1990–1999
“Dazu bin ich in die Welt gekommen”
Oktober 1999


Dazu bin ich in die Welt gekommen

Das Symbol dafür, welchen Platz Jesus in unserem Herzen einnimmt, muss ein Leben sein, das gänzlich davon erfüllt ist, ihm zu dienen, zu lieben und uns um andere zu kümmern.

Als Jesus, nach einer dunklen, hasserfüllten Nacht voller Schmähungen und Misshandlungen, vor Pilatus gebracht wurde, erkannte der hochmütige römische Statthalter rasch, dass dies kein gewöhnlicher Sterblicher war. Jesus zeigte überhaupt nichts von der kriecherischen Unterwürfigkeit oder der gespielten Tapferkeit, die üblicherweise jene kennzeichnete, die vor der Macht des römischen Kaiserreiches um ihr Leben flehten. Still stand er vor dem stolzen Römer, aufrecht, majestätisch, sein Benehmen war mild, doch königlich. ”Also bist du doch ein König?” fragte Pilatus (Johannes 18:37).

Jesus, der König der Könige, dessen Vater auf seine Bitte hin ”mehr als zwölf Legionen Engel” geschickt hätte (Matthäus 26:53), dessen Herrlichkeit und Majestät alles übertrafen, was Pilatus--oder irgendein sterblicher Mensch--sich auch nur vorstellen kann, antwortete schlicht: ”Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.” (Johannes 18:37.) Pilatus, ein schwacher und unschlüssiger Mann, bar aller Redlichkeit und nicht gerade ein Mann mit Prinzipien, erwiderte zynisch: ”Was ist Wahrheit?” (Johannes 18:38.) Dann gab Pilatus, obwohl er keinen Grund fand, Jesus zu verurteilen, und sicher wusste, dass er kein politischer Unruhestifter war und für die römische Autorität keine Bedrohung darstellte, der blutrünstigen Menge nach und lieferte Christus denen aus, die ihn kreuzigen wollten.

”Dazu bin ich in die Welt gekommen”. Was war der Grund? Warum ließ sich Jesus, Gott, der Herr, der Allmächtige, der zur Rechten des Vaters sitzt, Schöpfer von Welten ohne Zahl, Gesetzgeber und Richter, dazu herab, auf die Erde zu kommen, um in einem Stall geboren zu werden, den größten Teil seines irdischen Lebens gänzlich unbekannt zu verbringen, mühsam die staubigen Straßen Judäas zu durchwandern und eine Botschaft zu verkünden, die von vielen heftig bekämpft wurde, und um schließlich, von einem seiner engsten Vertrauten verraten, auf Golgotas düsterem Hügel zwischen zwei Verbrechern zu sterben? Nephi, der Jesus rühmte, ”herrlich ist für mich mein Jesus, denn er hat meine Seele von der Hölle erlöst” (2 Nephi 33:6), verstand seinen Beweggrund: ”Er tut nichts, was nicht der Welt zum Nutzen ist; denn er liebt die Welt, so dass er sogar sein eigenes Leben niederlegt, damit er alle Menschen zu sich ziehen kann” (2 Nephi 26:24). Die Liebe zu allen Kindern Gottes brachte Jesus, der als Einziger frei von Sünde und vollkommen war, dazu, sich selbst als Opfer für die Sünden anderer anzubieten. Wie es in dem Lied heißt: ”Auf Golgota gab Jesus sein Leben hin, damit wir erlöst werden können durch ihn.” (Hymns, Nr. 176.) Das war also der wahre Grund dafür, dass Jesus auf die Erde kam, um für die Menschen zu leiden, zu bluten und zu sterben. Er kam als Lamm ”ohne Fehl und Makel” (1 Petrus 1:19), um für unsere Sünden zu sühnen, damit er, nachdem er auf das Kreuz emporgehoben worden war, alle Menschen zu ihm zöge (siehe 3 Nephi 27:14). Wie Paulus es so trefflich gesagt hat: ”Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden”(1 Korinther 15:22).

Das Symbol seines Siegs über den Tod ist das leere Grab. Er, den ”Gott … am dritten Tag auferweckt” hat (Apostelgeschichte 10:40), löste ”die Bande dieses zeitlichen Todes …, so dass alle … auferweckt werden” (Alma 11:42; Hervorhebung hinzugefügt) und gewann ”den Sieg über das Grab” (Mormon 7:5). In ihm ist ”der Stachel des Todes … verschlungen” (Mosia 16:8).

Aber Jesus kam nicht nur, um den Kindern des himmlischen Vaters Unsterblichkeit zu bringen, sondern auch ewiges Leben. Auch wenn das Sühnopfer Christi jedem Menschen die Auferstehung ermöglicht, unabhängig von seinem Verdienst, ist die Gabe des ewigen Lebens--das Leben mit dem Vater und dem Sohn in ihrer vollkommenen Gegenwart--nur den Treuen vorbehalten, denen, die ihre Liebe zu Christus zeigen, indem sie willens sind, seine Gebote zu befolgen und heilige Bündnisse einzugehen und zu halten. ”Wer meine Gebote hat und sie hält”, erinnert uns Jesus, ”der ist es, der mich liebt” (Johannes 14:21). Wie die Propheten in allen Zeitaltern verkündet haben, können wir nur, wenn wir heilige Bündnisse--diese heiligen celestialen Vereinbarungen zwischen Gott und dem Menschen--eingehen und halten, ”an der göttlichen Natur Anteil” erhalten und ”der verderblichen Begierde, die in der Welt herrscht” entfliehen (2 Petrus 1:4).

Jesus kam in erster Linie als der sühnende Erlöser, der starb, damit alle ”Frieden in dieser Welt und ewiges Leben in der zukünftigen Welt” finden können (LuB 59:23). Aber er kam noch aus einem weiteren Grund--um als Beispiel für das gesamte göttliche Potential des Menschen zu dienen, als der Maßstab, an dem jeder sein Leben messen muss. Er, der der samaritischen Frau am Jakobsbrunnen seine Göttlichkeit kundtat (siehe Johannes 4), beruft uns, so zu werden ”wie ich bin” (3 Nephi 27:27), vollkommen zu werden ”wie ich oder wie euer Vater im Himmel vollkommen ist” (3 Nephi 12:48). Er ist die Verkörperung der Liebe; jede seiner Taten geschieht aus Liebe. Aufgrund seiner tiefen Liebe ruft er uns auf, für die Kranken, die Armen und die Bedrängten zu sorgen und für alle Kinder Gottes zu beten und ihnen Mitgefühl entgegenzubringen, denn ”Gott [sieht] nicht auf die Person” (siehe Apostelgeschichte 10:34). Bei ihm gibt es keine Barrieren aufgrund von Rasse, Geschlecht oder Sprache: Wie Nephi erklärt hat, ”weist [er] niemanden ab, der zu ihm kommt--schwarz oder weiß, geknechtet oder frei, männlich oder weiblich; und er gedenkt der Heiden; und alle sind vor Gott gleich” (2 Nephi 26:33).

Zu denen unter uns, die sich fragen, wer ihr Nächster ist, sprach er über den barmherzigen Samariter, über den Hirten, der die neunundneunzig Schafe zurücklässt, um das eine zu suchen, das sich verirrt hat, und über den Mann, der ”ein großes Festmahl” veranstaltete, zu dem ”die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen” eingeladen wurden (siehe Lukas 14:16­24).

Jesus, der bedeutendste Lehrer, lehrte wiederholt ewige Wahrheiten, die er den alltäglichen Ereignissen des Lebens entnahm. Eine solche Lektion handelte von der Notwendigkeit, in dem, was wir geben, großzügig zu sein--aus Opferbereitschaft und mit der aufrichtigen Absicht zu geben, damit diejenigen gesegnet werden, denen es schlechter geht als uns. Lukas berichtet, dass Jesus im Tempel saß und diejenigen beobachtete, die dort ihre Spenden in den Opferkasten warfen. Manche legten ihre Gaben andächtig und mit aufrichtiger Absicht hinein, aber andere gaben zwar große Summen an Silber und Gold, taten es aber prahlerisch und um von den Menschen gesehen zu werden.

In der langen Reihe derer, die ihre Gabe hineinlegten, war eine arme Witwe, die alles, was sie hatte, in den Opferkasten warf, nämlich zwei kleine Bronzemünzen. Zusammen waren sie, in amerikanischer Währung, weniger wert als ein halber Cent. Jesus bemerkte den Unterschied zwischen dem, was sie gab, und den viel größeren Spenden anderer und erklärte: ”Wahrhaftig, … diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen als alle anderen”. Die Reichen hatten zwar etwas von ihrem überfluss geopfert, ”diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat ihren ganzen Lebensunterhalt hergegeben” (Lukas 21:1­4). Es kommt nicht auf den Betrag an, den wir geben. In der Arithmetik des Himmels wird der Wert nicht an der Quantität, sondern an der Qualität gemessen. Die Absicht und der gute Wille, das ist es, was Gott willkommen ist (siehe 2 Korinther 8:12).

Jesus liebte besonders die Kinder. Sowohl in der Alten als auch inder Neuen Welt ließ er sie zusich kommen (siehe Lukas 18:16;3 Nephi 17:21­24). Der nephitische Bericht bezeugt die gütige Liebe Jesu für die Kleinen: ”Er nahm ihre kleinen Kinder, eines nach dem anderen, und segnete sie und betete für sie zum Vater.

Und als er dies getan hatte, weinte er.” (3 Nephi 17:21,22.) Jesus wusste, dass kleine Kinder rein und frei von Sünde sind. ”Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet”, sagte er, ”könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen” (Matthäus 18:3). König Benjamin, der große nephitische Prophet, erklärte, was es bedeutet, wie ein kleines Kind zu werden: ”Fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, ihm aufzuerlegen.” (Mosia 3:19.)

In dieser Welt, in der wir jeden Tag mit anschaulichen Beweisen für die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen konfrontiert werden, sprach Jesus von der Notwendigkeit, den Hungrigen zu essen zu geben, den Durstigen zu trinken zu geben, dem Fremden Obdach zu geben, die Nackten zu kleiden und die Kranken und Gefangenen zu besuchen.

Als eine der mühsamsten Prüfungen für einen Christen rief er uns alle auf: ”Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln.” (Lukas 6:27,28.) Er erinnert uns: Wenn wir für andere, ja, für diejenigen, die von manchen als ”die geringsten” betrachtet werden, Werke der Nächstenliebe vollbringen, dann haben wir es ihm getan (siehe Matthäus 25:35­45). Er sprach nicht nur von unserer Pflicht, einander in zeitlicher Hinsicht zu helfen, sondern auch von den machtvollen, ewigen geistigen Aspekten dieser Hilfe. Tatsächlich sind alle seine Gebote im Grunde geistiger und nicht nur zeitlicher Natur. Daher raten uns die heiligen Schriften: ”Damit [wir] von Tag zu Tag Vergebung für [unsere] Sünden empfangen [mögen], so dass [wir] ohne Schuld vor Gott wandeln” können, sollen wir unsere ”Habe mit den Armen [teilen], ein jeder gemäß dem, was er hat” (Mosia 4:26).

Im Grunde zeigen wir also Christus unsere Ergebenheit und erweisen uns als seine Jünger am besten durch die Art und Weise, wie wir leben und ihm dienen. Das Symbol dafür, welchen Platz Jesus in unserem Herzen einnimmt, muss ein Leben sein, das gänzlich davon erfüllt ist, ihm zu dienen, zu lieben und uns um andere zu kümmern, uns uneingeschränkt Christus und seiner Sache zu verpflichten, eine geistige Neugeburt zu erleben, die ”eine mächtige Wandlung” in unserem Herzen bewirkt und uns bereitmacht,”sein Abbild in [unseren] Gesichtsausdruck” aufzunehmen (Alma 5:13,14). Seinen Namen auf uns zu nehmen bedeutet, dass wir willens sind zu tun, was auch immer ervon uns verlangen mag. Jemand hat einmal gesagt, der Preis für ein christliches Leben sei heute immer noch derselbe, nämlich schlicht alles zu geben, was wir haben, nichts zurückzuhalten und alle unsere Sünden abzulegen, um ihn zu erkennen (siehe Alma 22:18). Wenn wir wegen unserer Trägheit, Gleichgültigkeit oder Schlechtigkeit diesen Anforderungen nicht genügen, wenn wir böse oder gemein sind, egoistisch, fleischlich gesinnt oder oberflächlich, dann kreuzigen wir ihn, zumindest in gewissem Sinne, abermals. Und wenn wir uns beständig bemühen, unser Bestes zu geben, wenn wir uns um andere kümmern und ihnen dienen, wenn wir Egoismus mit Liebe überwinden, wenn wir das Wohl anderer über unser eigenes stellen, wennwir einer des anderen Last tragenund ”mit den Trauernden … trauern”, wenn wir ”diejenigen … trösten, die Trost brauchen, und … allzeit und in allem, wo auch immer [wir uns] befinden [mögen], … als Zeugen Gottes [auftreten] (Mosia 18:8,9), dann ehren wir ihn, empfangen von seiner Macht und werden mehr und mehr wie er, werden ”heller und heller”, wenn wir ausharren, ”bis zum vollkommenen Tag” (LuB 50:24).

Keine Stimme kann die Fülledes unbeschreiblichen Beispiels verkünden, das Christus uns gegeben hat. Wie der Lieblingsjünger Johannes sagte: ”Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste.” (Johannes 21:25.)

Ich höre da auf, wo ich begonnen habe, nämlich mit den erhabenen Worten, die Christus an Pilatus gerichtet hat: ”Dazu bin ich in die Welt gekommen.” Wie dankbar wir alle sein müssen, dass er vor zwei Jahrtausenden gekommen ist, um für unsere Sünden zu sühnen und uns für unser Leben ein Beispiel zu geben. Mutig verkünden wir aller Welt diese größte aller Wahrheiten. Ich bezeuge Ihnen, dass er bald als König der Könige und Herr der Herren mit Heilung in seinen Flügeln zurückkehren wird, um sein Volk zu befreien (Hymns, Nr. 59).Im Namen Jesu Christi, amen.