2017
Eigenständiges Lernen des Evangeliums
Juni 2017


Eigenständiges Lernen des Evangeliums

Wenn wir uns eigenständig mit dem Evangelium befassen, wissen wir, wie wir uns geistig nähren und unsere Beziehung zu Gott stärken können.

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Eine Erzieherin beobachtete ihre Gruppe Kindergartenkinder einmal beim Malen. Als sie herumging und sich die Kunstwerke der Kinder anschaute, fragte sie ein kleines Mädchen: „Was malst du denn?“ Das Mädchen erwiderte: „Ich male Gott.“ Überrascht meinte die Erzieherin: „Aber niemand weiß, wie Gott aussieht.“ Die Kleine antwortete ohne zu zögern: „Doch, gleich!“

Wäre es nicht schön, so selbstsicher zu sein? Tatsache ist: Der Vater im Himmel möchte, dass wir hinsichtlich unserer Erkenntnis von ihm Sicherheit erlangen. Der Herr erklärte Jeremia, dass wir uns nicht unserer Weisheit, unserer Macht oder unseres Reichtums rühmen sollen. Er sagte: „Wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er Einsicht hat und mich erkennt.“ (Siehe Jeremia 9:22,23.)

Der Prophet Joseph Smith (1805–1844) hat gesagt: „Gott hat Joseph nichts offenbart, was er nicht auch den Zwölf kundtun wird, und selbst der letzte Heilige kann alles wissen, sobald er imstande ist, es zu ertragen; denn der Tag muss kommen, wo keiner zu seinem Mitbürger zu sagen braucht: Erkenne den Herrn!, denn sie alle, klein und groß, werden ihn erkennen.“1

Wenn wir in unserer Erkenntnis Gottes sicher sein möchten, müssen wir uns darum bemühen. Eltern und Lehrer können uns dabei zwar unterstützen, aber wir müssen uns auch eigenständig mit dem Evangelium befassen. So wie wir lernen, körperliche Nahrung zu uns zu nehmen, um unseren Körper zu stärken, müssen wir auch lernen, uns geistig zu nähren, um unseren Geist zu stärken.

Vor Jahren verhungerten in St. Augustine in Florida viele Möwen. Sie hatten sich seit Generationen darauf verlassen, dass ihnen die Krabbenfischer Brocken aus den Netzen zuwarfen. Irgendwann verließen die Fischer jedoch das Gebiet. Die Möwen hatten nicht gelernt, selbst zu fischen, und brachten es auch ihrem Nachwuchs nicht bei. Und so starben die großen, schönen Vögel, obwohl es um sie herum genügend Fische im Wasser gab.2

Wir können es uns nicht leisten, wie die Möwen zu werden. Auch dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Kinder ihr Leben lang von uns oder anderen abhängig sind, wenn es darum geht, den Herrn zu erkennen. Präsident Marion G. Romney (1897–1988), Erster Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, hat gesagt: „Unsere Bemühungen müssen stets darauf ausgerichtet sein, dass arbeitsfähige Menschen eigenständig werden.“3 Wenn wir uns eigenständig mit dem Evangelium befassen, wissen wir, wie wir uns geistig nähren und unsere Beziehung zu Gott stärken können.

Boyd K. Packer (1924–2015), Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, hat erklärt: „Geistige Eigenständigkeit ist die stützende Kraft der Kirche. Wenn wir Sie der geistigen Eigenständigkeit berauben, wie können Sie dann die Offenbarung erlangen, dass es einen Propheten Gottes gibt? Wie können Sie auf Ihre Gebete Antwort erhalten? Wie können Sie etwas wissen? Wenn wir all Ihre Fragen immer sogleich beantworten und Ihnen vielerlei Möglichkeiten bieten, all Ihre Probleme zu lösen, schwächen wir Sie womöglich, anstatt Sie zu stärken.“4

Wir finden zwar Freude daran, in der Kirche zu lernen und Inspiration zu erhalten, aber wir dürfen unsere geistige Nahrung nicht darauf beschränken. Präsident George Albert Smith (1870–1951) hat deutlich gemacht: „Ich befürchte, dass wir uns als Mitglieder der Kirche zu sehr auf die Hilfsorganisationen und auf den Rat von anderen außerhalb unserer eigenen Familie verlassen. Wir haben schon von vielen Segnungen gehört, die der Herr uns in Gestalt der heiligen Aufzeichnungen geschenkt hat, die bis in unsere Zeit bewahrt wurden und die den Rat eines allweisen Vaters enthalten. Es mutet seltsam an, dass so viele von uns … nicht ausreichend mit dem Inhalt dieser heiligen Aufzeichnungen vertraut sind.“5

Es macht mir Freude, das Evangelium in der Kirche zu lernen, aber ich verspüre mehr Begeisterung für das Evangelium, wenn ich bei meinem persönlichen Studium inspirierte Erkenntnisse erlange. Es gibt nichts Schöneres für mich, als einen kleinen Schatz an Wahrheit in den heiligen Schriften zu finden, der mein Verständnis erleuchtet und mich mit dem Geist des Herrn erfüllt.

Lernen, wie man lernt

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Nach meiner Mission stellte ich fest, dass ich, wenn ich meine geistige Gesinnung behalten wollte, am besten fast jede Woche an einer Fireside oder Andacht teilnahm. Die Sprecher gaben ihre Einblicke in die Lehren des Evangeliums an mich weiter, und ich mochte das Gefühl, das diese Einblicke mir verschafften. Ich hatte das Evangelium zwei Jahre lang studiert und verkündet, aber ich schien nicht die notwendigen Fertigkeiten zu besitzen, mich regelmäßig selbst zu nähren. Ich las zwar in den heiligen Schriften, forschte aber nicht wirklich eifrig darin.

Das Studium des Evangeliums lässt sich damit vergleichen, wie man malen lernt. Nicht jeder hat eine natürliche Begabung dafür. Wir würden nicht auf die Idee kommen, jemandem eine Farbpalette in die Hand zu drücken und zu erwarten, dass er sofort ein Künstler wird. So ist es auch mit dem eigenständigen Lernen des Evangeliums. Wir können nicht erwarten, regelmäßig wichtige Erkenntnisse zu erlangen, wenn wir uns keine grundlegenden Fertigkeiten im Evangeliumsstudium angeeignet haben. Präsident Packer hat erklärt, dass die heiligen Schriften „die Fülle des immerwährenden Evangeliums – unbegrenzte Erkenntnisse – enthalten. Wenn wir aber nicht lernen, sie zu nutzen, ist das Forschen eine entmutigende Angelegenheit.“6

So war es für mich – entmutigend –, als ich zum ersten Mal versuchte, durch das Schriftstudium einen Sinn zu erkennen und Orientierung zu erhalten. Also fing ich an, zu ergründen, wie die Sprecher zu ihrer Erkenntnis gelangt waren. Es dauerte eine Weile, aber schließlich erkannte ich, wie sie bestimmte Aussagen aus den Schriften herauskristallisierten, bedeutsame Lehren über den Erretter in den Versen entdeckten, Leitprinzipien aus Schriftstellen herausarbeiteten, Symbole deuteten und Lehren von Propheten und Aposteln mit bestimmten Versen verknüpften.

Als ich mich weiterhin mit den heiligen Schriften und den Lehren der Propheten und Apostel befasste, fing ich an, mir Fragen zu stellen:

  • Welcher Grundsatz wird in diesen Versen vermittelt und was erfahre ich über diesen Grundsatz?

  • Wo und wann habe ich erlebt, dass dieser Evangeliumsgrundsatz wirksam angewandt wurde?

  • Was lerne ich über den Vater im Himmel und seinen Plan für mein Glück?

  • Was lerne ich über Jesus Christus und sein Sühnopfer?

  • Was soll ich nach dem Willen des Herrn hieraus lernen?

  • Welche inspirierten Gedanken und Gefühle habe ich beim Lesen?

  • Steht hier etwas, was mir bei einem derzeitigen Problem hilft?

  • Was lerne ich, das mir im täglichen Leben hilft?

Einflussreiche, überzeugende Lehrer

Als ich die heiligen Schriften anders studierte, unterrichtete ich auch anders. Mir ging es fortan mehr darum, dass meine Schüler richtungsweisende Evangeliumswahrheiten entdeckten, als darum, ihnen mitzuteilen, was mir die heiligen Schriften bedeuteten.7 Wenn ich sah, welche Freude andere verspürten, wenn sie etwas Neues entdeckten, freute es auch mich. Es war und ist immer wieder eines der schönsten Erlebnisse beim Unterrichten.

Außerdem habe ich festgestellt, dass meine Schüler besser darin wurden, sich eigenständig mit dem Evangelium zu befassen, wenn ich ihnen half, die oben genannten Fertigkeiten und Fragen konsequent heranzuziehen. Sie mussten nicht die gleiche lange Lernkurve durchschreiten wie ich.

Das Lernen geht dem Unterrichten voraus, und wer gut lernt, ist als Lehrer inspirierender. Der Herr hat gesagt: „Trachte nicht danach, mein Wort zu verkünden, sondern trachte zuerst danach, mein Wort zu erlangen, und dann wird deine Zunge gelöst werden; dann, wenn du wünschst, wirst du meinen Geist und mein Wort haben, ja, die Macht Gottes, um Menschen zu überzeugen.“ (LuB 11:21.) Wer würde diese herrliche Segnung nicht erhalten wollen?

Elder David A. Bednar vom Kollegium der Zwölf Apostel hat betont, dass es immer wichtiger für uns wird, uns eigenständig mit dem Evangelium zu befassen:

„Vermutlich wissen und reden wir viel mehr darüber, dass der Lehrende durch den Geist lehren muss, als darüber, dass der Lernende durch Glauben lernen muss. Gewiss sind beide Grundsätze, beide Vorgänge, nämlich Lehren und Lernen, in geistiger Hinsicht sehr wichtig. Wenn wir unseren Blick jedoch auf die Zukunft richten und davon ausgehen, dass die Welt noch wirrer und unruhiger werden wird, ist es wohl unerlässlich, dass wir alle noch besser lernen, durch Glauben nach Wissen zu trachten. …

Letztlich liegt die Verantwortung, durch Glauben zu lernen und geistige Wahrheit anzuwenden, bei jedem Einzelnen. Diese Aufgabe gewinnt in der Welt, in der wir heute leben und in Zukunft leben werden, immer mehr an Bedeutung. Was wir lernen, wie und wann wir es lernen, wird von einem Lehrer, einer Präsentationsmethode und einem bestimmten Thema oder Unterrichtsschema unterstützt, ist aber nicht davon abhängig.“8

Segnungen des eigenständigen Lernens

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Gewiss profitieren wir von den inspirierten Unterweisungen unserer Eltern und Lehrer in der Kirche, aber vielleicht ist es wichtiger, dass wir lernen, selbst Inspiration zu empfangen. Wenn wir uns eigenständig mit dem Evangelium befassen, werden wir für persönliche Offenbarung empfänglicher. Wer eigenständig das Evangelium lernt, braucht keinen besonderen Anreiz für das regelmäßige Studium – er weiß ja, dass es nicht langweilig, sondern erbaulich sein wird, wenn er sich das nächste Mal in die Schriften vertieft. Wer sich eigenständig mit dem Evangelium beschäftigt, ist auch besser gegen die spitzfindigen Angriffe gewappnet, die in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts so verbreitet sind, und kann diese erfolgreich abwehren.

Mindestens eine der Verheißungen des Herrn scheint hauptsächlich für diejenigen zu gelten, die sich eigenständig mit dem Evangelium befassen: „Wer mein Wort wie einen Schatz hütet, wird sich nicht täuschen lassen.“ (Joseph Smith – Matthäus 1:37.)

Präsident Thomas S. Monson hat verheißen: „Wenn Sie sich eifrig mit den heiligen Schriften befassen, nimmt Ihre Kraft, Versuchung zu meiden und in allem, was Sie tun, vom Heiligen Geist geleitet zu werden, zu.“9

Wer eigenständig das Evangelium lernt, erlebt die Erfüllung dieser Verheißung Jesu:

„Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen.“ (Johannes 7:37,38.)

Ich habe noch viel zu lernen, aber mich eigenständig mit dem Evangelium zu beschäftigen, ist mit das Beste, was ich je gemacht habe. Es ist für jeden Bereich meines Lebens ein Segen.

Anmerkungen

  1. Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph Smith, Seite 297

  2. Siehe „Fable of the Gullible Gull“, Reader’s Digest, Oktober 1950, Seite 32

  3. Marion G. Romney, „Eigenständigkeit – ein celestialer Grundsatz“, Liahona, März 2009, Seite 15

  4. Boyd K. Packer, „Self-Reliance“, Ensign, August 1975, Seite 87

  5. George Albert Smith, Frühjahrs-Generalkonferenz 1929; siehe auch The Teachings of George Albert Smith, Hg. Robert und Susan McIntosh, 1996, Seite 53

  6. Boyd K. Packer, „Agency and Control“, Ensign, Mai 1983, Seite 67

  7. Präsident Heber J. Grant (1856–1945) hat gesagt: „Das Ziel der Kirche besteht darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.“ (Herbst-Generalkonferenz 1936.)

  8. David A. Bednar, „Trachtet nach Wissen durch Glauben“, Liahona, September 2007, Seite 17, 21

  9. Thomas S. Monson, „Seien Sie Ihr bestes Ich“, Liahona, Mai 2009, Seite 68