2015
Wörter, die die Welt bedeuten
Oktober 2015


Wörter, die die Welt bedeuten

Ein Distriktsrat in Ghana zeigt: Wenn man sich miteinander berät und die Mittel nutzt, die einem zur Verfügung stehen, schafft man eine Umgebung, in der persönliches Wachstum und der Dienst am Nächsten gefördert werden.

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illustration of people helping each other climb a tower of books

Illustration von Taylor Callery

Vida Osei aus Ghana wollte gern Englisch lesen und schreiben können. Sie hatte es schon mehrmals mit Kursen in gemeinnützigen Einrichtungen versucht, doch jedes Mal hatte sie nach wenigen Wochen den Mut verloren und aufgehört. Eines Sonntags erfuhr sie in ihrer Gemeinde, dass der Distrikt Asamankese Kurse zur Aneignung von Lese- und Schreibfertigkeiten im Englischen anbot. Sie fasste sich ein Herz und meldete sich an.

Schon bald stellte sie fest, dass sich dieser Kurs von anderen unterschied. Hier konnte sie mit ihren Freunden aus der Kirche zusammen sein. Das Unterrichtsmaterial bestand aus den heiligen Schriften. Somit konnte sie Englisch lernen und gleichzeitig mehr über das Evangelium erfahren.

Zwei Monate nach Kursbeginn sprach sie in einem Unterricht der Kirche ihr allererstes Gebet. Nach drei Monaten hielt sie ihre erste Ansprache in der Abendmahlsversammlung: teils auf Twi, einer afrikanischen Sprache, und teils auf Englisch. Nach vier Monaten fing sie an, Bestellungen, Kosten und Preise für ihre Arbeit als selbständige Schneiderin in ein zerfleddertes Notizbuch einzutragen. Ihr unterliefen weniger Fehler mit Kunden, sie erhielt günstigere Einkaufspreise von Händlern und hatte einen höheren Monatsverdienst als je zuvor.

„Ich war einfach zu schüchtern, mich mit jemand anders in einen Lese- und Schreibkurs zu setzen“, erklärt sie. „Aber als der Kurs im Gemeindehaus mit Mitgliedern stattfand, die ich ja kannte, fand ich den Mut, es noch einmal zu versuchen. Jetzt kann ich Englisch lesen und schreiben. Ich kann die heiligen Schriften lesen. Auch mein Geschäft läuft jetzt besser.“

In Schwarzafrika können viele – vor allem Frauen – weder lesen noch schreiben. Der Analphabetismus ist so weit verbreitet, dass ein altes afrikanisches Sprichwort besagt: „Wer etwas verbergen will, schreibe es in ein Buch.“ Bei Frauen, die wie Vida der Kirche angehören, nimmt der Analphabetismus jedoch ab.

Schwierigkeiten überwinden

Weil Infrastruktur und Bildungswesen in den meisten Ländern Schwarzafrikas schlecht ausgebaut sind, bieten sich besonders den Mädchen nur wenig Aufstiegschancen. Schulbildung ist sehr teuer und junge Frauen genießen in der Gesellschaft kein hohes Ansehen. Daher ist es für viele nahezu unerreichbar, lesen zu lernen. In Ghana etwa ist Englisch zwar die offizielle Landessprache, dennoch sprechen Schätzungen zufolge nicht einmal die Hälfte der erwachsenen Frauen Englisch. Auf dem Land sind zwei Drittel der erwachsenen Frauen Analphabeten.

„Die meisten Frauen in unserem Land sprechen kein Englisch“, berichtet Seth Oppong, Präsident des Distrikts Abomosu in der Ghana-Mission Accra West. „Jahrhundertelang wurde unsere Sprache Twi nur mündlich überliefert. Ein Alphabet gibt es erst seit kurzem, daher können auch noch nicht sehr viele Twi lesen.“

„Um die Grundsätze des Evangeliums und die Richtlinien der Kirche zu verstehen, müssen sich die Schwestern auf andere verlassen – sind sie verheiratet, auf ihre Männer, sind sie unverheiratet, auf das, was ihre Freunde sagen“, erklärt Georgina Amoaka, Distrikts-FHV-Leiterin. „Viele würden sich gerne einbringen, aber sie können die Leitfäden und Zeitschriften nicht lesen, und so bleiben nur wenig Möglichkeiten, sich in der Kirche zu engagieren.“

Der Rat erteilt Rat

Da weder zu Hause noch auf den Märkten Englisch gesprochen wird, bildet die Mitarbeit in der Kirche für die Frauen den größten Anreiz, Englisch zu lernen. Dennoch stoßen viele langjährige Mitglieder und auch Neubekehrte bei ihrer Familie auf Widerstand, wenn es darum geht, lesen und schreiben lernen zu wollen. Dieses Problem wurde im Distriktsrat besprochen. Anschließend sprach Präsident Oppong zu den Führungsbeamten des Priestertums und der Hilfsorganisationen in den Gemeinden darüber, wie der Distrikt dafür sorgen wollte, dass Menschen im Lesen und Schreiben geschult werden. Das Programm sollte allen Frauen aus der Umgebung offenstehen, schwerpunktmäßig aber den Frauen in der Kirche dienen. Die Teilnehmer sollten nicht getrennt voneinander, sondern als ganze Gruppe eingeladen werden. Auf diese Weise sollten etwa die Leitungen der FHV und der PV gemeinsam teilnehmen und einander unterstützen können.

Nach Absprache mit den Zweigen beschloss die Distriktsleitung, dreimal wöchentlich – einmal davon sonntags – Lese- und Schreibkurse in den Gemeinden abzuhalten. Jedem Teilnehmer, der sechs Monate lang regelmäßig anwesend war und die Hausaufgaben erledigt hatte, sollte ein Abschlusszeugnis ausgestellt werden.

Bedarf und Möglichkeiten aufeinander abstimmen

„Eine Schwierigkeit bestand darin, uns zu überlegen, wie man jemandem Lesen und Schreiben beibringt, der eine Sprache spricht, die keine Schriftsprache ist“, erklärt Elder Jim Dalton, einer der Missionare im fortgeschrittenen Alter, die im Distrikt tätig sind. „Da Twi über lange Zeit keine Schriftsprache war, können die meisten Sprecher eben nicht schreiben. Also mussten sie zunächst einmal schreiben lernen.“

Ransford Darkwah vom Hoherat des Distrikts Abomosu und Francis Ansah und Cecelia Amankwah, zwei zurückgekehrte Missionarinnen, arbeiteten gemeinsam mit einem selbst angefertigten Lehrbuch. Die Kursteilnehmer sollten sich Bilder ansehen und dann etwas darüber schreiben. Dadurch erwarben sie grundlegende Schreibfertigkeiten und lernten außerdem, auf Englisch zu denken. Sobald sie einige grundlegende Fertigkeiten beherrschten, konnten anspruchsvollere Lernhilfen eingesetzt werden.

Vorbereitung und Neuerungen

Vor Kursbeginn schulten Alphabetisierungsexperten die Lehrkräfte nicht nur darin, Lernmethoden zu vermitteln, sondern außerdem Grundsätzliches zur Hygiene sowie das Rüstzeug für ein gutes Familienleben zu thematisieren. Doch selbst die beste Schulung hätte niemanden auf all die Schwierigkeiten vorbereiten können, die nach Kursbeginn noch eintreten sollten: Häufige Stromausfälle erschwerten die Durchführung der Abendkurse, Gerüchte über aufsässige Goldgräber, die nachts durch die Straßen zogen, verbreiteten Angst, und das eine oder andere Gebäude der Kirche konnte nicht aufgesperrt werden, weil derjenige, der den Schlüssel hatte, nicht rechtzeitig da sein konnte.

Abermals besprach der Rat, was getan werden musste. Auf Empfehlung des Rates kamen die Teilnehmer nun in Gruppen zum Unterricht. Sie wurden mit Taschenlampen ausgestattet, damit sie auf den Fußwegen sicher waren. Die zuständigen Führungsbeamten stimmten zu, abends in den Gebäuden der Kirche mithilfe von Stromgeneratoren für Beleuchtung zu sorgen. Zuverlässige Mitglieder, die in der Nähe wohnten, erhielten Schlüssel, damit die Gebäude pünktlich aufgesperrt werden konnten.

Vorträge zur Abschlussfeier

61 Mitglieder und Freunde der Kirche hatten anfangs an den Kursen teilgenommen. Davon nahmen 43 an allen Unterrichten teil und erledigten alle Hausaufgaben. Bei der Abschlussfeier wurden sie gebeten, einen kurzen Vortrag zu halten.

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Participants, family members, and friends celebrate at graduation ceremonies for the district-sponsored literacy program.

Sandra Obeng Amoh aus dem Zweig Sankubenase berichtete dort: „Vor dem Lese- und Schreibunterricht konnte ich überhaupt nicht lesen. Wenn mein Mann auf Dienstreise war, konnte ich keinen Familienabend abhalten. Als er vor ein paar Wochen wieder unterwegs war, half mir mein ältester Sohn dabei, den Leitfaden zu lesen, und ich konnte meine Kinder auf Englisch unterrichten. Seither mache ich das in jeder Woche so, in der mein Mann nicht zu Hause ist.“

Prosper Gyketes Englischkenntnisse waren mangelhaft. Dennoch war er immer ein treues Mitglied der Gemeinde Abomosu 2 und las nun ein von ihm selbst verfasstes und aus drei Sätzen bestehendes Zeugnis vor. Er erzählte, dass er früher weder lesen noch schreiben konnte, doch jetzt könne er seinen Kindern bei ihren Hausaufgaben helfen. „Dank dem, was ich gelernt habe“, sagt er, „kann ich ein besserer Vater sein.“

Kwaku Sasu aus dem Zweig Kwabeng meint: „Jetzt kann ich selbst die heiligen Schriften lesen. Früher wusste ich zwar, dass das Buch Mormon wahr ist, konnte es jedoch nicht lesen. Jetzt verspüre ich beim Lesen, dass es wahr ist! Mein Zeugnis wird immer stärker.“

Die FHV-Leitung des Zweigs Asunafo berichtete, sie hätte beschlossen, donnerstags nur noch Englisch miteinander zu sprechen. „Die Sitzungen haben anfangs immer länger gedauert, weil wir nicht wussten, wie wir uns ausdrücken sollten“, erzählt Evelyn Agyeiwaa, die FHV-Leiterin. „Doch bald haben wir füreinander gedolmetscht und kamen so auf die richtigen Begriffe. Wir haben gemeinsam gelernt; daher war es uns auch weder peinlich noch hatten wir Angst davor, mal mit einem Wort danebenzuliegen. Wir haben uns einfach gegenseitig geholfen.“

Segen im Überfluss

Die Frauen, die den Lese- und Schreibkurs absolviert haben, berichten, sie sähen sich selbst positiver und würden sich besser in der Kirche engagieren. Es falle ihnen leichter, eine Berufung anzunehmen, die heiligen Schriften zu lesen und in der Kirche und zu Hause zu unterrichten. Auch einige Männer haben an den Kursen teilgenommen. Die meisten davon sind einfache Bauern, die berichten, sie seien nun in der Lage, für ihre Erzeugnisse die Kosten und den Umsatz zu berechnen, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen und die heiligen Schriften eigenständig oder mit der Familie zu lesen.

Der benachbarte Distrikt Asamankese wurde durch den Erfolg in Abomosu darin bestärkt, eigene Lese- und Schreibkurse ins Leben zu rufen.

„Lesen und schreiben zu können verändert unser Leben und das Leben unserer Kinder“, betont Gladis Aseidu aus dem Zweig Sankubenase. „Jedes neu erlernte Wort verändert unsere Welt. Dafür danken wir dem Vater im Himmel.“

Kursteilnehmer mit Angehörigen und Freunden bei der Abschlussfeier eines vom Distrikt geförderten Lese- und Schreibkurses

Bild des Stoffmusters von Africanway/iStock/Thinkstock