2008
„Meine Worte … hören nie auf‘
Mai 2008


„Meine Worte … hören nie auf“

Wir laden alle ein, das Wunder dessen, was Gott seit biblischen Zeiten gesagt hat und noch heute sagt, genau zu betrachten.

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Elder Jeffrey R. Holland

Präsident Monson, darf ich zunächst ein paar persönliche Worte vorwegschicken?

Als Erster aus den Reihen meiner Amtsbrüder, der gebeten wurde, nach der einzigartigen Botschaft, die Sie heute Vormittag an die Kirche gerichtet haben, zu sprechen, möchte ich etwas im Namen aller Ihrer Brüder von den Generalautoritäten und wohl auch im Namen der ganzen Kirche sagen.

Von den vielen Vorzügen, die wir bei dieser historischen Konferenz genossen haben – darunter auch die Teilnahme an einer feierlichen Versammlung, in der wir uns erheben und Sie als Propheten, Seher und Offenbarer bestätigen konnten –, ist nach meinem Empfinden der größte, dass wir selbst miterleben durften, wie Ihnen der heilige Mantel des Propheten um die Schultern gelegt wurde, ganz so, als ob es die Engel selbst getan hätten. Diejenigen, die gestern Abend der Allgemeinen Priestertumsversammlung beigewohnt haben, und auch alle, die bei der weltweiten Übertragung der Versammlung von heute Vormittag dabei waren, sind dessen Augenzeugen. Im Namen aller Beteiligten danke ich für diesen besonderen Moment. Das sage ich voller Liebe zu Präsident Monson und vor allem voller Liebe zu unserem Vater im Himmel, weil wir die wunderbare Gelegenheit hatten, „Augenzeugen seiner Macht und Größe“ (2 Petrus 1:16) zu werden, wie der Apostel Petrus es einmal nannte.

Bei der Generalkonferenz im vergangenen Oktober sagte ich, es gebe vor allem zwei Gründe, weshalb die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage fälschlicherweise als unchristlich bezeichnet wird. Damals sprach ich über einen dieser Punkte der Lehre – unsere auf den heiligen Schriften beruhende Auffassung von der Gottheit. Heute möchte ich über den anderen wichtigen Punkt der Lehre sprechen, der unseren Glauben kennzeichnet, einigen aber Unbehagen bereitet, nämlich die kühne Behauptung, dass Gott weiterhin sein Wort verkündet und seine Wahrheit offenbart – Offenbarungen gibt, die einen nicht abgeschlossenen Kanon heiliger Schriften erforderlich machen.

Einige Christen haben – hauptsächlich weil sie die Bibel aufrichtig lieben – erklärt, dass es über die Bibel hinaus keine gültigen heiligen Schriften geben könne. Da unsere Freunde in einigen anderen Kirchen also verkünden, dass der offenbarte Kanon abgeschlossen sei, verschließen sie die Tür vor göttlichen Kundgebungen, die uns in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sehr wichtig sind: dem Buch Mormon, dem Buch Lehre und Bündnisse, der Köstlichen Perle und der fortdauernden Führung, die Gottes gesalbte Propheten und Apostel erhalten. Wir unterstellen niemandem, der einen derartigen Standpunkt einnimmt, böse Absichten, lehnen jedoch respektvoll, aber bestimmt eine solche Charakterisierung wahren Christentums ab, die auch nicht mit der heiligen Schrift vereinbar ist.

Als Argument dafür, dass der Kanon abgeschlossen ist, wird häufig auch eine Stelle im Neuen Testament angeführt, die wir in Offenbarung 22:18 finden: „Ich bezeuge jedem, der die … Worte dieses Buches hört: Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht.“ Heutzutage herrscht jedoch unter nahezu allen Bibelgelehrten überwältigende Übereinstimmung darüber, dass sich dieser Vers nur auf das Buch Offenbarung und nicht auf die ganze Bibel bezieht. Diese Gelehrten unserer Zeit bestätigen, dass es so gut wie sicher ist, dass einige „Bücher“ des Neuen Testaments erst geschrieben wurden, nachdem Johannes seine Offenbarung auf der Insel Patmos empfangen hatte. Dazu gehören zumindest das Buch Judas, die drei Briefe des Johannes und wahrscheinlich auch das ganze Johannesevangelium selbst.1 Möglicherweise trifft es auf noch weitere Bücher zu.

Es gibt aber auch eine etwas einfachere Erklärung, warum diese Schriftstelle im letzten Buch des Neuen Testaments, wie wir es heute kennen, nicht für die gesamte Bibel gelten kann: Die gesamte Bibel, wie wir sie kennen – eine zu einem Band zusammengefasste Sammlung von Texten –, gab es noch nicht, als dieser Vers geschrieben wurde. Nachdem Johannes seine Schriften verfasst hatte, waren die einzelnen Bücher des Neuen Testaments jahrhundertelang einzeln oder vielleicht zusammen mit wenigen anderen Texten im Umlauf, jedoch so gut wie nie als vollständige Sammlung. Von den insgesamt 5366 bekannten griechischen Manuskripten des Neuen Testaments enthalten nur 35 das gesamte Neue Testament, wie wir es jetzt kennen, und 34 dieser Manuskripte wurden erst nach dem Jahr 1000 n. Chr. zusammengestellt.2

Tatsache ist, dass nahezu jeder Prophet des Alten und Neuen Testaments heilige Schriften denen hinzugefügt hat, die seine Vorgänger empfangen hatten. Wenn die Worte des Mose im Alten Testament ausgereicht hätten, wie einige irrtümlich hätten annehmen können,3 wozu waren dann später die Prophezeiungen Jesajas oder Jeremias nötig, der diesem folgte? Ganz zu schweigen von Ezechiel und Daniel, Joël, Amos und all den übrigen. Wenn eine Offenbarung an einen Propheten zu einem bestimmten Zeitpunkt für alle Zeiten ausreichte, was würde dann die vielen anderen rechtfertigen? Was sie rechtfertigt, machte Jahwe selbst deutlich, als er zu Mose sagte: „Meine Werke sind ohne Ende [und] meine Worte … hören nie auf.“4

Ein protestantischer Gelehrter hat auf treffende Weise die Irrlehre von einem abgeschlossenen Kanon hinterfragt. Er schreibt: „Mit welcher biblischen oder historischen Begründung ist die Inspiration Gottes auf die Schriftstücke beschränkt worden, die die Kirche heute ihre Bibel nennt? … Wenn der Heilige Geist nur die Schriftstücke des ersten Jahrhunderts inspiriert hat, bedeutet dies, dass derselbe Geist heutzutage sich in der Kirche nicht mehr über Angelegenheiten von großer Tragweite äußert?“5 Wir stellen in aller Bescheidenheit dieselben Fragen.

Fortdauernde Offenbarung macht bereits vorhandene Offenbarung nicht bedeutungslos und bringt sie auch nicht Misskredit. Das Alte Testament verliert in unseren Augen nicht an Wert, sobald wir an das Neue Testament herangeführt werden, und das Neue Testament gewinnt für uns noch an Bedeutung, wenn wir das Buch Mormon – einen weiteren Zeugen für Jesus Christus – lesen. Wenn man die zusätzlichen heiligen Schriften betrachtet, die von den Heiligen der Letzten Tage anerkannt werden, könnte man fragen: Waren die frühen Christen, die jahrzehntelang nur das einfache Evangelium des Markus kannten, das allgemein als das zuerst verfasste der Evangelien im Neuen Testament gilt, beleidigt, als sie später die ausführlicheren Berichte von Matthäus und Lukas empfingen, ganz zu schweigen von den einzigartigen Passagen und den durch Offenbarung gesetzten Akzenten, die später noch Johannes beisteuerte? Gewiss waren sie außer sich vor Freude darüber, dass unablässig weitere überzeugende Beweise der Göttlichkeit Christi auftauchten. Und so freuen auch wir uns.

Bitte verstehen Sie mich nur nicht falsch. Wir lieben und achten die Bibel, so wie es Elder M. Russell Ballard erst vor einem Jahr von diesem Rednerpult aus deutlich gemacht hat.6 Die Bibel ist das Wort Gottes. Sie wird in unserem Kanon, unter unseren heiligen Schriften, stets zuerst genannt. In der Tat war es von Gott so bestimmt, dass Joseph Smith mit dem fünften Vers im ersten Kapitel des Jakobusbriefes in Berührung kam, was schließlich dazu führte, dass er in einer Vision den Vater und den Sohn sah, woraus sich die Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi in unserer Zeit ergab. Doch schon damals wusste Joseph Smith, dass die Bibel allein nicht alle religiösen Fragen beantworten konnte, die er und seinesgleichen hatten. Wie er es mit seinen eigenen Worten ausdrückte, stritten die Geistlichen an seinem Wohnort – manchmal auch voller Zorn – über ihre Lehren. „Priester eiferte [in dem Wortkrieg und Meinungsstreit] gegen Priester, Bekehrter gegen Bekehrten“, berichtet er. So ziemlich das Einzige, was diese miteinander im Streit liegenden Religionsgemeinschaften gemeinsam hatten, war ironischerweise, dass sie an die Bibel glaubten, aber, so die Worte Josephs, „die Religionslehrer der verschiedenen Glaubensgemeinschaften verstanden ein und dieselbe Schriftstelle so unterschiedlich, dass dadurch alles Vertrauen darauf zerstört wurde, die Frage [welche Kirche die wahre sei] durch Berufung auf die Bibel zu entscheiden.“7 Die Bibel, die vielen damals so oft als „gemeinsame Basis“ galt, war offenbar genau das nicht mehr – sie war leider der Zankapfel.

Deshalb besteht eines der wesentlichen Ziele fortdauernder Offenbarung durch lebende Propheten darin, der Welt durch zusätzliche Zeugen zu verkünden, dass die Bibel wahr ist. „Dieser [Bericht]“, so sagte vor alters ein Prophet über das Buch Mormon, „ist zu dem Zweck geschrieben, damit ihr jenem glaubt“, womit er die Bibel meinte.8 In einer der ersten Offenbarungen, die Joseph Smith empfing, sagte der Herr: „Siehe, ich bringe [das Buch Mormon] nicht [hervor], um [die Bibel] zu zerstören, sondern um [sie] aufzubauen.“9

Noch ein weiterer Punkt muss erwähnt werden. Es versteht sich, dass es Christen gab, lange bevor das Neue Testament oder auch nur eine Sammlung der Worte Jesu vorhanden war, daher kann man nicht behaupten, die Bibel sei das, was einen zum Christen mache. N. T. Wright, ein anerkannter Fachmann auf dem Gebiet des Neuen Testaments, hat es so ausgedrückt: „Jesus sagt nach seiner Auferstehung am Ende des Matthäusevangeliums nicht: ‚Den Büchern, die ihr schreiben werdet, ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde‘, sondern: ‚Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde.‘“10 In anderen Worten: „Die heilige Schrift selbst weist … von sich selbst weg und auf die Tatsache hin, dass die endgültige und wahre Macht Gott selbst gehört.“11 Also sind die heiligen Schriften für einen Heiligen der Letzten Tage nicht die höchste Quelle der Erkenntnis. Sie sind das, was die höchste Quelle kundgetan hat. Für einen Heiligen der Letzten Tage ist die höchste Quelle, von der Erkenntnis und Vollmacht ausgeht, der lebendige Gott selbst. Diese Gaben bekommen wir von Gott in Gestalt lebendiger, dynamischer, göttlicher Offenbarung.12

Diese Lehre bildet das Herzstück der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und unserer Botschaft an die Welt. Sie unterstreicht die Bedeutung der feierlichen Versammlung von gestern, in der wir Thomas S. Monson als einen Propheten, Seher und Offenbarer bestätigt haben. Wir glauben an einen Gott, der an unserem Leben teilnimmt, der nicht schweigt, nicht abwesend ist und auch nicht, wie Elija über den Gott der Baalspriester sagte, verreist ist oder vielleicht schläft und dann aufwacht13. In dieser Kirche sagen selbst die kleinen Kinder in der Primarvereinigung auf: „Wir glauben alles, was Gott offenbart hat, und alles, was er jetzt offenbart; und wir glauben, dass er noch viel Großes und Wichtiges offenbaren wird, was das Reich Gottes betrifft.“14

Wenn wir von neuen heiligen Schriften und fortdauernder Offenbarung sprechen, beten wir darum, dass wir dabei niemals hochmütig oder taktlos sind. Doch nachdem eine heilige Vision in einem dadurch geheiligten Waldstück die Frage, ob es einen Gott gibt, positiv beantwortet hat, zwingen uns Joseph Smith und die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die nächste Frage zu stellen, die unweigerlich daraus folgt: „Spricht er auch?“ Wir bringen die frohe Botschaft, dass er gesprochen hat und noch immer spricht. Mit der Liebe und Zuneigung, die unserem christlichen Glauben entspringen, laden wir alle ein, das Wunder dessen, was Gott seit biblischen Zeiten gesagt hat und noch heute sagt, genau zu betrachten.

Gewissermaßen kommen Joseph Smith und die Propheten, die diese Kirche nach ihm hatte, der Aufforderung nach, die Ralph Waldo Emerson diesen kommenden Sommer vor 170 Jahren an die Theologiestudenten der Harvard-Universität richtete. Der große Philosoph aus Concord forderte diese Gruppe der besten und hellsten Köpfe, die der Protestantismus damals zu bieten hatte, auf, zu verkünden, „dass Gott ist, nicht war; dass er spricht, nicht sprach“15.

Ich bezeuge, dass der Himmel offen steht. Ich bezeuge, dass Joseph Smith ein Prophet Gottes war und ist. Ich bezeuge, dass das Buch Mormon wahrhaftig „ein weiterer Zeuge für Jesus Christus“ ist, dass Thomas S. Monson Gottes Prophet ist, ein neuzeitlicher Apostel, der die Schlüssel des Reiches in seinen Händen hält, ein Mann, auf den ich selbst den Mantel habe fallen sehen. Ich bezeuge, dass die Gegenwart solcher bevollmächtigten, prophetischen Stimmen sowie Offenbarungen, die den Kanon fortdauernd erweiterten, immer wenn eine von Christus bevollmächtigte Geistlichkeit auf der Erde war, das Herzstück der christlichen Botschaft bildeten. Ich bezeuge, dass eine solche Geistlichkeit wieder auf der Erde ist und dass man sie in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage findet.

Mit tief empfundener Hingabe an Jesus von Nazaret als den buchstäblichen Sohn Gottes, den Erretter der Welt, laden wir alle ein, das zu prüfen, was wir von ihm empfangen haben, sich uns anzuschließen und reichlich von der sprudelnden Quelle zu trinken, deren Wasser ewiges Leben schenkt16 und uns unablässig daran erinnert, dass Gott lebt, dass er uns liebt und dass er spricht. Ganz persönlich möchte ich meinen tief empfundenen Dank dafür zum Ausdruck bringen, dass seine Werke ohne Ende sind und seine „Worte nie aufhören“. Ich gebe Zeugnis davon, dass Gott uns in seiner Liebe solche Aufmerksamkeit schenkt und dass sie schriftlich festgehalten wird. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Siehe Stephen E. Robinson, Are Mormons Christians?, 1991, Seite 46. Die Kanonproblematik wird auf den Seiten 45 bis 56 erörtert. Unter einem Kanon versteht man auch eine „Liste der kirchlich für verbindlich erklärten … Schriften“ (Duden, deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage, 1989, Seite 807.)

  2. Siehe Bruce M. Metzger, Manuscripts of the Greek Bible: An Introduction to Greek Paleography, 1981, Seite 54f; siehe auch Are Mormons Christians?, Seite 46

  3. Siehe beispielsweise Deuteronomium 4:2

  4. Mose 1:4

  5. Lee M. McDonald, The Formation of the Christian Biblical Canon, überarbeitete Ausgabe, 1995, Seite 255f.

  6. Siehe M. Russell Ballard, „Das Wunder der Bibel“, Liahona, Mai 2007, Seite 80ff.

  7. Joseph Smith – Lebensgeschichte 1:6,12

  8. Mormon 7:9; Hervorhebung hinzugefügt

  9. LuB 10:52; siehe auch LuB 20:11

  10. N. T. Wright, The Last Word: Beyond the Bible Wars to a New Understanding of the Authority of Scripture, 2005, Seite xi

  11. Wright, The Last Word, Seite 24

  12. Eine vollständige Abhandlung über dieses Thema finden Sie in diesem Artikel von Dallin H. Oaks: „Scripture Reading and Revelation“, Ensign, Januar 1995, Seite 6-9

  13. Siehe 1 Könige 18:27

  14. 9. Glaubensartikel

  15. „An Address“, The Complete Writings of Ralph Waldo Emerson, 1929, Seite 45

  16. Siehe Johannes 4:14