vorschein. Sie macht uns Hoffnung und bewegt uns dazu, uns zu ändern. Wir können uns abwenden von den Wegen, die uns hinabziehen, und mit einem Lied im Herzen einem Stern am Himmel folgen und auf das Licht zugehen. Wir können größere Schritte machen, Mut fassen und uns am Sonnenlicht der Wahrheit erfreuen. Wir können das Lachen der Kinder bewusster wahrnehmen. Wir können dem, der weint, die Tränen abwischen. Wir können den Sterbenden trösten, indem wir ihm die Verheißung ewigen Lebens nahe bringen. Wenn wir auch nur eine herabgesunkene Hand emporheben und nur einem Menschen, der in Schwierigkeiten ist, Frieden bringen – wenn wir geben, wie der Herr gegeben hat –, dann können wir anderen den Weg weisen und für einen verirrten Seemann ein Leitstern sein.

Da das Leben so zerbrechlich und der Tod unausweichlich ist, müssen wir aus jedem Tag das Beste machen.

Man kann Möglichkeiten auf ganz unterschiedliche Weise ungenutzt verstreichen lassen. Vor kurzem habe ich eine zu Herzen gehende Geschichte von Louise Dickinson Rich gelesen, in der diese Wahrheit eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Sie schreibt: „Meine Großmutter hatte eine Feindin namens Mrs. Wilcox. Großmutter und Mrs. Wilcox waren beide nach ihrer Hochzeit in zwei Nachbarhäuser an der Hauptstraße eines kleinen Dorfes eingezogen. Dort sollten sie dann ihr gesamtes Leben verbringen. Ich weiß nicht, wodurch der Kriegszustand zwischen den beiden hervorgerufen wurde, und ich glaube, dass damals, als ich zur Welt kam – was ja immerhin schon mehr als 30 Jahre danach war –, auch keine der beiden Frauen mehr den Grund kannte. Jedenfalls war es kein bloßes Wortgefecht, sondern ein richtiger Krieg. …

Das gesamte Dorf wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die dreihundert Jahre alte Kirche, die den Unabhängigkeitskampf, den Bürgerkrieg und den Krieg gegen Spanien überdauert hatte, überlebte kaum den Kampf um den Vorsitz im Frauenverein, den Großmutter und Mrs. Wilcox ausfochten. Damals gewann zwar Großmutter, doch es war ein schaler Sieg, denn Mrs. Wilcox trat verstimmt aus dem Verein aus. Und was nutzt ein Sieg, wenn danach diejenige, die man demütigen will, nicht mehr da ist? Mrs. Wilcox gewann dafür die Schlacht um die Bibliothek, und ab dem Tag, da ihre Nichte Gertrude anstelle von Tante Phyllis Bibliothekarin wurde, las Großmutter keine Bücher aus der Bücherei mehr. Von da an waren das nur noch ‚Bazillenüberträger‘. Der Kampf um die Highschool endete mit einem Unentschieden, denn der Direktor nahm rechtzeitig einen besseren Posten an und konnte daher weder von Mrs. Wilcox abgesetzt noch von Großmutter auf Lebenszeit in dieses Amt bestellt werden.

Wenn wir Kinder bei Großmutter zu Besuch waren, machten wir uns einen Spaß daraus, die Enkel von Mrs. Wilcox zu ärgern. Eines denkwürdigen Tages steckten wir eine Schlange in die Regentonne von Mrs. Wilcox. Meine Großmutter tat zwar so, als wolle sie uns davon abhalten, aber wir begriffen, dass sie im Grunde genommen gar nichts gegen unser Treiben hatte.

Selbstverständlich waren das keine einseitigen Scharmützel, denn auch Mrs. Wilcox hatte Enkelkinder, und so wurden auch Großmutter Streiche gespielt. Es gab keinen windigen Waschtag, an dem die Wäscheleine mit der frisch gewaschenen Wäsche nicht aus mysteriösen Gründen riss und Großmutters Wäsche auf dem Boden lag.

Ich weiß nicht, wie Großmutter das alles so lange hätte ertragen können, wenn es da nicht den Hausfrauenteil in ihrer Bostoner Tageszeitung gegeben hätte. Dieser Hausfrauenteil war eine wundervolle Sache: Es gab da nicht nur die üblichen Rezepte und Haushaltstipps, sondern auch eine Spalte mit Leserbriefen. Angenommen, jemand hatte ein Problem – oder wollte sich auch nur etwas von der Seele schreiben –, dann konnte er unter einem selbstgewählten Namen anonym an die Zeitung schreiben – also etwa unter Arbutus, denn mit diesem Namen unterzeichnete Großmutter ihre Briefe. Und wenn dann eine andere Frau das gleiche Problem hatte, dann antwortete sie und erklärte, was sie gemacht hatte, und sie unterschrieb ebenfalls mit einem fiktiven Namen – etwa ‚Eine, die das auch kennt‘ oder ‚Xanthippe‘ oder was auch immer.

Und selbst wenn das Problem dann gelöst war, kam es immer wieder vor, dass manche Frauen einander regelmäßig über die Zeitung schrieben und einander von ihren Kindern und dem Einwecken oder der neuen Wohnzimmereinrichtung berichteten. Das war auch bei Großmutter der Fall. Sie und eine Frau, die sich ‚Möwe‘ nannte, schrieben einander schon 25 Jahre lang. ‚Möwe‘ war die einzige wahre Freundin meiner Großmutter.

Als ich etwa 16 Jahre alt war, starb Mrs. Wilcox. In einer kleinen Ortschaft erforderte es der Anstand, dass man, selbst wenn man mit der Nachbarin völlig zerstritten war, doch hinüberging und fragte, ob man etwas für die Hinterbliebenen tun könne. So zog sich Großmutter eine Baumwollschürze über, um zu zeigen, dass sie es ernst meinte und tatsächlich mit Hand anlegen wollte, und ging über den Rasen zum Haus der Familie Wilcox. Die Töchter baten sie, das ohnehin schon saubere Wohnzimmer für die Begräbnisfeierlichkeiten zu putzen. Und dort lag auf dem Couchtisch auf einem Ehrenplatz ein großes Album, in das in ordentlichen Spalten Großmutters Briefwechsel mit Möwe eingeklebt war. Was die beiden Frauen nicht gewusst hatten: Großmutters schlimmste Feindin war in Wirklichkeit ihre beste Freundin gewesen. Das war das einzige Mal, dass ich Großmutter habe weinen sehen. Damals verstand ich den Grund nicht, aber heute weiß ich es: Sie weinte wegen all der vergeudeten Jahre, die unwiederbringlich verloren waren.“

Liebe Brüder und Schwestern, nehmen wir uns doch vor, dass wir ab heute ein liebevolles Herz haben werden. Gehen wir die zweite Meile, und nehmen wir uns derer an, die einsam oder bedrückt sind oder sonst in irgendeiner Weise leiden. Tun wir heute Gutes, und machen wir anderen Menschen das Leben leichter. Mögen wir so leben, dass wir, wenn wir abberufen werden, nichts Schwerwiegendes beklagen müssen und nichts unerledigt geblieben ist, sondern wir mit dem Apostel Paulus sagen können: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.“11 Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Gesangbuch, Nr. 187.

  2. Johannes 11:25,26.

  3. Johannes 14:27

  4. Lukas 23:46.

  5. Minnie Louise Haskins, „The Gate of the Year“, in Masterpieces of Religious Verse, Hg. James Dalton Morrison (1948), Seite 92.

  6. 1 Korinther 15:3–8.

  7. LuB 76:22–24.

  8. Gesangbuch, Nr. 150.

  9. Mosia 2:17.

  10. „Weihnachtserzählungen“, Charles Dickens, Seite 27,100.

  11. 2 Timotheus 4:7.