2013
Wegen fünf Minuten!
Januar 2013


Bis aufs Wiedersehen

Wegen fünf Minuten!

Ich kam doch bloß fünf Minuten nach Schluss der Einlassfrist zum Saaleingang. Das konnte doch wohl nicht bedeuten, dass ich meine eigene Abschlussfeier verpasste!

Am Ende meines letzten Studienjahres fand – wie jedes Jahr – die akademische Feier statt, bei der alle Absolventen, traditionell mit Talar und Doktorhut bekleidet, vom Rektor ihr Diplom überreicht bekamen. Ich freute mich sehr auf diese Feier, den krönenden Abschluss von vier anstrengenden Studienjahren. Am Morgen der Abschlussfeier hatte ich ein Schreiben von der Universität erhalten, mir aber nicht die Zeit genommen, es zu öffnen.

Die Feier begann um 13:30 Uhr, und ich hatte davor noch einen Termin beim Fotografen vereinbart. Leider musste ich aber für das Foto lange anstehen, und jeder Blick auf die Uhr zeigte mir, dass die Zeit langsam knapp wurde. Doch ich hatte schon so lange gewartet, dass ich mich unbedingt fotografieren lassen wollte. Als ich endlich fertig war, hatte ich noch zehn Minuten. Ich rannte zum Saal.

Dort stand ich jedoch vor verschlossenen Türen, die von Sicherheitsbediensteten bewacht wurden. Ich bat sie, mich einzulassen, aber sie weigerten sich und wiesen darauf hin, dass ich spätestens 15 Minuten vor Beginn hätte da sein müssen. Da ich von dieser Bedingung zum ersten Mal hörte, protestierte ich. Aber die Sicherheitsleute rührten sich nicht vom Fleck. Vier Jahre hatte ich auf diesen Abschluss hingearbeitet, und nun konnte ich nicht einmal mein Diplom persönlich entgegennehmen. Ich musste mit den Zuschauern auf der Empore sitzen.

Als ich nach Hause kam und den Brief öffnete, den ich am Morgen erhalten hatte, stand darin klipp und klar, dass die Absolventen 15 Minuten vor Beginn ihren Platz einzunehmen hatten. Zuspätkommende würden nicht mehr eingelassen. Ich kam mir vor wie eine der törichten Jungfrauen in dem Gleichnis Jesu:

„Während [die törichten Jungfrauen] noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal und die Tür wurde zugeschlossen.

Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf!

Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.“ (Matthäus 25:10-12.)

Von einer wichtigen Feier ausgeschlossen zu werden, mag einem als harte Strafe für einen eher lässlichen Fehler vorkommen, aber ich habe daraus gelernt, dass es sich bei unseren Entscheidungen und ihren Folgen eben so verhält. Hebt man das eine Ende eines Stocks vom Boden auf, hebt man unweigerlich auch das andere Ende mit auf. Und so ist es mit jeder Entscheidung: Ich entscheide mich nicht nur für mein Handeln, sondern auch für die damit verbundenen Folgen – wie unvorhersehbar sie auch sein mögen.

Dem Satan liegt daran, unseren Blick allein auf die Entscheidung zu lenken, ohne die Folgen mit zu berücksichtigen. Häufig gelingt ihm das, indem er uns dazu verleitet, nur das körperliche Verlangen zu sehen, das „Wollen des Fleisches“ (2 Nephi 2:29) und sofortige Erfüllung.

Der Vater im Himmel hingegen möchte unseren Blick auf unser Glück und die Segnungen der Ewigkeit lenken. Er erwartet von uns, dass wir die Folgen unserer Entscheidung mit bedenken und dass diese Folgen in unsere Beweggründe einfließen: „Sie sind frei, um Freiheit und ewiges Leben zu wählen durch den großen Mittler für alle Menschen oder um Gefangenschaft und Tod zu wählen.“ (2 Nephi 2:27.)

Ich bin zwar nicht froh darüber, dass ich die feierliche Diplomverleihung verpasst habe, aber ich bin dankbar für das, was ich im Hinblick auf die Ewigkeit daraus gelernt habe: Ich will nie eine Entscheidung treffen, die mich davon abhalten könnte, in die Gegenwart des Bräutigams eingelassen zu werden. Ich möchte nicht mit den Worten „Ich kenne dich nicht“ ausgeschlossen werden. Deshalb bemühe ich mich, so zu leben, dass ich einmal vom Herrn die Worte höre: „Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ (Matthäus 25:21.)

Foto © Photospin