Liahona
Schiebt nichts auf!
April 2024


Stimmen von Heiligen der Letzten Tage

Schiebt nichts auf!

Darmstadt (AM): Vor einigen Jahren habe ich mit mehreren Freunden eine Wanderung unternommen, die uns in eine abgelegene und unbewohnte Gegend führte. Wir ließen uns mit einem Wasserflugzeug zum Ende des Weges fliegen und planten, von dort wieder in die Zivilisation zurückzulaufen.

Am ersten Tag kamen wir gut voran, genossen die unberührte Landschaft und waren guter Dinge. Aber dann fingen Schwierigkeiten an. Wir hatten mit dem Wetter zu kämpfen, es fing an zu schneien und der Weg wurde sehr schwierig. Am nächsten Morgen brachen wir in strömendem Regen von der Hütte auf, in der wir übernachtet hatten, und folgten dem Pfad, der sich entlang eines Flussufers das Tal entlangzog. Mit der Zeit nahmen wir aber gewisse Veränderungen wahr: Der Pegel des Flusses neben uns schien ständig zu steigen und die einmündenden Bäche, die wir durchqueren mussten, wurden ständig tiefer und breiter. Während wir die ersten noch überspringen oder von Stein zu Stein hüpfend überqueren konnten, blieb uns irgendwann nichts anderes übrig, als hindurchzuwaten. Und als das Wasser erst einmal von oben in die Schuhe gelaufen war, schien es nicht mehr so schlimm, dass die Bäche irgendwann hüfttief wurden und wir einmal sogar die Rucksäcke über den Kopf halten mussten, da uns das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand.

Aber irgendwann „verschwand“ unser Weg in dem inzwischen stark angestiegenen Fluss neben uns, und die Wegmarkierungen, die sonst auf Augenhöhe an den Bäumen angebracht waren, befanden sich plötzlich nur noch eine Handbreit über dem Wasser.

Es ließ sich nicht länger leugnen: Wir kamen auf unserem Weg nicht weiter. Nach kurzer Beratung war es entschieden: Wir mussten umkehren. Immer schneller wurden unsere Schritte, da das Wasser immer noch weiter stieg, und mit viel Glück und letzter Kraft erreichten wir wieder die Hütte.

Jetzt hatten wir ein neues Problem: Unser Proviant reichte nicht mehr aus, um die Wanderung wie geplant beenden zu können. Wir hatten schon so viel Zeit verloren, dass uns das Essen ausgegangen wäre, bevor wir das Ziel des Weges erreicht hätten. Wir waren jetzt auf Hilfe von außen angewiesen. Wir konnten uns von anderen Wanderern ein Funkgerät ausleihen, mit dessen Hilfe wir die Nationalparkbehörde erreichen konnten, der wir unsere Lage schilderten. Man sagte uns, wir müssten einem dritten Weg folgen, der von unserer Hütte wegführte. An dessen Ende bestände die Möglichkeit, dass uns ein Wasserflugzeug abholt, sobald das Wetter besser würde. Erleichtert und voll Freude, dass sich uns diese Möglichkeit eröffnet hatte, machten wir uns am nächsten Morgen auf den Weg und erreichten eine Hütte an einem Fjord, wo wir zusammen mit anderen „gestrandeten“ Wanderern auf Wetterbesserung warteten, sodass ein Flugzeug zu uns kommen konnte.

Wie schön klang in unseren Ohren das Motorengeräusch, das uns die Befreiung aus unserer Lage, aus der wir uns mit eigener Kraft nicht hätten befreien können, ankündigte! Was diese Situation potenziell so gefährlich gemacht hat, war nicht die Tatsache, dass wir während des Regens losgelaufen sind, sondern die Tatsache, dass wir unsere „Umkehr“ immer weiter hinausgeschoben haben. So weit, bis es fast zu spät war.

Martin Buber hat einmal einen Rabbi mit folgendem Spruch zitiert, der etwas Wahres ausdrückt: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering! Die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.“ (Quellen jüdischer Weisheit, Verlag Leobuchhandlung St. Gallen.)

Jesus Christus selbst beklagte oft das Übel des Aufschiebens. Bekannt ist das Gleichnis vom klugen und vom bösen Knecht, wo es heißt: „Wenn aber der Knecht böse ist und in seinem Herzen sagt: Mein Herr verspätet sich! und anfängt, seine Mitknechte zu schlagen, und mit Zechern isst und trinkt, dann wird der Herr jenes Knechtes an einem Tag kommen, an dem er es nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt; und der Herr wird ihn in Stücke hauen und ihm seinen Platz unter den Heuchlern zuweisen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ (Matthäus 24:48-51.) Wenn wir über dieses Gleichnis sprechen, dann beziehen wir es oft auf die Letzten Tage und auf das zweite Kommen des Herrn. Aber dies ist eine Betrachtungsweise, die uns Gefahr laufen lässt, gerade das zu tun, wovor durch das Gleichnis gewarnt wird. Elder Eyring hat uns darüber in einer Konferenzansprache Folgendes gesagt: „Die Versuchung, die Umkehr aufzuschieben, tritt nicht erst am Ende der Welt auf, wie diese Schriftstellen es andeuten. Diese Versuchung scheint es nahezu seit Anbeginn der Zeit und unser ganzes Leben lang unverändert zu geben. In unserer Jugend haben wir vielleicht gedacht: ,Ich habe noch genug Zeit, an Geistiges zu denken, ehe ich auf Mission gehe oder heirate. Das Geistige ist für ältere Leute.‘ In den ersten Ehejahren scheinen uns der Druck, den das Leben, die Arbeit, die Rechnungen, die Suche nach einem Augenblick der Ruhe und der Entspannung verursachen, so in Anspruch zu nehmen, dass es vernünftig erscheint, unsere Verpflichtungen gegenüber Gott und der Familie aufzuschieben. … Das Alter bringt körperliche und seelische Herausforderungen mit sich. …Man gerät in Versuchung, eine Ausrede dafür zu finden, dass man nicht den Bündnissen entsprechend lebt … Diese Versuchung des Aufschiebens geht von unserem Feind Luzifer aus.“ (Henry B. Eyring, „Schiebt nichts auf!“, Liahona, Januar 2000, Seite 39.)

Der Widersacher weiß, dass er uns mit jedem Tag, den wir die Umkehr hinausschieben, ein Stück Glück und Freude stiehlt. Er weiß, dass uns die Sünde entkräftet. „Der Glaube selbst, den wir zur Umkehr brauchen, wird durch das Aufschieben geschwächt.“ (Henry B. Eyring, ebda., Seite 40.) Somit schwindet mit der Zeit der Wunsch umzukehren, weil wir den Heiligen Geist in geringerem Maße bei uns haben und somit der Gedanke der Notwendigkeit einer Umkehr immer seltsamer und unnötiger erscheint.

Das Gegenmittel dafür ist das aufrichtige Gebet, das Festhalten an unseren Bündnissen und das Erneuern dieser Bündnisse. Wenn wir uns so an Gott wenden und auf ihn zugehen, dann wird er uns nicht nur zeigen, wo und wie wir umkehren müssen, sondern uns auch Kraft geben, unsere Umkehr zu beginnen und aufrechtzuerhalten.

Er liebt uns und er hat Geduld mit uns. Und gleichzeitig wünscht er sich nichts sehnlicher, als dass wir ihm nachfolgen und auf ihn zugehen. Mögen wir das jeden Tag aufs Neue versuchen und uns nicht abhalten und nicht entmutigen lassen!