Geschichte der Kirche
32 Wir müssen dem Unwetter tapfer die Stirn bieten


„Wir müssen dem Unwetter tapfer die Stirn bieten“, Kapitel 32 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 32: „Wir müssen dem Unwetter tapfer die Stirn bieten“

Kapitel 32

Wir müssen dem Unwetter tapfer die Stirn bieten

Bild
Frau und Mann umarmen einander nach der Taufe der Frau

Anfang 1880 befanden sich George Q. Cannon und seine Frau Elizabeth in Washington. Die neue Sitzungsperiode des Kongresses begann, und George war nach wie vor als Abgeordneter des Territoriums Utah tätig. In diesem Jahr hatten er und Elizabeth ihre zwei jungen Töchter mitgenommen. Sie hofften, den Landespolitikern und den Zeitungsredakteuren ein positives Bild von den Familien der Heiligen der Letzten Tage vermitteln zu können.1

Viele wussten natürlich, dass George und Elizabeth in Mehrehe lebten. Tatsächlich hatte George vier Frauen und zwanzig lebende Kinder. Dennoch bemerkte ein Reporter, dass die Familie nicht in das Spottbild passte, das man sich von den Heiligen gern machte. „Bewertet man die Vorzüge einer Einrichtung danach, was sie an edlen Tugenden und vernünftigen Ergebnissen hervorbringt, so sollte man keine Vorurteile gegen die Polygamie hegen“, schrieb ein Reporter.2

Allerdings hatten sich die Vorurteile gegen die Heiligen seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Fall George Reynolds vor einem Jahr nur noch verschlimmert. In seiner jährlichen Rede an die Nation vom Dezember 1879 hatte sich Präsident Rutherford Hayes scharf gegen die Polygamie ausgesprochen und die Strafverfolgungsbehörden aufgefordert, das Morrill-Gesetz gegen die Polygamie durchzusetzen.3

Die Rede des Präsidenten stachelte einige Kongressabgeordnete dazu auf, sich noch energischer gegen die Mehrehe zu stellen. Ein Abgeordneter legte einen Gesetzesentwurf vor, demzufolge ein Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedet werden sollte, der die Polygamie verbot. Ein weiterer erklärte seine Absicht, George Q. Cannon aus dem Kongress auszuschließen. In allen Landesteilen bedrängten die Bürger mittlerweile ihre Abgeordneten, die Ausrottung der Mehrehe noch stärker voranzutreiben.

„Dichte, unheilvolle Wolken scheinen sich um uns zusammenzuziehen“, schrieb George am 13. Januar an John Taylor. „Wenn der Herr nicht für einen Blitzableiter sorgt und die elektrische Energie in eine andere Richtung lenkt – was er aber sicher tun wird –, sehe ich keinen anderen Ausweg, als dass wir dem Unwetter tapfer die Stirn bieten.“4


Zu dieser Zeit hatte Desideria Quintanar de Yáñez eines Nachts einen Traum, in dem sie sah, wie in Mexiko-Stadt ein Buch mit dem Titel Voz de amonestación gedruckt wurde. Als sie aufwachte, wusste sie, dass sie dieses Buch auftreiben musste.5

Desideria war eine Nachfahrin von Cuauhtémoc, einem Herrscher der Azteken, und in Nopala, wo sie mit ihren Sohn José lebte, sehr angesehen. Die meisten Mexikaner waren katholisch, Desideria und José hingegen gehörten einer protestantischen Gemeinde an.6

Desideria wollte in Mexiko-Stadt nach dem mysteriösen Buch suchen, lebte aber einhundertzwanzig Kilometer entfernt. Einen Teil der Strecke konnte sie zwar mit dem Zug fahren, doch den Großteil der Reise würde sie über ungepflasterte Straßen zu Fuß bewältigen müssen. Desideria war schon Mitte sechzig und nicht in der körperlichen Verfassung, eine so mühselige Reise anzutreten.7

Dennoch war sie entschlossen, das Buch zu finden, und erzählte ihrem Sohn von dem Traum. José glaubte ihr und brach bald nach Mexiko-Stadt auf, um sich auf die Suche nach dem unbekannten Buch zu machen.8

Bei seiner Rückkehr berichtete er Desideria, was er Erstaunliches erlebt hatte. In Mexiko-Stadt wimmelte es von hunderttausenden Menschen, und die Suche nach dem Buch schien hoffnungslos. Als er jedoch eines Tages durch die belebten Straßen der Stadt lief, traf er auf Plotino Rhodakanaty, der ihm von einem Buch namens Voz de amonestación erzählte.

Plotino schickte José in ein Hotel, wo sich dieser mit dem Missionar James Stewart traf. José erfuhr, dass Voz de amonestación die spanische Übersetzung der Missionsschrift Eine warnende Stimme war, mit der die Missionare der Heiligen der Letzten Tage seit Jahrzehnten ihren Glauben vorstellten. Sie bezeugte die Wiederherstellung des Evangeliums Christi und das Hervorkommen des Buches Mormon, eines heiligen Berichts über die Einwohner des alten Amerikas.9

Voz de amonestación befand sich noch im Druck, aber James gab José ein paar Missionsschriften mit. José brachte diese seiner Mutter, und sie las ausgiebig darin. Anschließend bat Desideria die Missionare, nach Nopala zu kommen und sie zu taufen.

Meliton Trejo reiste im April zu ihr und taufte auf deren Wunsch hin Desideria, José sowie Josés Tochter Carmen. Ein paar Tage später kehrte José nach Mexiko-Stadt zurück und empfing das Melchisedekische Priestertum. Beladen mit Missionsschriften und Büchern kehrte er wieder heim, unter anderem hatte er auch zehn frisch gedruckte Exemplare der Voz de amonestación mitgebracht.10


Zu Ida Hunts ersten Erinnerungen gehörte, wie ihr Großvater Addison Pratt sie auf seinen Knien hüpfen ließ. Damals wohnte Idas Familie auf einer Farm bei San Bernardino in Kalifornien. Ihre Eltern John und Lois Pratt Hunt hatten sich dort niedergelassen, als Ida etwa ein Jahr alt gewesen war. Ein paar Jahre später war ihre Familie jedoch auf Drängen von Idas Großmutter Louisa Pratt nach Beaver gezogen, einem kleinen Städtchen im Süden Utahs, wo Louisa schon seit 1858 lebte.

Addison starb 1872 in Kalifornien. Er und Louisa hatten ihre Streitigkeiten niemals beilegen können und die letzten fünfzehn Jahre ihrer Ehe zum Großteil getrennt gelebt. Ihren Töchtern und Enkeln waren sie aber sehr zugetan. Ida hatte beide Großeltern von Herzen lieb.11

Ida wohnte nur eine Straße von Louisas Haus entfernt und verbrachte unzählige Nachmittage an der Seite ihrer Großmutter, die ihr so einiges beibrachte. 1875, Ida war siebzehn, zog sie mit ihrer Familie aus Beaver weg. Drei Jahre später beriefen die Führer der Kirche die Familie erneut an einen anderen Ort, diesmal Snowflake im Territorium Arizona. Ida beschloss jedoch, nicht mit der Familie mitzugehen, sondern nach Beaver zurückzukehren und eine Weile bei ihrer Großmutter zu bleiben.

In Beaver konnten ihre Großmutter sowie ihre beiden Tanten Ellen und Ann, die in der Nähe wohnten, kaum auf Ida verzichten. Sie half bei der Hausarbeit und kümmerte sich um kranke Angehörige. Ida verbrachte aber nicht ihre ganze Zeit daheim. Oft ging sie abends zum Essen aus, nahm an einer Gesellschaft teil oder besuchte ein Konzert. Bald schon war sie häufiger in Begleitung eines jungen Mannes namens Johnny.

Als ihre Familie und Freunde in Snowflake Ida im Frühjahr 1880 inständig baten, sie möge doch heimkehren, traf sie die schwierige Entscheidung, Beaver zu verlassen. Louisa brachte kaum ein Wort heraus, als sie sich von ihrer Enkelin verabschiedete und ihr eine gute Reise wünschte. Nur der Gedanke, Idas Beziehung zu Johnny könne sie nach Beaver zurückbringen, schenkte ihr Trost.12

Ida reiste mit der Familie von Jesse Smith, dem Präsidenten des Pfahles Arizona Ost, nach Snowflake. Zwei seiner Frauen, Emma und Augusta, gingen auf eine heilige und selbstlose Weise miteinander um, die Ida bewundernswert fand. Idas Eltern führten keine Mehrehe, daher kannte sie sich kaum damit aus, wie ein solches Familienleben eigentlich aussah. Je mehr Zeit sie mit den Smiths verbrachte, desto mehr zog sie die Mehrehe auch für sich selbst in Erwägung.13

Allerdings würde sie sich damit von anderen Mitgliedern ihres Alters abheben. Obwohl die meisten Heiligen der Mehrehe zustimmten und sie verteidigten, nahm die Anzahl der Familien, die in Mehrehe lebten, ab. Der Brauch beschränkte sich weitgehend auf die Heiligen im Westen der Vereinigten Staaten. Unter den Mitgliedern der Kirche in Europa, in Hawaii und an anderen Orten auf der Welt wurden keine Mehrehen geschlossen.

Ende der 50er Jahre, als der Brauch am weitesten verbreitet war, konnte etwa die Hälfte aller Einwohner Utahs damit rechnen, irgendwann im Leben zu einer Familie zu gehören, die in Mehrehe lebte. Diese Anzahl war seither auf etwa zwanzig oder dreißig Prozent gesunken und wurde immer kleiner.14 Da man von niemandem verlangte, die Mehrehe einzugehen, blieb jeder Heilige, der sich dagegen entschied, dennoch vor Gott und der Kirche ein Mitglied in gutem Stand.15

Ein paar Monate nach Idas Ankunft in Snowflake erfuhr sie, dass ihre Großmutter gestorben war. Nun war Idas Kummer groß und es reute sie, dass sie Louisa verlassen hatte. Wäre sie in Beaver geblieben, redete sie sich ein, hätte sie ihrer Großmutter in den letzten Monaten ihres Lebens beistehen können.

Etwa um diese Zeit erhielt Ida auch einen Brief von Johnny. Er wollte nach Arizona reisen und sie heiraten. Inzwischen aber wollte sie einen Mann heiraten, der bereit war, in Mehrehe zu leben. Johnny stand nicht fest im Evangelium, und Ida wusste, dass er nicht der Richtige für sie war.16


1880 feierte die Kirche den fünfzigsten Jahrestag ihres Bestehens. Präsident John Taylor wies darauf hin, dass im alten Israel jedes fünfzigste Jahr als „Jubeljahr“ galt, in dem den Menschen ihre Schulden erlassen wurden und sie aus der Knechtschaft befreit wurden. Auch er erließ den tausenden armen Heiligen, die ihre Reise nach Zion mit Mitteln aus dem Ständigen Auswanderungsfonds bestritten hatten, ihre Schulden. Diejenigen Heiligen, die eine Bank oder ein Unternehmen besaßen, bat er, einige Schulden zu erlassen, und er forderte die Mitglieder auf, den Bedürftigen Vieh zu spenden.

Außerdem bat er Emmeline Wells, die Vorsitzende des Getreidekomitees, aus den Getreidespeichern der Frauenhilfsvereinigung den Bischöfen so viel Weizen zu überlassen, wie diese für die Versorgung der Armen in ihren Gemeinden brauchten.17

Im Juni besuchte Präsident Taylor eine Konferenz der Frauenhilfsvereinigung des Pfahles Salt Lake City. Zu den Teilnehmerinnen zählten auch Vertreterinnen der Primarvereinigung und der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen, die man als Hilfsorganisationen der Frauenhilfsvereinigung betrachtete. Auf der Konferenz schlug Eliza Snow vor, dass Louie Felt, Leiterin der Primarvereinigung einer Gemeinde, nun der Primarvereinigung der gesamten Kirche vorstehen solle. Die Anwesenden bestätigten Louie im Amt sowie zwei weitere Frauen als ihre Ratgeberinnen.

Im weiteren Verlauf der Versammlung bat Präsident Taylor eine Sekretärin, einen Bericht von der Gründung der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo im Jahr 1842 vorzulesen. Präsident Taylor war damals bei der ersten Versammlung dabei gewesen, als Emma Smith zur Präsidentin der Vereinigung ernannt wurde. Auch hatte er Emmas Ratgeberinnen, Sarah Cleveland und Elizabeth Ann Whitney, die Vollmacht übertragen, kraft ihrer Berufung zu handeln.

Nachdem die Sekretärin den Bericht vorgelesen hatte, sprach Präsident Taylor darüber, welche Macht und welche Aufgaben die Frauenhilfsvereinigung den Frauen übertrug. Mary Isabella Horne schlug anschließend vor, er möge Eliza Snow zur Präsidentin aller Frauenhilfsvereinigungen in der Kirche ernennen. Eliza war in der ursprünglichen Frauenhilfsvereinigung als Sekretärin tätig gewesen und stand bereits seit mehr als zehn Jahren allen Frauenhilfsvereinigungen in den Gemeinden beratend zur Seite. Seit Emma Smith die Organisation vor über dreißig Jahren angeführt hatte, hatte es allerdings keine Präsidentin der gesamten Frauenhilfsvereinigung mehr gegeben.

Präsident Taylor schlug vor, dass Eliza die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung werden solle, und die Anwesenden stimmten zu. Anschließend ernannte Eliza Zina Young und Elizabeth Ann Whitney zu ihren Ratgeberinnen, Sarah Kimball zu ihrer Sekretärin und Mary Isabella Horne zur Schatzmeisterin. Wie Eliza hatten auch sie der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo angehört und waren in der Organisation tätig, seit sie in Utah erneut eingeführt worden war.

Später am Nachmittag schlug Eliza bei der letzten Versammlung der Konferenz vor, Elmina Taylor, eine von Mary Isabella Hornes Ratgeberinnen in der Pfahl-Leitung der Frauenhilfsvereinigung, zur Präsidentin der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen zu ernennen. Elmina wurde samt Ratgeberinnen, Sekretärin und Schatzmeisterin bestätigt.18

Überall im Territorium freuten sich die Frauen über die neuen Präsidentschaften.

„Ich bin froh und dankbar, dass meine Schwestern nun auf diese Weise organisiert sind“, verkündete Phebe Woodruff einen Monat später bei der Versammlung einer Frauenhilfsvereinigung. „Wir leben in unglaublichen Zeiten!“, schrieb Belinda Pratt, die den Frauenhilfsvereinigungen ihres Pfahles vorstand, in ihr Tagebuch. „Die Schwestern in der Kirche schultern große und wichtige Aufgaben. Sie vollbringen ein bedeutendes Werk!“19

Später im Jahr kam es zu weiteren inspirierten Änderungen in der Kirche. Seit dem Tod Brigham Youngs vor drei Jahren hatte das Kollegium der Zwölf Apostel die Kirche ohne eine Erste Präsidentschaft angeführt. Nachdem das Kollegium die Angelegenheit besprochen und darüber gebetet hatte, bestätigte es geschlossen John Taylor als Präsidenten der Kirche und George Q. Cannon und Joseph F. Smith als dessen Ratgeber. Später hoben die Heiligen dicht gedrängt in einer Versammlung der Generalkonferenz im Oktober die Hand, um die neue Präsidentschaft zu bestätigen.20

Nach der Bestätigung erhob sich George Q. Cannon und schlug vor, die Köstliche Perle, eine Sammlung von Texten und inspirierten Übersetzungen Joseph Smiths, zu einem neuen Standardwerk der Kirche zu machen. Die Missionare hatten die Köstliche Perle schon seit der Veröffentlichung 1851 verwendet, doch jetzt wurden die Mitglieder der Kirche zum ersten Mal aufgefordert, sie als heilige Schrift anzunehmen.

„Es ist erfreulich, wie sich in unserer Abstimmung zeigt, dass wir vereint sind und dasselbe Ziel verfolgen“, verkündete Präsident Taylor im Anschluss. „Seid in anderen Belangen genauso eines Herzens wie hier, und Gott wird stets an eurer Seite sein.“21


Sechs Monate später stieg Anna Widtsoe in der belebten Hafenstadt Trondheim in Norwegen als neu getauftes Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aus einem eiskalten Fjord. Auch wenn sie am ganzen Leib fror, brannte in ihr das Feuer des Evangeliums, und ihr Herz war voller Liebe für die Heiligen, die sie umgaben.

Annas Weg zur Taufe war kein einfacher gewesen. Vor drei Jahren war ihr Mann plötzlich gestorben, und sie und ihre beiden kleinen Söhne John und Osborne waren auf sich allein gestellt. Sie mussten nun von einer kleinen Rente leben, und Anna verdiente sich als Näherin etwas hinzu. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich Gott zugewandt und sich gefragt, weshalb er ihr wohl ihren Mann genommen hatte.

Schon als Kind hatte sie in der Bibel gelesen und kannte die Geschichten gut. Nun aber las sie darin, um Antworten zu erhalten. Dabei spürte sie, dass sie Gott näherkam. Aber die Lehren der Kirche, die sie besuchte, schienen ihr unvollständig und stellten sie nicht zufrieden.

Eines Tages brachte ihr ein Schuster namens Olaus Johnsen ein Paar Schuhe zurück, die er in ihrem Auftrag repariert hatte. In jedem Schuh lag eine Missionsschrift. Sie las sie, und da sie mehr erfahren wollte, brachte sie wenig später an einem warmen Frühlingstag ein weiteres Paar Schuhe zum Schuster. Bei der Werkstatt angekommen, widerstrebte es ihr aber plötzlich, den Schuster mit Fragen zu überhäufen. Gerade als sie die Tür öffnen und hinausgehen wollte, rief er sie.

„Ich kann Ihnen etwas weitaus Wertvolleres anbieten als Sohlen für die Schuhe Ihres Kindes“, sagte er.

„Was könnte ein Schuhmacher wie Sie mir wohl anbieten?“, fragte sie.

„Ich kann Ihnen erklären, wie Sie in diesem Leben Glück finden und sich auf ewige Freude im künftigen Leben vorbereiten können“, erwiderte er.

„Wer sind Sie denn?“, fragte Anna.

„Ich bin ein Mitglied der Kirche Christi“, erklärte Olaus. „Man bezeichnet uns auch als Mormonen. Wir haben die Wahrheit Gottes.“

Als Anna dies hörte, verließ sie fluchtartig die Werkstatt. In Norwegen sagte man den Heiligen der Letzten Tage nach, sie seien Fanatiker. Die Missionsschrift hatte sie jedoch fasziniert, und schon bald besuchte sie eine Versammlung der Trondheimer Heiligen im Haus von Olaus und seiner Frau Karen. Die norwegische Gesellschaft war von strengen Standesunterschieden geprägt, und Anna war angesichts des schlichten Hauses der Johnsens und der ärmlichen Leute, die dort ihren Gottesdienst abhielten, etwas skeptisch. Als ihr Mann noch am Leben war, hatte sie einer wohlhabenderen Gesellschaftsschicht angehört und neigte dazu, auf ärmere Leute herabzublicken.

In den kommenden zwei Jahren traf sich Anna trotz ihrer Vorbehalte regelmäßig mit den Missionaren. Eines Tages, sie war gerade zuhause, drang ihr der Heilige Geist tief ins Herz. Für den Herrn bedeuteten Standesunterschiede überhaupt nichts, aber sie hatte große Bedenken, wenn sie an diese äußerst unbeliebte Kirche mit ihren Mitgliedern und deren Armut dachte. „Muss ich wirklich so tief hinabsteigen?“, fragte sie sich.

Die Antwort gab sie sich selbst: „Ja, wenn es wahr ist, muss ich das.“22


Derweil trat in den Vereinigten Staaten James Garfield die Nachfolge von Rutherford Hayes als Präsident des Landes an. Wie Hayes verachtete auch er die Kirche und beauftragte den Kongress, der Mehrehe ein für allemal ein Ende zu bereiten. Als ein verärgerter Mann ein paar Monate nach Garfields Ernennung auf ihn schoss, vermutete man, bei dem Schützen handele es sich um einen Heiligen der Letzten Tage.23 Der Vorwurf erwies sich jedoch als falsch. John Taylor verurteilte das Attentat sofort, äußerte Mitgefühl für den verletzten Präsidenten und weigerte sich, ihm für die politische Haltung, die er gegen die Kirche eingenommen hatte, die Schuld zu geben.

„Wie wir alle ist er ein fehlbarer Mensch“, erklärte John den Heiligen. „Wir alle sind fehlbar, und nicht jeder kann dem Druck standhalten, der ihm auferlegt wird.“24

Präsident Garfield erlag wenige Monate später seiner Verletzung. Sein Nachfolger, Chester Arthur, war nicht weniger entschlossen, der Mehrehe ein Ende zu setzen.25 Als Abgeordneter Utahs im Kongress bekam George Q. Cannon den Druck sofort zu spüren. Im Dezember 1881 brachte Senator George Edmunds beim Kongress eine Gesetzesvorlage ein, die es erleichtern sollte, die Heiligen wegen Ausübung der Mehrehe strafrechtlich zu verfolgen.

Verabschiedete man das Edmunds-Gesetz, konnte man die Heiligen wegen „rechtswidriger Lebensgemeinschaft“ ins Gefängnis werfen, was bedeutete, dass kein Gericht mehr nachweisen musste, ob eine Mehrehe geschlossen worden war oder nicht. Man konnte jedes Mitglied der Kirche, das allem Anschein nach in Mehrehe lebte, strafrechtlich verfolgen. Lebte ein Mann mit mehreren Frauen im selben Haus oder wurde in der Öffentlichkeit mit ihnen gesehen, liefen alle Beteiligten Gefahr, festgenommen zu werden.

Ferner sollte nach diesem Gesetz allen Männern und Frauen, die in Mehrehe lebten, das Wahlrecht entzogen werden, sie waren Geld- und Gefängnisstrafen ausgesetzt und durften weder als Geschworene tätig sein noch ein politisches Amt bekleiden.26

Was George zusätzlich belastete, war die Tatsache, dass seine Frau Elizabeth wieder in Utah war und an Lungenentzündung erkrankt war. Er wollte bei ihr sein. Am 24. Januar 1882 erhielt George jedoch ein Telegramm mit einer Nachricht von Elizabeth. „Halte die Stellung!“, drängte sie ihn. „Gott kann mich als Antwort auf deine Gebete hier genauso gut heilen wie dort.“

Zwei Tage später erhielt George ein weiteres Telegramm. Darin stand, dass Elizabeth gestorben war. „Der Gedanke, den Rest dieses Lebens voneinander getrennt zu sein und hier auf Erden niemals wieder ihr Gesicht zu sehen noch mich ihrer liebevollen Aufmerksamkeiten und ihrer angenehmen Gesellschaft zu erfreuen, lässt mich fast erstarren“, schrieb George in sein Tagebuch.27

Kurze Zeit später wurde das Edmunds-Gesetz verabschiedet, und George durfte nicht länger im Kongress tätig sein. Am 19. April sprach er zum letzten Mal zum Repräsentantenhaus. Er war ruhiger als sonst, aber dennoch entrüstet, dass seine Kollegen beschlossen hatten, das Edmunds-Gesetz zu verabschieden. Er erklärte, die Heiligen würden die Mehrehe praktizieren, weil Gott es ihnen so geboten habe. Sie hätten nicht den Wunsch, irgendjemandem ihren Glauben aufzuzwingen, sondern wünschten lediglich, Gott so gehorchen zu dürfen, wie sie es für richtig hielten.

„Wenn uns die Welt dafür verurteilen will, sind wir bereit, mit Abraham auf eine Stufe gestellt zu werden“, fügte George hinzu.

Anschließend lobten ein paar Kongressabgeordnete George für seine Worte. Andere gestanden ein, dass sie sich dem Druck gebeugt hatten, sich gegen ihn zu stellen. Die meisten wirkten allerdings zufrieden, dass er sie verließ.28


Das Edmunds-Gesetz änderte Ida Hunts Meinung über die Mehrehe nicht. Im Herbst 1881 hatte sie bei Ella und David Udall in St. Johns in Arizona gewohnt, gut siebzig Kilometer von Snowflake entfernt. Sie hatte in dieser Zeit mit David, dem Bischof von St. Johns, im dortigen Genossenschaftsladen gearbeitet, und Ella war für sie wie eine Schwester geworden.29

Kurz nachdem David als Bischof berufen worden war, waren er und Ella zu dem Schluss gekommen, es sei nun an der Zeit, die Mehrehe auszuüben. Bald darauf machte David mit Ellas Zustimmung Ida einen Heiratsantrag. Ida wollte den Antrag annehmen, bemerkte jedoch, dass Ella der Gedanke, ihren Mann teilen zu müssen, immer noch schwerfiel. Anstatt David eine Antwort zu geben, kehrte Ida ziemlich aufgewühlt nach Snowflake zurück.30

Später schrieb sie Ella einen Brief und fragte sie, was sie wirklich von dem Antrag hielt. „Ich kann nicht zulassen, dass sich die Sache weiterentwickelt, ohne zuvor von dir wenigstens ein bisschen Gewissheit zu erlangen, dass du bereit bist, einen solchen Schritt zu unternehmen“, schrieb sie ihrer Freundin. „Du hast nicht nur das Recht, sondern notwendigerweise auch die Pflicht, jeden erdenklichen Einwand ganz offen zu äußern.

Ich verspreche dir, dass ich nicht gekränkt sein werde“, versicherte sie Ella.31

Sechs Wochen später schickte Ella eine knappe Antwort. „Die Angelegenheit hat mir viel Schmerz und Kummer bereitet, vielleicht mehr, als du dir vorstellen kannst“, schrieb sie. „Dennoch begleitet mich von Anfang an das tiefe Gefühl, dass ich auf jeden Fall versuchen will, es zu ertragen, wenn dies der Wille des Herrn ist, und ich vertraue darauf, dass es sich für alle zum Besten wenden wird.“32

Am 6. Mai 1882 verließ Ida mit David, Ella und deren kleiner Tochter Pearl Snowflake und machte sich auf die achtzehntägige Reise zum Tempel in St. George. Auf der geruhsamen Fahrt durch die Wüste sah Ida Ella an, dass sie immer noch unglücklich über die Eheschließung war. Aus Sorge, sie könne irgendetwas sagen oder tun, was Ellas Schmerz noch vergrößerte, sprach und handelte Ida infolgedessen sehr behutsam. Sie lasen einander aus Büchern vor oder spielten mit Pearl, um ein unbehagliches Schweigen zu vermeiden.

Eines Abends sprach Ida mit David unter vier Augen. Es bekümmerte sie, dass Ella unglücklich war, und sie befürchtete, sich falsch entschieden zu haben, als sie Davids Antrag annahm. Seine liebevollen und aufmunternden Worte machten ihr jedoch Hoffnung. Als sie zu Bett ging, war sie zuversichtlich, dass Gott ihnen in ihren Prüfungen beistehen werde, solange sie sich bemühten, gehorsam zu sein.

Am 25. Mai wurden Ida und David im St.-George-Tempel gesiegelt. Trotz der ungewissen Zukunft spürte Ida, dass sie David vertrauen konnte und er sich um sie kümmern werde, und sie betete, ihre Liebe zu ihm möge sich weiter vertiefen. Auch Ella schien aus dem Rat und den Worten, die bei der Siegelung gesprochen worden waren, Trost zu schöpfen.

Die Nacht verbrachte die Familie bei einer von Ellas Schwestern. Als alle zu Bett gegangen waren, kam Ella, die nicht einschlafen konnte, leise in Idas Zimmer. Zum ersten Mal sprachen die beiden Frauen über ihre neue Beziehung zueinander – und über ihre Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft.

Beide glaubten, dass Idas Heirat mit David Gottes Wille war. Allerdings war nun das Edmunds-Gesetz in Kraft, und die Ereignisse des Tages hatten die Kluft zwischen der Familie und der Regierung nur noch weiter vertieft.

„Schon unter gewöhnlichen Umständen ist die Ehe ein ernster und wichtiger Schritt“, schrieb Ida am Abend in ihr Tagebuch. „Aber in einer so gefahrvollen Zeit eine Mehrehe einzugehen, ist es umso mehr.“33