2013
Das Gute in Kylie erkennen
Januar 2013


Das Gute in Kylie

Wir konnten einander nicht ausstehen. Konnten wir jemals Freundinnen werden?

Bild
girls in cafeteria

Illustration von Taia Morley

Die vierte Klasse war die schönste für mich. Alles in dieser Klasse war einfach super – bis auf Kylie (Name geändert). Kylie war zu fast jedem garstig, auch zu mir. Ich sah, wie sie andere im Gang schubste, und sie schubste sogar mich ein paarmal. Ich kam immer wieder mal weinend nach Hause, weil ich nicht begriff, weshalb sie mich so schikanierte.

Sie hatte keine Freunde. Beim Mittagessen hatte sie ihren eigenen Tisch, denn niemand wollte bei ihr sitzen. Ich erzählte meiner Mutter von Kylie, und sie sagte mir einige weise Worte, die mein Leben veränderten: „Vielleicht braucht sie einfach eine Freundin.“

Das war für mich ein Schock. Wie konnte ich denn nett zu jemand sein, der mich, ohne zu zögern, mit einem Schimpfnamen bedachte? Widerstrebend beschloss ich jedoch, netter zu Kylie zu sein und zu versuchen, sie zu verstehen. Als ich sie besser kennenlernte, stellte ich fest, dass sie eigentlich recht nett war. Ich erfuhr, dass ihr Leben viel schlimmer war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Sie lebte in einem schwierigen Zuhause und mied jedes Gespräch mit dem Wort „Familie“.

Eines Tages saß ich mit meinen Freundinnen beim Mittagessen. Da Kylie garstig zu den anderen war, gab es auch einige Mädchen, die ebenfalls nicht nett zu ihr waren. Sie fingen an, sich über Kylie lustig zu machen, und redeten so laut, dass sie es hören musste. So sagten sie etwa: „Komm, setz dich – woandershin!“ „Was stinkt hier so? Oh, das ist Kylie!“, und „Bleib bloß weg!“ Ich hörte das alles mit an.

Plötzlich sagte eine leise Stimme in meinem Kopf: „Tu was!“ Ich stand auf und spürte, wie sich ein Dutzend Augenpaare auf mich richteten. „Stopp!“, sagte ich. „Seid doch nicht so gemein! Seid einfach nett zu ihr!“ Alle verstummten. Ich setzte mich wieder und blickte zu Kylie hinüber. Sie wandte sich zu mir und sah mich dankbar an.

In der sechsten Klasse stand mein zwölfter Geburtstag bevor, und ich wollte mit ein paar Freundinnen feiern. Als meine Mutter fragte, ob ich noch jemanden einladen wolle, hörte ich dieselbe leise Stimme im Kopf: „Lade Kylie ein.“

„Ich möchte Kylie einladen“, teilte ich meiner Mutter mit.

„Wirklich?“

Ich nickte. Nach der Geburtstagsfeier waren meine Freundinnen und ich – und auch Kylie – so gut miteinander befreundet, dass wir uns in den letzten drei Schulmonaten jeden Freitag trafen. Kylie war immer dabei. Wir wurden wirklich dicke Freundinnen.

Jetzt bin ich in der achten Klasse. Wir sind inzwischen in einen anderen Bundesstaat gezogen, aber ich bin immer noch in Kontakt mit Kylie, denn sie ist nach wie vor eine meiner besten Freundinnen. Manchmal fragen mich meine anderen Freundinnen, wie wir uns so nahe gekommen sind.

„In der vierten Klasse suchte sie immer Streit, und wir konnten einander nicht ausstehen“, sage ich dann.

„Aber wie seid ihr dann so gute Freundinnen geworden?“

„Ich habe nach dem Guten in ihr Ausschau gehalten. Jeder Mensch hat etwas Gutes in sich, und ich habe versucht, es bei ihr zu finden.“