2016
Erkenntnisse über Suizid: Warnsignale und Prävention
October 2016


Erkenntnisse über Suizid: Warnsignale und Prävention

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sitting at the edge of a dock

Fotos © iStock/Thinkstock

Als Kevin 16 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Etwa zu der Zeit hörte er auf, seine Medikamente gegen Epilepsie einzunehmen, die auch stimmungsstabilisierend wirkten. Ihm war nicht bewusst, dass er an einer bipolaren Störung litt, als er nach einiger Zeit mit Paranoia, entkräftenden Manien und schweren Depressionen zu kämpfen hatte. Medikamente schienen nicht zu helfen. Er war schließlich so erschöpft und all dem so überdrüssig, dass er beschloss, sich das Leben zu nehmen, ohne jemandem seine Absicht mitzuteilen.

Kevin sagt über den Tag, als er einen Suizidversuch unternahm: „Ich habe geweint. Ich war einfach nur müde, seelisch völlig erschöpft. Ich schaute die Menschen an und hoffte, irgendjemand, irgendeiner würde fragen: ‚Ist alles in Ordnung?‘ Obwohl ich mir das wünschte, hörte ich Stimmen [in meinem Kopf] sagen: ‚Du musst sterben.‘ … Die ganze Zeit über flehte ich mich selbst an, es nicht [durchzuziehen], aber die Stimmen waren zu stark. Ich kam nicht gegen sie an.“1

Tragischerweise bemerkte niemand seine innere Qual. Überzeugt, dass sich niemand für ihn interessierte, machte er den Suizidversuch, überlebte aber wie durch ein Wunder.

Können wir sein übergroßes Leid und seinen verzweifelten, stummen Hilfeschrei zumindest ein wenig nachempfinden?

Suizid gehört zu den schwersten Prüfungen im Erdenleben, sowohl für denjenigen, der von Suizidgedanken geplagt wird, als auch für die Hinterbliebenen. Elder M. Russell Ballard vom Kollegium der Zwölf Apostel stellte fest: „Ich denke, es gibt wohl kaum eine schwierigere Zeit für eine Familie, als wenn ein geliebter Mensch sich das Leben genommen hat. Ein Suizid ist für eine Familie eine entsetzliche Erfahrung.“2 In Anbetracht der Schwere dieser Prüfung möchte ich auf folgende Punkte eingehen: 1.) was wir über Suizid wissen, einschließlich der Warnsignale, und was wir tun können, um ihn möglicherweise zu verhindern, 2.) was die Hinterbliebenen und das Umfeld tun können und 3.) was wir alle tun sollen, um unsere Hoffnung und unseren Glauben an Christus zu stärken, damit wir nicht verzweifeln.

Erkenntnisse über Suizid

Weltweit nehmen sich jedes Jahr mehr als 800.000 Menschen das Leben.3 Das bedeutet, dass sich alle 40 Sekunden irgendwo auf der Welt jemand das Leben nimmt. Die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich sogar noch höher, da Suizid ein heikles Thema und zudem in manchen Ländern illegal ist und daher nicht ausreichend dokumentiert wird. Suizid ist bei den 15- bis 29-Jährigen die zweithäufigste Todesursache. In den meisten Ländern ist die Suizidrate bei den über 70-Jährigen am höchsten. Ob direkt oder indirekt, ein großer Teil unserer Gesellschaft ist davon betroffen.

Warnsignale

Das Gefühl, die Schwierigkeiten des Lebens nicht mehr bewältigen zu können, kann enorm belastend sein. Erscheint die seelische Belastung unerträglich, trübt dies unter Umständen das Denkvermögen, und der Betreffende meint, der Tod sei der einzige Ausweg. Er hat das Gefühl, niemand könne ihm helfen, was zu sozialer Isolation führen kann und das Leiden und das Gefühl, in einer hoffnungslosen Situation gefangen zu sein, weiter verstärkt. Schließlich ist man dann überzeugt, der Suizid sei der einzige Ausweg.

Sollte jemand irgendeines der folgenden ernsthaften Warnsignale zeigen,4 sollte man sofort ärztliche Hilfe hinzuziehen oder sich an einen Notdienst oder die Polizei wenden:

  • die Androhung, sich zu verletzen oder umzubringen

  • die Suche nach Möglichkeiten und Mitteln, sich umzubringen

  • ausgesprochene oder niedergeschriebene Gedanken über Tod, das Sterben oder Suizid

Bei den folgenden Warnsignalen ist die Gefahr möglicherweise weniger akut, man sollte aber dennoch nicht zögern, sich um den Betreffenden zu kümmern und Hilfe zu holen:

  • Aussagen, die Hoffnungslosigkeit oder die Sinnlosigkeit des Lebens zum Ausdruck bringen

  • Wut, Zorn, Rachegefühle

  • waghalsiges Verhalten

  • das Gefühl, in der Falle zu sitzen

  • vermehrter Alkohol- oder Drogenkonsum

  • Rückzug von Freunden, der Familie, der Gesellschaft

  • Ängste, Unruhe oder extreme Stimmungsschwankungen

  • Schlafstörungen oder übermäßiges Schlafen

  • das Gefühl, anderen zur Last zu fallen

Nicht jeder Suizidgefährdete teilt seine Absicht mit, aber bei den meisten sind doch Warnsignale wie die oben genannten zu erkennen. Nehmen Sie diese Anzeichen also ernst!

Selbst wenn man nicht sofort professionelle Hilfe hinzuziehen kann, ist doch der Einfluss liebevoller, einfühlsamer Freunde und Angehöriger nicht zu unterschätzen.

Prävention

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elderly man with a cane

Ist jemand suizidgefährdet, spielen Angehörige und Freunde eine wichtige Rolle. Wir müssen, wie Alma gesagt hat, „des anderen Last … tragen, damit sie leicht sei, … mit den Trauernden … trauern, ja, und diejenigen … trösten, die des Trostes bedürfen“ (Mosia 18:8,9).

Hier einige Anregungen, wie Angehörige und Freunde helfen können:

Wenden Sie sich dem Betreffenden zu und hören Sie liebevoll zu. Elder Ballard hat den Rat gegeben: „Es gibt wohl nichts Mächtigeres als die Liebe, mit der man den Leidenden umfangen kann.“5 „Wir [müssen sie] mit den Augen des himmlischen Vaters [sehen]“, sagte Elder Dale G. Renlund vom Kollegium der Zwölf Apostel. „Erst dann kann man spüren, wie der Erlöser sich um sie sorgt. … Diese erweiterte Perspektive öffnet uns das Herz für die Enttäuschungen, die Ängste und den Kummer anderer.“6

Helfen Sie ganz konkret. Erlebt jemand eine Krise, die zu einer unsicheren Lage führt und sich auf seine Grundbedürfnisse auswirkt, bieten Sie konkrete Hilfe an, lassen sie den Betreffenden aber entscheiden, ob er sie annehmen will oder nicht. Hat beispielsweise jemand Suizidgedanken, weil er seine Arbeit verloren hat, kann man ihm helfen, Stellenangebote zu finden, damit er mögliche Auswege sieht und nicht mehr das Gefühl hat, festzustecken.

Fragen Sie nach Suizidgedanken. Wenn Sie sich Sorgen machen, weil jemand sehr bedrückt ist und Warnsignale für Suizid zeigt, fragen Sie ihn, ob er darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen. Das mag Überwindung kosten, aber es ist besser, es herauszufinden, indem man direkt danach fragt. Es könnte dazu führen, dass der andere sich öffnet und von seinen Problemen und Sorgen erzählt.

Man könnte beispielsweise sagen: „Was du da zu tragen hast, würde jedem sehr zu schaffen machen. Hattest du schon einmal Selbstmordgedanken?“ oder: „Bei all dem Schmerz, den du gerade erlebst, frage ich mich, ob du schon einmal Selbstmordgedanken hattest.“ Wenn der Betreffende nicht suizidgefährdet ist, wird er das wahrscheinlich sagen.

Wenn Sie den Eindruck haben, dass er sich nicht öffnet und Suizidgedanken nicht eingestehen will, achten Sie aufmerksam auf die Eingebungen des Heiligen Geistes, um zu wissen, was zu tun ist. Sie könnten beispielsweise die Eingebung erhalten, einfach bei ihm zu bleiben, bis er sich Ihnen anvertrauen kann.

Bleiben Sie bei dem Betreffenden und rufen Sie Hilfe herbei. Wenn Ihnen jemand sagt, dass er Suizidabsichten hat, bleiben Sie bei ihm und lassen Sie ihn erzählen, was ihn belastet. Wenn er darüber spricht, wie oder wann er seinem Leben ein Ende setzen will, helfen Sie ihm, sich an eine Notfall-Hotline oder den psychiatrischen Notdienst zu wenden.

Reaktionen auf einen Suizid

Ob sie nun Warnsignale erkennen ließen oder nicht: Manche Menschen nehmen sich das Leben. Die hinterbliebenen Angehörigen und Freunde erleben bei einem solch schrecklichen Ereignis oft eine tiefe, verstörende und vielschichtige Form der Trauer. Hier einige mögliche Reaktionen:

  • Scham und das Gefühl der Stigmatisierung

  • Schock und Unglauben

  • Wut, Erleichterung oder Schuldgefühle

  • Verschweigen der Todesursache

  • sozialer Rückzug und Abbruch familiärer Beziehungen

  • aktives, möglicherweise sogar besessenes Engagement in der Suizidprävention

  • übermächtiges Verlangen, den Grund zu verstehen

  • das Gefühl, im Stich gelassen und zurückgewiesen worden zu sein

  • Schuldzuweisungen an den Verstorbenen, sich selbst, andere oder Gott

  • vermehrte Suizidgedanken oder selbstzerstörerische Gefühle

  • große emotionale Belastung an Feiertagen oder am Todestag des Verstorbenen7

Was die Hinterbliebenen und das Umfeld tun können

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woman sitting on bench

Verurteilen Sie niemanden. Suizid ist zwar etwas Schwerwiegendes, doch gibt Elder Ballard zu bedenken: „Offensichtlich kennen wir nicht alle Begleitumstände eines Selbstmordes. Der Herr allein kennt alle Einzelheiten, und er wird unsere Taten hier auf Erden beurteilen. Wenn [der Herr] uns richtet, wird er meiner Meinung nach alles in Betracht ziehen: unsere genetische und chemische Zusammensetzung, unseren Geisteszustand, unsere intellektuellen Fähigkeiten, die Belehrungen, die wir empfangen haben, die ‚Überlieferungen unserer Väter‘, unseren Gesundheitszustand und so weiter.“8

Gestehen Sie jedem seine eigene Form der Trauerbewältigung zu und respektieren Sie sie. Jeder Mensch trauert anders, und auch die Beziehung zu dem Verstorbenen war ja bei jedem eine andere. Akzeptieren und achten Sie daher jede Art und Weise, wie jemand seinen Schmerz verarbeitet.

Wenn wir einen lieben Menschen verlieren, können uns intensive, ja, überwältigende Gefühle zu schaffen machen. Trauer zu empfinden heißt aber nicht, zu wenig Glauben zu haben. Der Herr hat gesagt: „Ihr sollt liebevoll miteinander leben, sodass ihr über den Verlust derer, die sterben, weinen sollt.“ (LuB 42:45.) Trauer ist ein Zeichen dafür, wie sehr wir den Verstorbenen gemocht haben und was uns die Beziehung zu ihm bedeutet hat.

Lassen Sie sich helfen. Wenn man trauert, erscheint einem vieles kaum zu bewältigen. Wenn Sie sich helfen lassen, geben Sie anderen die Gelegenheit, Ihnen liebevoll beizustehen, und das kann eine heilige Erfahrung für die Helfenden sein. Hilfe zuzulassen kann nicht nur Ihre Wunden heilen und Ihnen Kraft geben, sondern auch dem, der hilft.

Bleiben Sie in Verbindung. Manche trauern still für sich, was zu sozialer Isolation führen kann. Bleiben Sie also mit Ihren Angehörigen und Freunden in Verbindung. Gehen Sie immer wieder auf trauernde Angehörige, Verwandte oder Freunde zu, und bieten Sie ihnen Ihre Hilfe an, denn sie wenden sich vielleicht nicht von allein an Sie.

Verlassen Sie sich auf den Erretter. Letzten Endes ist der Erretter die Quelle der Heilung und des Friedens. „Sein Sühnopfer ermöglicht es uns …, ihn, der alle unsere irdischen Leiden selbst durchlebt hat, anzurufen, damit er uns stärkt, sodass wir die Bürde des Erdenlebens tragen können. Er kennt unsere Qual, und er ist für uns da. Wie der barmherzige Samariter verbindet er unsere Wunden, wenn er uns verwundet am Wegesrand findet, und sorgt für uns (siehe Lukas 10:34).“9

Uns muss klar sein, dass wir uns alle in unserem Bemühen, unseren Teil beizutragen, voll und ganz auf den Herrn Jesus Christus und sein Sühnopfer verlassen müssen. Bemühen wir uns mit der Demut, die dieser Erkenntnis folgt, um Verständnis für leidende Angehörige und Mitmenschen. Gehen wir liebevoll auf sie zu und entwickeln wir gemeinsam tieferen Glauben an den Erretter und größeres Vertrauen in ihn, der eines Tages zurückkehren und „alle Tränen von ihren Augen abwischen [wird]: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Offenbarung 21:4).

Anmerkungen

  1. Kevin Hines, zitiert in Amanda Bower, „A Survivor Talks About His Leap“, Time, 24. Mai 2006, Time.com

  2. M. Russell Ballard, zitiert in Jason Swenson, „Elder Ballard Offers Comfort and Counsel to Those Affected by Suicide“, Church News, 19. Dezember 2014, news.lds.org

  3. Siehe WHO-Bericht, Preventing Suicide: A Global Imperative, 2014, Seite 2

  4. Siehe M. David Rudd et al., „Warning Signs for Suicide: Theory, Research, and Clinical Applications“, Suicide and Life-Threatening Behavior, Band 36, Nr. 3, 2006, Seite 255–262

  5. M. Russell Ballard, im Video „Sitting on the Bench: Thoughts on Suicide Prevention“, lds.org/media-library

  6. Dale G. Renlund, „Mit den Augen Gottes“, Liahona, November 2015, Seite 94

  7. Siehe John R. Jordan, „Is Suicide Bereavement Different? A Reassessment of the Literature“, Suicide and Life-Threatening Behavior, Band 31, Nr. 1, 2001, Seite 91–102

  8. M. Russell Ballard, „Suicide: Some Things We Know, and Some We Do Not“, Ensign, Oktober 1987, Seite 8

  9. Dallin H. Oaks, „Gestärkt durch das Sühnopfer Jesu Christi“, Liahona, November 2015, Seite 64