2017
Brückenschlag zu Hoffnung und Heilung
April 2017


Brückenschlag zu Hoffnung und Heilung

Mit entsprechender Hilfe können Menschen, die sexuellem Missbrauch zum Opfer gefallen sind, zur innigst ersehnten Heilung gelangen.

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creating a bridge

Illustration von Cristina Bernazzani

Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf einem Felsvorsprung und müssten eine tiefe Schlucht überqueren. Auf der anderen Seite, so versichert man Ihnen, erwarte Sie ein glückliches Leben. Sie fragen sich, wie Sie den Abgrund überqueren könnten. Sie blicken sich um und sehen einen Haufen Baumaterial, das sich, richtig zusammengesetzt, für den Bau einer Brücke über die Schlucht verwenden lässt.

Wenn Sie aber nicht wissen, wie Sie solch eine Brücke bauen können, dann ist das gesamte Material zwecklos und weckt in Ihnen nur ein Gefühl hoffnungsloser Verzweiflung. Steht Ihnen jedoch jemand mit Erfahrung im Brückenbau zur Seite, dann lernen Sie dazu und verstehen das Unterfangen besser. Gemeinsam schaffen Sie es, die Brücke zu bauen.

In den vergangenen 18 Jahren bestand meine Arbeit darin, Menschen das Werkzeug an die Hand zu geben und sie dabei anzuleiten, wie sie den Abgrund seelischer und mentaler Qualen überwinden können. Unter all denen, die zur Therapie zu mir kommen, sind keine innerlich so schwer verwundet wie die, die sexuell missbraucht worden sind. Ich habe gesehen, wie schwer es jemandem mit solch einer Vorgeschichte fällt, gut bis ans Ende auszuharren.

Aber ich habe auch miterlebt, wie man durch den Heiland dauerhaft von dem inneren Kampf und der Qual befreit werden kann. Seine Liebe erhebt die Menschen und führt sie aus der Finsternis ins Licht.

Weshalb zieht sexueller Missbrauch so furchtbare Folgen für das Opfer nach sich?

Missbrauchsopfer berichten oft von lebenslangen Depressionen, von Selbstzweifeln und weiterem tiefen, seelischen Schmerz. Präsident Gordon B. Hinckley (1910–2008) legt dar, weshalb sexueller Missbrauch so tiefe Wunden hinterlässt:

„Dann gibt es das schreckliche, bösartige Verhalten des sexuellen Missbrauchs. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar. Es ist eine Beleidigung des Anstands, der in jedem Mann und in jeder Frau vorhanden sein sollte. Es ist ein Verstoß gegen etwas, was heilig und göttlich ist. Es zerstört das Leben der Kinder. Es ist zu tadeln und aufs Strengste zu verurteilen.

Ob Mann oder Frau: Wer ein Kind sexuell missbraucht, bringt Schande über sich. Bei Missbrauch fügt der Täter nicht nur dem Opfer die schwerwiegendste Form der Verletzung zu; er steht auch unter dem Schuldspruch des Herrn.“1

Die Fortpflanzungskraft ist eine heilige Kraft, die der Vater im Himmel seinen Kindern verliehen hat. Elder David A. Bednar vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Die Fortpflanzungskraft ist in geistiger Hinsicht von Bedeutung. … Unser Vater im Himmel und sein geliebter Sohn sind Schöpfer und haben jedem von uns einen Teil ihrer Schöpfungskraft anvertraut.“2 Es steht daher ganz außer Frage, dass der Missbrauch dieser heiligen Kraft „aufs Strengste zu verurteilen“ ist und „dem Opfer die schwerwiegendste Form der Verletzung“ zufügt.

Den erlittenen Schmerz verstehen

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looking out a window

Illustrationen © nuvolanevicata/iStock/Getty Images

Unter sexuellem Missbrauch versteht man jede Handlung an einem anderen, die ohne dessen Einverständnis vorgenommen wird und bei der der andere berührt – oder auch nicht berührt – und zur sexuellen Befriedigung des Täters herangezogen wird. Allzu oft plagen verstörende Gedanken denjenigen, der missbraucht worden ist. Er fühlt sich unwürdig und empfindet Scham in einem schier unerträglichen Ausmaß. Diese quälende Pein wird oft noch durch Äußerungen verstärkt, die einem Mangel an Wissen und Verständnis über das Wesen und die Folgen sexuellen Missbrauchs entspringen. Manchmal wird dem Opfer sogar die Schuld in die Schuhe geschoben oder es wird der Lüge bezichtigt. Oder es wird jemandem zu Unrecht eingeredet, er müsse umkehren – so, als ob er irgendwie gesündigt und dadurch den Missbrauch herbeigeführt hätte.

Viele meiner Klienten, die als Kind oder Jugendlicher missbraucht worden sind, haben von anderen zu hören bekommen, sie sollen doch endlich darüber hinwegkommen, das Geschehene hinter sich lassen und vergeben und vergessen. Solche Kommentare können, vor allem wenn sie von Freunden, Verwandten oder Führern der Kirche kommen, dazu führen, dass das Opfer noch weniger aus sich herausgeht und noch mehr Scham empfindet, anstatt Heilung und Frieden zu finden. Eine schwere körperliche Verletzung oder eine Infektionskrankheit vergeht ja auch nicht von selbst, wenn man sie nur lange genug ignoriert. Bei seelischen Verletzungen ist das nicht anders, im Gegenteil: Die verstörenden Gedanken, die durch den Missbrauch ihren Anfang nehmen, verstärken sich, und zusammen mit den dadurch ausgelösten seelischen Qualen können sich Denkmuster so ändern, dass letztlich ungesunde Verhaltensweisen entstehen. Es ist nicht weiter ungewöhnlich, dass jemand, der missbraucht worden ist, gar nicht erfasst, was ihm da angetan worden ist. Dennoch kann es zu ungesunden Verhaltensweisen und seelischen Qualen kommen.

Hanna (Name geändert) wurde als Kleinkind sexuell missbraucht. Wie andere Missbrauchsopfer wuchs auch sie mit dem Selbstverständnis heran, sie sei ein furchtbarer Mensch und absolut wertlos. Viele Jahre lang war sie äußerst beflissen, immer für andere da zu sein und ihnen Gutes zu tun. Dadurch hoffte sie die Befürchtung auszugleichen, sie wäre nicht gut genug und weder in den Augen des himmlischen Vaters noch sonst eines Menschen liebenswert. Bei jeder Beziehung fürchtete sie, dass der, der sie näher kennenlernt, letztlich ebenfalls zu dem Schluss gelangen werde, sie sei so furchtbar, wie sie es in ihren eigenen Augen war. Sie hatte solche Angst vor Zurückweisung, dass sie es kaum schaffte, etwas Neues in Angriff zu nehmen, und auch die einfachen Dinge des Alltags – wie etwa einen Telefonanruf – nur mit knapper Mühe bewältigte. Künstlerisch war sie hoch begabt, doch sie gab die Kunst auf, da sie befürchtete, mit Kritik nicht umgehen zu können.

Mehr als 50 Jahre lang war jede ihrer Entscheidungen geprägt von ohnmächtiger Hilflosigkeit, Angst, Wut, verstörender Scham, Einsamkeit und dem Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören.

Frieden an die Stelle der Qualen treten lassen

Der Heiland litt „Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art“, und zwar „damit er gemäß dem Fleisch wisse, wie er seinem Volk beistehen könne“ (Alma 7:11,12). Dieses Leiden galt nicht nur unseren Sünden, sondern ist auch zu unserer Heilung da in jenen Fällen, wo wir unter den Sünden eines anderen zu leiden haben.

Ich kann mir vorstellen, dass der Heiland, wäre er heute unter uns, weinen und denen einen Segen geben würde, die sexuell missbraucht worden sind – so wie er geweint und die Nephiten gesegnet hat (siehe 3 Nephi 17). Er ist heute zwar nicht physisch da, doch sein Geist kann bei uns verweilen, und er hat einen Weg bereitet, damit wir geheilt werden, Frieden finden und verzeihen können.

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reaching through a ladder

Für viele, an denen sich jemand vergangen hat, erscheint der bloße Gedanke, an die Stelle ihres Schmerzes könne jemals wieder Frieden treten, nahezu unmöglich. Wunden, die der Missbrauch schlägt, bleiben für Außenstehende oft jahrelang unerkannt. Der Kummer im Inneren wird durch ein Lächeln und durch Gefälligkeit überspielt. Das Opfer tut so, als wäre alles in Ordnung, aber der Schmerz nagt ständig an ihm.

Vergleichen wir psychische Heilung doch einmal mit der einer physischen Verletzung. Wie behandelt man physische Wunden? Nehmen wir mal an, Sie hätten sich als Kind das Bein gebrochen. Sie gehen aber nicht zum Arzt, um die Knochen wieder richten zu lassen, sondern schleppen sich so lange dahin, bis die heftigen Schmerzen bei jedem Schritt schließlich einem nachlassenden Unbehagen weichen. Jahre später wollen Sie, dass die Schmerzen weggehen, also wenden sich schließlich an einen Arzt. Der muss nun die Knochen richten, eventuell Knorpelbildungen entfernen, Ihnen einen Gips verpassen und zur Kräftigung des Beins Physiotherapie verordnen.

Im Falle von Missbrauch geht die Heilung ähnlich vonstatten: Zuerst muss das Opfer erkennen, dass ihm tatsächlich Leid zugefügt worden und der Schmerz real ist und dass man etwas dagegen tun kann. Zur Heilung gehört, dass man sich eingesteht, dass man missbraucht wurde, und den Schmerz, die Angst und die Traurigkeit zulässt, annimmt und nicht unter den Teppich kehrt. Bei der Heilung ist es oftmals sinnvoll, die Hilfe von erfahrenen Fachleuten in Anspruch zu nehmen. (Erfragen Sie bei Ihrem Priestertumsführer, ob es bei Ihnen in der Nähe einen Familiendienst der Kirche gibt.)

Ob man als Opfer nun professionelle Hilfe in Anspruch nehmen kann oder nicht – in jedem Falle empfiehlt es sich, wenn man betet, sich eingehend mit dem Leben und Sühnopfer des Heilands befasst und sich in regelmäßigen Abständen mit einem Priestertumsführer austauscht. Er kann die Bürde leichter machen und Eingebungen empfangen, wie er dem Missbrauchsopfer vermitteln kann, von welch großem Wert es in Gottes Augen ist und wie der Vater im Himmel und der Heiland zu ihm stehen. Schwester Carole M. Stephens, Erste Ratgeberin in der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung, hat vor kurzem erklärt: „Die Heilung [ist] möglicherweise ein langer Weg. Er erfordert, dass Sie sich gebeterfüllt um Führung und geeignete Hilfe bemühen, wozu auch gehört, dass Sie sich mit ordnungsgemäß ordinierten Priestertumsträgern beraten. Wenn Sie lernen, offen zu kommunizieren, ziehen Sie angemessene Grenzen und nehmen womöglich auch professionelle Beratung in Anspruch. Es ist unerlässlich, dass Sie sich dabei Ihre Gesundheit auf geistiger Ebene erhalten!“3

Für Hanna war das Leben schließlich so unerträglich geworden, dass sie sich um professionelle Hilfe bemühte. Ihr war aufgrund ihres Zeugnisses klar, dass es möglich ist, im Alltag Frieden und Erfüllung zu finden, aber sie verspürte dies allzu selten. Sie betete und wandte sich an ihren Bischof. Dieser verwies sie an eine Beratungsstelle, wo sie Mittel und Wege kennenlernte, um sich der Wahrheit nicht länger zu verschließen und von der furchtbaren Last, die sie bislang alleine getragen hatte, zu erzählen. Dadurch konnte sie den Schmerz loslassen und jenen Frieden finden, den der Heiland verheißt (siehe Johannes 14:27). Aus diesem Frieden und dem Trost, den sie empfing, erwuchsen dann letztlich auch der Wunsch und die Fähigkeit, zu vergeben.

Wie wichtig es ist, zu vergeben

Mit dem Gedanken, vergeben zu müssen, kommen Missbrauchsopfer oft schwer klar, und er wird auch häufig missverstanden. Wenn jemand Vergebung so interpretiert, als ob derjenige, der den Missbrauch verübt hat, dafür nicht geradestehen müsse oder als ob das, was dieser getan hat, nicht mehr von Belang sei, dann fühlt sich das Opfer nicht ernst genommen. Von uns wird zwar verlangt, einander zu vergeben (siehe LuB 64:10), doch muss meistens, wenn uns tiefe Wunden zugefügt worden sind, erst die Heilung beginnen, ehe das Opfer dem Täter auch vollständig verzeihen kann.

Wer unter der Pein des Missbrauchs zu leiden hat, schöpft vielleicht aus diesen Worten im Buch Mormon Trost: „Ich, Jakob, möchte zu euch sprechen, die ihr im Herzen rein seid. Blickt mit festem Sinn auf Gott, und betet zu ihm mit überaus großem Glauben, und er wird euch in euren Bedrängnissen trösten, und er wird sich eurer Sache annehmen und Gerechtigkeit auf diejenigen herabkommen lassen, die nach eurer Vernichtung trachten.“ (Jakob 3:1.) Wir können das Verlangen nach Gerechtigkeit und das Recht auf Vergeltung in die Hand des Herrn legen. Dann kann er den Schmerz durch Frieden ersetzen.

Hanna wurde mit der Zeit klar, dass sie das Verlangen nach Gerechtigkeit in die Hand des Herrn legen und dadurch jenen Frieden finden konnte, den sie nie zuvor verspürt hatte. Bis dahin hatte sie sich von Familienzusammenkünften stets fern gehalten, weil sie dort eventuell ihrem früheren Peiniger hätte begegnen können. Doch als sie dann bereit war, sich auf dem Weg zur Heilung auch ihren tiefsten, seelischen Wunden zu stellen, fürchtete sie das Zusammensein mit dem nunmehr alten Mann nicht länger und empfand sogar Mitleid mit ihm.

Von unnötiger Last befreit

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reaching up

Elder Richard G. Scott (1928–2015) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Vollständige Heilung erfolgt durch Ihren Glauben an Jesus Christus und seine Macht und Fähigkeit, durch sein Sühnopfer die Wunden zu heilen, die Sie ungerechterweise und unverdienterweise erlitten haben. …

Er liebt Sie. Er hat sein Leben gegeben, damit Sie frei sein können von unnötiger Last. Er wird Ihnen dabei helfen. Ich weiß, dass er die Macht hat, Sie zu heilen.“4

Der Widersacher möchte die Menschen durch Schmerz und Leid bedrückt sehen, weil er selbst elend ist (siehe 2 Nephi 2:27). Mit Hilfe des Herrn Jesus Christus kann an die Stelle des Schmerzes wahrhaftig Frieden treten. Dies kann nur der Herr bewirken, und wir können dann ein freudevolles Leben führen. „Adam fiel, damit Menschen sein können, und Menschen sind, damit sie Freude haben können.“ (2 Nephi 2:25.) Ein Leben voller Freude macht Prüfungszeiten erträglicher und versetzt uns in die Lage, zu lernen und Fortschritt zu machen und mehr wie der Vater im Himmel zu werden.

Es stimmt mich dankbar und demütig, dass ich mit Missbrauchsopfern arbeiten und das Wunder der Heilung miterleben darf, die wahrhaftig durch den Heiland zustande kommt. Falls man Ihnen wehgetan hat, suchen Sie sich gebeterfüllt Hilfe. Sie müssen die Last nicht alleine tragen. Ich weiß, der Heiland kann heilen. Unzählige Male habe ich dies bereits miterlebt.

Anmerkungen

  1. Gordon B. Hinckley, „Save the Children“, Ensign, November 1994, Seite 54; Hervorhebung hinzugefügt

  2. David A. Bednar, „Wir glauben, dass es recht ist, keusch zu sein“, Liahona, Mai 2013, Seite 42

  3. Carole M. Stephens, „Der größte aller Heiler“, Liahona, November 2016, Seite 11

  4. Richard G. Scott, „Frei von schwerer Last“, Liahona, November 2002, Seite 88