2012
Tief im Innern weiß es der Lernende
Juli 2012


Dienst in der Kirche

Tief im Innern weiß es der Lernende

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Russell T. Osguthorpe

Wenn wir uns bewusst machen, welch ein Potenzial in jedem Lernenden steckt, beginnen wir, so zu sehen, wie Gott sieht.

Als ich einmal mit meiner Frau im Auftrag der Kirche in Cusco in Peru war, besuchten wir einen gemeinsamen Unterricht der FHV und des Melchisedekischen Priestertums. Unterrichtet wurde diese Klasse vom Lehrer der Evangeliumslehreklasse für die Erwachsenen. Aufgrund zeitlicher Verschiebungen in den vorangegangenen Versammlungen blieben nur etwa 20 Minuten für den Unterricht, den er vorbereitet hatte.

Zunächst bat er alle Mitglieder, die sich in den vergangenen zwei Jahren der Kirche angeschlossen hatten, aufzustehen. Fünf standen auf. Er schrieb die Zahl 5 an die Tafel und sagte: „Brüder und Schwestern, wir freuen uns, dass wir diese fünf Mitglieder bei uns haben, die sich erst unlängst der Kirche angeschlossen haben. Das Problem dabei ist nur, dass sich in den vergangenen zwei Jahren in unserer Gemeinde 16 Neubekehrte haben taufen lassen.“

Er schrieb die Zahl 16 neben die Zahl 5 und fragte sehr ernst: „Also, Brüder und Schwestern, was wollen wir tun?“

Eine Schwester meldete sich und sagte: „Wir müssen sie finden und zurückbringen.“

Der Lehrer stimmte ihr zu und schrieb das Wort Rettung an die Tafel. „Wir haben elf neue Mitglieder, die wir zurückbringen müssen“, erwiderte er.

Dann zitierte er Präsident Thomas S. Monson mit einer Aussage dazu, wie wichtig diese Rettung ist. Außerdem las er aus dem Neuen Testament die Stelle vor, wo der Erretter nach den verlorenen Schafen sucht (siehe Lukas 15:6). Dann fragte er: „Wie wollen wir sie zurückbringen?“

Viele meldeten sich, und er rief einen nach dem anderen auf. Die Teilnehmer machten Vorschläge, wie man gemeinsam als Gemeinde vorgehen oder was Einzelne tun könnten, um Neubekehrten zu helfen, wieder in die Kirche zu kommen. Nun fragte der Lehrer: „Nehmen Sie an, Sie gehen die Straße entlang und sehen auf der anderen Straßenseite einen Mann. Sie erkennen ihn als einen der Neubekehrten. Was machen Sie?“ Jemand sagte: „Ich würde hinübergehen und ihn grüßen. Ich würde ihm sagen, wie sehr er uns fehlt und wie sehr wir uns freuen würden, wenn er wiederkäme.“

Andere Teilnehmer pflichteten ihm bei und nannten weitere konkrete Beispiele, wie man diesen Mitgliedern zur Seite stehen könnte. Man spürte die Begeisterung und Entschlossenheit, zu tun, was nötig war, um diesen erst kurz zuvor getauften Mitgliedern zu helfen, den Weg zurück in die Kirche zu finden.

Meine Frau und ich verspürten nach diesem Unterricht ebenfalls den Wunsch, etwas zu unternehmen, um jemandem zu helfen, wieder aktiv am Kirchenleben teilzunehmen. Ich glaube, dass es allen, die dabei waren, ähnlich erging. Nach diesem Erlebnis fragte ich mich: Was machte diesen kurzen Unterricht so wirkungsvoll? Warum waren alle anschließend so motiviert, noch treuer nach dem Evangelium zu leben?

Als ich über diese zwei Fragen nachdachte, kristallisierten sich vier Leitsätze heraus, die diesem guten Unterricht und der Wirkung, die er zeigte, zugrunde lagen:

  1. Bekehrung ist das Ziel.

  2. Liebe ist der Beweggrund.

  3. Die Lehre ist der Schlüssel.

  4. Der Heilige Geist ist der Lehrer.

Bekehrung ist das Ziel

Anstatt zu versuchen, „den Verstand der Schüler mit Informationen zu füttern“, was wir laut Präsident Monson nicht tun sollen, versuchte der Lehrer, „den Einzelnen dazu anzuregen, über Evangeliumsgrundsätze nachzudenken, sie nachzuempfinden und dann etwas zu unternehmen, um danach zu leben“.1

Kurz gesagt, der Lehrer hatte das Ziel, die Schüler anzuspornen, etwas zu tun, was sie nicht getan hätten, wenn sie den Unterricht nicht besucht hätten. Und dieses Tun sollte jedem Einzelnen helfen, ein wahrer Jünger des Heilands zu werden.

Das Ziel eines solchen Unterrichts ist Bekehrung. Wer sich bekehrt, schlägt eine andere Richtung ein, macht sich ein neues Verhalten zu eigen. Bekehrung – ein wahrer Jünger werden – ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein lebenslanger Prozess.2 Bei diesem Unterricht sollten nicht nur die Schüler von ihrem Tun profitieren, sondern auch die Neubekehrten, um die sie sich bemühen wollten. Immer wenn wir einen Evangeliumsgrundsatz noch treuer befolgen, ist dies auch für jemand anderen direkt oder indirekt ein Segen. Daher ist das Lernen und Lehren im Evangelium etwas Einzigartiges. Im Evangelium führt das Lernen nämlich nicht nur zu einer Ansammlung von Wissen, sondern zu persönlicher Bekehrung.

Liebe ist der Beweggrund

Bei dem Unterricht in Peru konnte ich spüren, wie sehr dem Lehrer sowohl die Anwesenden als auch die Neubekehrten, um die sich die Unterrichtsteilnehmer bemühen sollten, am Herzen lagen. Liebe schien sich im Zimmer auszubreiten – vom Lehrer zum Lernenden, vom Lernenden zum Lehrer, von einem Lernenden zum anderen und von den Lernenden zu den Neubekehrten.

Liebe hilft uns Lehrern, so zu lehren, wie der Erlöser es tun würde, wenn er im Klassenzimmer wäre. Ja, „die Liebe drängt uns dazu, uns anders vorzubereiten, anders zu unterrichten“.3

Wenn ein Lehrer nur den Unterrichtsstoff durchnehmen will, konzentriert er sich auf den Inhalt und nicht auf das, was die einzelnen Teilnehmer brauchen. Der Lehrer in Peru sah offenbar keine Notwendigkeit, etwas durchzunehmen. Er wollte die Schüler einfach nur anspornen, sich ihrer Brüder und Schwestern liebevoll anzunehmen. Liebe zum Herrn und Liebe füreinander waren dabei die treibende Kraft. Liebe war der Beweggrund. Wenn Liebe unser Beweggrund ist, gibt der Herr uns die Kraft, seine Absichten zu erfüllen, nämlich seinen Kindern beizustehen. Er lässt uns wissen, was wir als Lehrer sagen sollen und wie wir es sagen sollen.

Die Lehre ist der Schlüssel

Der Lehrer in Peru las im Unterricht nicht aus dem Leitfaden vor. Sicher hat er den Leitfaden oder Konferenzansprachen gelesen, um sich auf den Unterricht vorzubereiten, aber im Unterricht lehrte er aus den heiligen Schriften. Er erzählte das Gleichnis vom verlorenen Schaf und zitierte diesen Vers: „Und wenn du dich … bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ (Lukas 22:32.) Er las Präsident Monsons Aufruf an alle Mitglieder vor, diejenigen zu retten, die vom Weg abgekommen sind. Im Mittelpunkt seines Unterrichts standen die Lehren Glaube und Nächstenliebe. Die Schüler mussten genügend Glauben aufbringen, um zu handeln, und sie mussten aus Liebe handeln.

Wenn die Lehren des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi klar und mit Überzeugung gelehrt werden, stärkt der Herr sowohl den Lernenden als auch den Lehrenden. Je mehr Schüler Vorschläge dazu machten, wie sie sich um ihre Brüder und Schwestern, die nicht mehr zur Kirche kamen, kümmern wollten, desto näher fühlten sich alle dem Erlöser, der ja sein ganzes Erdenleben damit zugebracht hat, anderen beizustehen. Die Lehre ist der Schlüssel dazu, das Evangelium erfolgreich zu lernen und zu lehren. Sie öffnet das Herz. Sie öffnet den Sinn. Sie bereitet dem Geist Gottes den Weg, alle Anwesenden zu inspirieren und zu erbauen.

Der Heilige Geist ist der Lehrer

Ein guter Evangeliumslehrer weiß, dass er eigentlich gar nicht der Lehrer ist. Das Evangelium wird durch den Heiligen Geist gelehrt und gelernt. Ohne den Geist führt das Verkünden von Evangeliumswahrheiten nicht zu einem Lernprozess (siehe LuB 42:14). Je öfter der Lehrer die Teilnehmer inspiriert zum Handeln auffordert, desto stärker wird der Geist im Unterricht zugegen sein. Der Lehrer in Peru sprach eine inspirierte Aufforderung aus. Als dann die Schüler Vorschläge unterbreiteten, war der Geist noch stärker zu spüren und alle wurden gestärkt.

Der Lehrer versuchte nicht, den Stoff durchzubringen. Vielmehr war er bemüht, das hervorzubringen, was die Lernenden bereits innerlich wussten. Indem er die Teilnehmer durch die Macht des Geistes zum Handeln aufforderte, verhalf er ihnen zu der Erkenntnis, dass es ihr eigener Wunsch war, zur Tat zu schreiten und liebevoll auf ihre Brüder und Schwestern zuzugehen. Als die Unterrichtsteilnehmer ihre Gedanken äußerten, erbauten sie einander, weil alle vom Geist inspiriert wurden.

Wenn wir uns bemühen, nach dem Evangelium zu leben, indem wir unseren Mitmenschen beistehen, empfangen wir Inspiration vom Herrn darüber, was wir tun sollen. Wenn wir uns also wünschen, dass der Heilige Geist in unserem Unterricht stärker zu spüren ist, brauchen wir die Teilnehmer nur dazu auffordern, einen Evangeliumsgrundsatz noch treuer zu befolgen. Wenn wir uns verpflichten, einen Evangeliumsgrundsatz noch treuer zu befolgen, nahen wir uns Gott, und er naht sich uns (siehe LuB 88:63).

In jedem Lernenden steckt großes Potenzial

Wir lernen und lehren das Evangelium nicht nur, um Erkenntnis zu erlangen. Wir lernen und lehren das Evangelium, um Erhöhung zu erlangen. Das Evangelium wird nicht gelernt und gelehrt, damit man Fakten beherrscht, sondern damit man sich selbst beherrscht und zu einem Jünger Jesu wird. Ob wir nun zuhause unsere Kinder unterweisen oder in der Kirche Mitglieder unserer Gemeinde unterrichten, wir dürfen eines nicht vergessen: Was wir vermitteln wollen, trägt der Lernende bereits in sich. Unsere Aufgabe als Eltern oder Lehrer besteht darin, unseren Schützlingen zu helfen, das zu entdecken, was sie in Herz und Sinn bereits wissen.

Wenn wir uns bewusst machen, welch ein Potenzial in jedem Lernenden steckt, beginnen wir, so zu sehen, wie Gott sieht. Dann können wir das sagen, was er möchte, und das tun, was er möchte. Auf diesem Weg des Lernens und Lehrens ist Bekehrung unser Ziel, Liebe unser Beweggrund, die Lehre der Schlüssel und der Heilige Geist der Lehrer. Wenn wir auf diese Weise lernen und lehren, segnet der Herr die Lernenden und den Lehrenden, damit alle durch alle erbaut werden (siehe LuB 88:122).

Anmerkungen

  1. Thomas S. Monson, Herbst-Generalkonferenz 1970

  2. Siehe Dallin H. Oaks, „Werden – unsere Herausforderung“, Liahona, Januar 2001, Seite 40–43

  3. Lehren, die größte Berufung, Seite 31