2012
Entscheidungsfreiheit und Inspiration
Juni 2012


Klassiker des Evangeliums

Entscheidungsfreiheit und Inspiration

Bruce R. McConkie wurde am 29. Juli 1915 in Michigan geboren. Er wurde 1946 in den ersten Rat der Siebziger berufen und 1972 zum Apostel ordiniert. Er starb am 19. April 1985. Diese Ansprache wurde am 27. Februar 1973 an der Brigham-Young-Universität gehalten.

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Elder Bruce R. McConkie

Von uns wird erwartet, dass wir alles tun, was wir können, und dann eine Antwort vom Herrn erbitten, nämlich die Bestätigung, dass wir zu dem richtigen Entschluss gekommen sind.

Als wir noch in der Gegenwart Gottes, unseres himmlischen Vaters, lebten, erhielten wir Entscheidungsfreiheit. Dadurch konnten und durften wir selbst wählen, was wir tun wollten. Wir konnten uns frei und ungehindert entscheiden. … Es wird von uns erwartet, dass wir von unseren Gaben und Fähigkeiten, unserer Urteilskraft und Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen.

Andererseits ist uns aber auch geboten, den Herrn zu suchen, uns um seinen Geist zu bemühen und uns vom Geist der Offenbarung und Inspiration leiten zu lassen. Wir kommen in die Kirche, und ein rechtmäßig Beauftragter legt uns die Hände auf und sagt: „Empfange den Heiligen Geist!“ Damit erhalten wir die Gabe des Heiligen Geistes, das heißt, das Anrecht darauf, dass dieses Mitglied der Gottheit gemäß unserer Glaubenstreue ständig mit uns ist.

Wir haben hier also zwei Aussagen. Auf der einen Seite sollen wir uns vom Geist der Inspiration und der Offenbarung leiten lassen. Auf der anderen Seite sollen wir aber auch von unserer Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen, das heißt, selbst bestimmen, was wir tun. Diese beiden Forderungen heißt es nun miteinander in Einklang zu bringen. …

Ich möchte jetzt drei Fallstudien vortragen, woraus sich ganz praktische und logische Schlussfolgerungen in Hinblick darauf ziehen lassen, wie wir uns verhalten sollen. Diese Beispiele entnehme ich den Offenbarungen des Herrn.

„Du hast es nicht verstanden“

Fallstudie Nr. 1: Es gab einmal einen Mann namens Oliver Cowdery. … Er schrieb den Text (das Buch Mormon) nieder, den der Prophet diktierte, als er unter dem Einfluss des Heiligen Geistes übersetzte. Damals war Bruder Cowdery geistig noch verhältnismäßig unreif, und er erstrebte etwas, was über seine geistigen Fähigkeiten hinausging. Er wollte selbst übersetzen. Daher wandte er sich mit diesem Wunsch an den Propheten, dieser trug ihn dem Herrn vor, und sie empfingen eine Offenbarung. Der Herr sagte: „Oliver Cowdery, wahrlich, wahrlich, ich sage dir: So gewisslich der Herr lebt, der dein Gott und dein Erlöser ist, ebenso gewiss wirst du Kenntnis empfangen von allem, was auch immer du im Glauben erbittest, mit ehrlichem Herzen und im Vertrauen darauf, dass du … empfangen wirst.“ Hierauf nannte der Herr etwas, was Oliver Cowdery empfangen konnte, nämlich „Kenntnis … über die Gravierungen der alten Aufzeichnungen, die aus früherer Zeit stammen und diejenigen Teile meiner heiligen Schrift enthalten, von denen durch die Kundgebung meines Geistes gesprochen worden ist“.

Nachdem der Herr diese spezielle Frage beantwortet hatte, offenbarte er einen Grundsatz, der auch für alle anderen Situationen dieser Art Gültigkeit hat: „Ja, siehe, ich werde es dir in deinem Verstand und in deinem Herzen durch den Heiligen Geist sagen, der über dich kommen wird und der in deinem Herzen wohnen wird. Nun siehe, dies ist der Geist der Offenbarung.“ (LuB 8:2,3.) …

Also bat Oliver Cowdery darum. Und als er zu übersetzen versuchte, gelang es ihm nicht, wie Sie wissen; er konnte es einfach nicht. … So wandte sich der Prophet in dieser Sache erneut an den Herrn, dessen Verheißung sie ja hatten verwirklichen wollen. Der Herr antwortete und nannte den Grund, warum Oliver Cowdery nicht hatte übersetzen können: „Siehe, du hast es nicht verstanden; du hast gemeint, ich würde es dir geben, obschon du dir keine Gedanken gemacht hast, außer mich zu bitten.“ (LuB 9:7.)

Anscheinend war er ja nur angewiesen worden, voll Glauben zu bitten. Dies schließt jedoch ein, dass man vorher selbst alles unternimmt, wozu man imstande ist, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Wir nutzen die Entscheidungsfreiheit, mit der wir ausgestattet worden sind. Wir setzen alle unsere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kräfte ein, um das, worum es gerade geht, zu bewerkstelligen. Dies gilt für die Übersetzung des Buches Mormon ebenso wie dafür, dass man sich für eine Frau entscheidet, sich einen Arbeitsplatz sucht oder sonst eine der unzähligen wichtigen Entscheidungen trifft, die sich uns im Laufe des Lebens stellen. …

„Warum fragst du mich?“

Nun zur Fallstudie Nr. 2: Die Jarediten kamen an das Gewässer, das sie überqueren mussten, und der Herr sagte zu Jareds Bruder: „Baut Schiffe.“ …

Die Schiffe sollten allerdings unter ungewöhnlichen und schwierigen Umständen benutzt werden; daher brauchte Jareds Bruder etwas, was in den Schiffen nicht ausreichend vorhanden war: Luft! Dieses Problem überstieg seine Fähigkeiten; deshalb trug er die Angelegenheit dem Herrn vor, und da er unmöglich eine Lösung finden konnte, löste der Herr das Problem für ihn und sagte sinngemäß: „Tu dieses und jenes, dann habt ihr Luft.“

Dann stellte Jareds Bruder noch eine weitere Frage, denn er hatte Zutrauen gewonnen, weil er mit dem Herrn redete und der Herr ihm antwortete. Er fragte: „Wie bekommen wir Licht in die Schiffe?“

Der Herr äußerte sich dazu und fragte ihn dann: „Was wollt ihr, dass ich tun soll, damit ihr Licht in euren Wasserfahrzeugen habt?“ (Ether 2:23.) Mit anderen Worten: „Ich habe dir Entscheidungsfreiheit gegeben; du hast Fähigkeiten und Geschick mitbekommen. Los, sieh zu, dass du das Problem selbst löst!“

Jareds Bruder verstand. Er stieg auf einen Berg, den sie Schelem nannten, und schmolz dort, wie es in den heiligen Schriften heißt, „aus einem Felsen sechzehn kleine Steine; und sie waren weiß und klar, ja, wie durchscheinendes Glas“ (Ether 3:1). …

Der Herr erfüllte Jareds Bruder diesen Wunsch, und dabei erblickte Jareds Bruder auch den Finger des Herrn. Während noch diese geistige Verbindung zwischen ihm und dem Herrn bestand, empfing er eine Offenbarung, die alles übertraf, was einem Propheten bis dahin je zuteilgeworden war. Der Herr offenbarte ihm mehr über sein Wesen und seine Eigenschaften, als den Menschen zuvor bekannt gewesen war. Dies alles trat nur deswegen ein, weil Jareds Bruder alles getan hatte, was er selbst tun konnte, und sich danach an den Herrn um Rat wandte.

Entscheidungsfreiheit und Inspiration müssen miteinander in Einklang stehen. Von uns wird erwartet, dass wir alles tun, was wir können, und dann eine Antwort vom Herrn erbitten, die Bestätigung, dass wir zu dem richtigen Entschluss gekommen sind. Glücklicherweise werden uns dann zuweilen noch zusätzlich Wahrheit und Erkenntnis offenbart, mit denen wir gar nicht gerechnet haben.

„Sie sollen sich untereinander und mit mir beraten“

Nun zur Fallstudie Nr. 3: In den Anfangstagen der Kirche gebot der Herr den Heiligen, sich an einem bestimmten Ort in Missouri zu versammeln. Man beachte, was nun geschah. Der Herr sagte:

„Wie ich im Hinblick auf meinen Knecht Edward Partridge gesagt habe – dieses Land ist das Land seines Wohnsitzes und derjenigen, die er zu seinen Ratgebern bestimmt hat, und auch das Land des Wohnsitzes für denjenigen, den ich bestimmt habe, mein Vorratshaus zu verwalten; darum sollen sie ihre Familien in dieses Land bringen, wie sie sich untereinander und mit mir beraten werden.“ [LuB 58:24,25; Hervorhebung hinzugefügt.] …

Der Herr erteilte den Heiligen nur die allgemeine Aufforderung, sich in Zion zu versammeln. Die Einzelheiten und Vorkehrungen, das Wie und Wann und sonstige Umstände sollten diejenigen, an die dieser Aufruf ergangen war, anhand ihrer Entscheidungsfreiheit selbst festlegen, allerdings sollten sie sich mit dem Herrn beratschlagen. …

Nachdem der Herr der Präsidierenden Bischofschaft die erwähnte Weisung erteilt hatte, offenbarte er einen Grundsatz, der nicht nur für diese Situation, sondern auch allgemein Gültigkeit besitzt. Es ist eine erhabene Wahrheit, die uns hier offenbart wird. Er sagte:

„Denn siehe, es ist nicht recht, dass ich in allem gebieten muss; denn wer in allem genötigt werden muss, der ist ein träger und nicht ein weiser Knecht, darum empfängt er keinen Lohn.

Wahrlich, ich sage: Die Menschen sollen sich voll Eifer einer guten Sache widmen und vieles aus ihrem eigenen, freien Willen tun und viel Rechtschaffenheit zustande bringen.“ [LuB 58:26,27; Hervorhebung hinzugefügt.] …

Das waren die drei Fallstudien; und nun kommen wir zu der Schlussfolgerung, die uns offenbart worden ist. …

Wenn Sie lernen, die Ihnen von Gott gegebene Entscheidungsfreiheit richtig anzuwenden, und wenn Sie alles daransetzen, Ihre Entscheidungen selbst zu treffen, und einen vernünftigen und richtigen Entschluss fassen, vom Herrn Rat einholen und er Ihre Entscheidung billigt und bestätigt, dann haben Sie erstens eine Offenbarung empfangen, und außerdem wird Ihnen der erhabene Lohn ewigen Lebens zuteil; Sie werden am Jüngsten Tag emporgehoben. …

Gott gebe uns dafür Weisheit und dazu den Mut und die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und von unserer Entscheidungsfreiheit und unseren Fähigkeiten Gebrauch zu machen. Mögen wir sodann demütig genug und für den Geist empfänglich sein, sodass wir uns dem Willen des Herrn unterordnen, die Bestätigung erhalten, dass er mit unserer Entscheidung einverstanden ist, und so den Geist der Offenbarung erlangen. Wenn wir dies alles tun, steht das Ergebnis ohne Frage fest: Frieden in diesem Leben sowie Herrlichkeit, Ehre und Würde in der künftigen Welt.

Fotos von David Stoker; FOTO DER BÄUME © Plainpicture/Hasengold