1990–1999
Ein lebendiges Netz
Oktober 1995


Ein lebendiges Netz

In geistiger Hinsicht sind wir buchstäblich alle Schwestern. Jede FHV muß eine Versammlung von Schwestern sein, die einander in Liebe zugetan sind.

Meine lieben Schwestern, aloha! Wir tauschen uns heute Abend darüber aus, wie wir jede Familie starkmachen können, und ich möchte darüber sprechen, was die FHV dafür tun kann, daß wir dieses Ziel erreichen, indem sie uns nämlich zu einer starken Schwesternschaft zusammenschmiedet.

Dies hier ist ein Netz, ein Fischernetz, das mein Vater, Kanenori Nishimura, vor vielen Jahren in Hawaii angefertigt hat. Es gehört mir, seit er vor dreißig Jahren gestorben ist, und ich halte es um seinetwillen in Ehren. Ich finde den Augenblick, in dem das Netz ausgeworfen wird, besonders schön. Ich habe immer gern zugesehen, wenn mein Vater an einer steinigen Stelle an der Küste stand, das Netz gerafft in den Händen, und es dann mit einer starken, geschmeidigen Bewegung - wie ein Tänzer - hoch- und ausgeworfen hat. Es entfaltete sich im Flug, öffnete sich wie ein Fächer oder Regenschirm und fiel dann über die Fische, die wie silberne Pfeile durch die Brandung schössen. Die Netzbleie am Rand ließen es dann sanft auf den Meeresboden sinken, so daß die Fische völlig eingeschlossen waren.

Dann sprang mein Vater immer ins Wasser und holte das Netz vom Meeresboden hoch und zog die äußeren Ränder in die Hände, bis er das Netz wie eine Tasche hielt. Er ging wieder an den Strand zurück, wobei er das Netz voller zappelnder Fische in den Armen hielt, breitete es dann aus, zog rasch einen für das Abendessen und für den nächsten Tag heraus, sehr häufig auch ein, zwei Fische für unsere Nachbarn, und ließ dann die übrigen Fische wieder ins Meer gleiten.

Ich möchte unsere Schwesternschaft in der FHV mit diesem Netz vergleichen. Unser lebender Prophet ist derjenige, der das Netz auswirft und der FHV ihre Mission zuweist. Die FHV selbst funktioniert in dreifacher Hinsicht als Netz. Zunächst einmal ist jede einzelne Frau wichtig, so, wie jeder einzelne Faden wichtig ist. Zweitens muß das Netz instandgehalten werden. Drittens dient das Netz dem Zweck, für eine Fülle zu sorgen.

Mein Vater sortierte die Fische aus, die er haben wollte, und gab die übrigen ans Meer zurück, aber das Evangelium lehrt uns, daß jeder Mensch ein kostbares, geliebtes Kind himmlischer Eltern ist. In geistiger Hinsicht sind wir buchstäblich alle Schwestern. Jede FHV muß eine Versammlung von Schwestern sein, die einander in Liebe zugetan sind. Wir dürfen nicht ein paar aussuchen, die wir behalten wollen, und ein paar andere abweisen. Jede von uns ist es wert, daß wir sie behalten.

Das Netz meines Vaters holte die Fische aus ihrem angestammten Lebenselement heraus und hob sie in die ihnen fremde Luft, wo sie starben. Aber das Evangelium bringt uns in einer Umgebung zusammen, wo wir die Wertschätzung, die Güte, die Liebe, den Dienst, die Unterweisung und die gegenseitige Fürsorge erfahren, die uns ein Gefühl dafür vermitteln, wie es im Himmel sein mag. Wir sind die Fische, wir sind das Netz, und wir sind die Fischer und das alles gleichzeitig.

Der zweite Punkt, der für das Netz und auch für unsere Schwesternschaft gilt, ist der, daß es nicht zufällig oder spontan entstanden ist. Es hat Arbeit erfordert. Mein Vater hat dieses Netz mit eigenen Händen gemacht. Er hat das festgezwirnte, doppelte Garn bei uns zu Hause im Gemischtwarenladen gekauft. Dann hat er abends nach der Arbeit und an den Wochenenden geduldig Stunde um Stunde daran gearbeitet. Er hat mit diesem Quadrat hier angefangen, das später die Mitte des Netzes bilden sollte. Dann hat er kreisförmig nach außen hin weitergearbeitet und geduldig diese Quadrate geknotet, und zwar so, daß er gerade noch den Daumen hindurchstecken konnte. An jeder Ecke hat er einen Knoten überkreuz gemacht, damit jedes Quadrat in dem Netz solide und reißfest war. Wenn ein Faden an einem Felsen hängenblieb oder riß, weil er schwach war, rissen die Quadrate daneben nicht mit auf, sondern hielten stand.

Und jedes Mal wenn mein Vater dieses Netz benutzt hatte, sah er es erst einmal nach. Wenn er nach Hause kam, spülte er es sorgfältig in Süßwasser, damit das Salzwasser die Fasern nicht schwächte und zerfraß. Dann hängte er es ganz glatt über den Zaun, damit es rasch und gleichmäßig trocknete. Wenn es trocken war, überprüfte er es Masche für Masche, ehe er es zusammenfaltete und weglegte. Wenn ein Knoten lose wirkte oder ein Faden ausfranste, reparierte er die Stelle sofort, ehe der Schaden größer wurde. Ein solches Netz hielt viele Jahre lang. Es blieb stark, weil er sich immer darum kümmerte.

Und das geschieht auch dann, wenn wir einander in Liebe zugetan sind, wenn wir fürsorglich füreinander da sind. Wir können Risse und Schäden genauso wenig verhindern, wie mein Vater das Netz von den Felsen fernhalten konnte, wenn er es auswarf; aber wir können darauf bedacht sein, unser Netz instand zu halten und es nach jedem Gebrauch und wann immer ein Schaden auftritt zu flicken.

Sehen Sie sich in dem Raum, in dem Sie diese Übertragung verfolgen, um. Sehen Sie die Schwestern an. Sie sind Teil der Schwesternschaft der Kirche - mit vielen Stärken und Segnungen. Zu diesen Stärken gehören Tausende von glücklichen Ehen, das tausendfache starke Zeugnis, die Partnerschaft in der Familie mit einem würdigen Priestertumsträger und Kindern, die das Evangelium lernen und es lieben, Tausende von Stunden, die bereitwillig und einfühlsam dem Dienst am Nächsten gewidmet sind, ein lebendiges Zeugnis von den Grundsätzen des Evangeliums, regelmäßiges Schriftstudium, teilnahmsvolle Bischöfe und andere Priestertumsführer, Gelegenheiten, in Gemeinde- und Pfahlberufungen zu dienen, und der Segen, die inspirierten Worte unseres geliebten Propheten, Präsident Hinckley, hören zu können, besonders zu einem solchen Anlaß wie heute Abend. Wir haben alle eine klare Vorstellung von der idealen Familie, in der das Evangelium im Mittelpunkt steht; und die Frauen in der Kirche arbeiten auf dieses Ideal hin, sie sehnen sich danach, sie beten darum, und sie freuen sich daran.

Aber das irdische Leben ist als Teil des Evangeliumsplans so konzipiert, daß es uns die verschiedensten Erfahrungen machen läßt, gute und böse, damit wir aus Erfahrung lernen, weise Entscheidungen zu treffen. Viele dieser Erfahrungen sind schmerzlich. In den meisten Versammlungen der Schwestern, selbst im Herzen und in einem Zuhause mit scheinbar idealen Umständen, gibt es verborgenes Herzeleid und Schwierigkeiten, die einem sehr zu schaffen machen. Einige von Ihnen waren Opfer von Mißbrauch und anderen Gewaltverbrechen. Tod und Scheidung können jede Familie heimsuchen. Leid entspringt versäumten Gelegenheiten, schwankendem Glauben, den Entscheidungen eines geliebten Menschen, der seine Entscheidungsfreiheit auf schreckliche Weise gebraucht und sich selbst und andere tief verletzt. Gibt es in Ihrer Familie oder in der Familie eines Ihnen nahestehenden Menschen jemanden, der an Geist, Körper oder Seele chronisch krank ist, der von irgendwelchen Substanzen abhängig ist, der in finanzieller Unsicherheit lebt, der einsam, bekümmert oder entmutigt ist? Viele Schwestern sind zum zweitenmal verheiratet und haben mit der dreifachen Herausforderung zu kämpfen, den Verlust der ersten Ehe wettzumachen, eine starke zweite Ehe aufzubauen und voll Anteilnahme den Kindern aus der früheren Ehe des Mannes eine liebevolle zweite Mutter zu sein.

Jede Familie, ob sie mit Problemen ringt, die scheinbar kein Ende nehmen, oder ob sie mit idealen Umständen gesegnet ist, ist eine kostbare, geliebte Familie. Jesus Christus möchte, daß Sie es schaffen. Der himmlische Vater liebt Sie. Wir lieben Sie. Wir beten, Sie mögen gestärkt werden, Sie mögen die Hilfe erfahren, die Sie brauchen, und Ihrerseits anderen helfen, die in Not sind.

Der dritte Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist dieser: unser Netz, wie das Netz meines Vaters, ist dazu da, Ihnen die Fülle zu geben - Segnungen im Überfluß, unerschöpfliche Liebe, unvorstellbare Gnade. Das Netz meines Vaters wurde vom Strand aus benutzt, aber denken Sie an die wundervolle Begebenheit, von der Lukas berichtet, wo der Herr zu Petrus, der sich eine Nacht lang vergebens abgemüht hatte, sagte: „Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus!‟ (Lukas 5:4.)

Wissen Sie noch, was dann geschah? Die Netze waren so voller Fische, daß sie zu reißen drohten. Die Fischer riefen Hilfe herbei, um die Netze einholen zu können, und beide Boote gingen fast unter. In der Bibel steht nicht, was Jesus tat, während die erstaunten Fischer den Fang ihres Lebens machten, aber ich kann mir vorstellen, daß er lächelnd zusah.

Das Großartige am Strand ist das pulsierende Leben dort. Man sieht Leute, die sich sonnen oder Volleyball spielen oder grillen. Man sieht Krabben, die auf ihren zerbrechlichen kleinen Beinen seitwärts dahintrippeln, und Seeanemonen, die in Tümpeln leuchten, die die Flut zurückgelassen hat. Man sieht Möwen, die den Wellen folgen, um nach Fischen zu schnappen, die sekundenlang im Wasser sichtbar werden. Kurz gesagt, man könnte das ganze Leben am Strand verbringen, und es wäre immer schön und interessant und spannend, weil dort ständig etwas Interessantes, Schönes und Spannendes geschieht.

Aber Jesus Christus möchte, daß wir aufs Meer hinausfahren, in tiefere Gewässer, denn er hat Schätze für uns, die es im Sand, im seichten Wasser und im regen Treiben am Strand nicht gibt und nicht geben kann. Jesus Christus sagt: „Wenn du bittest, wirst du Offenbarung um Offenbarung, Erkenntnis um Erkenntnis empfangen, damit du die Geheimnisse und das Friedfertige erkennen mögest - das, was Freude bringt, was ewiges Leben bringt.‟ (LuB 42:61.) Und aus den Erfahrungen von Petrus, Jakobus und Johannes lernen wir, daß wir Partner brauchen, um die Fülle einholen zu können.

Die Fülle gibt es, wie gesagt, nicht im seichten Wasser. Mit den Tiefen meine ich aber nicht nur die tiefe Erkenntnis vom Evangelium, sondern auch Ihre inneren Tiefen. Ich hoffe, daß es in Ihrer Persönlichkeit auch den Strand gibt, an dem viel gespielt und gelacht wird und an dem die Sonne scheint. Aber ich hoffe, daß ein Teil von Ihnen auch das seichte, sandige Ich hinter sich läßt und in die Tiefe vordringt. Und manchmal, selbst wenn wir das gar nicht wollen, ziehen uns die gewaltigen Strömungen des irdischen Lebens in die Tiefe - in die Tiefe des Kummers, des Leids und der Besinnung. Dort, in der Tiefe, entdecken wir, wer wir wirklich sind und wer Jesus Christus wirklich ist.

Schwestern, wir in der FHV-Präsidentschaft wissen um die Last, die Sie zu tragen haben. Wir beten in jeder Sitzung, jede einzelne von Ihnen möge gestärkt werden, damit Sie ihrerseits ihre Familie, ihren Freundeskreis, ihre Gemeinde und ihr Gemeinwesen stärken kann. Ihr großer Mut und Ihr Frohsinn begeistern uns. Wir leiden in Ihrem Kummer mit Ihnen. Ihr Glaube stimmt uns demütig. Und Ihre Liebe macht uns stark. Lassen Sie einander an Mut, Glaube und Liebe teilhaben. Machen Sie sich selbst stark, und machen Sie einander stark. Weben Sie ein lebendiges Netz.

Jeder hat Tage, an denen er die Last gut tragen kann; an anderen Tagen wird man schier erdrückt. Manche von Ihnen wissen vielleicht um die ungeheure Kraft, die uns zuteil wird, wenn wir jemanden haben, der uns die Last tragen hilft. Manche von Ihnen versuchen, die Last allein zu tragen, oder sie ringen mit der noch schwereren Last des Verleugnens und tun so, als gäbe es gar keine Last.

Bitte, Schwestern, machen Sie sich klar, daß niemand die Last für Sie tragen kann, der Herr allein ausgenommen, aber machen Sie sich auch klar, daß jede von uns jemandem die Last leichter machen kann, indem man sie gemeinsam trägt. Versuchen Sie bitte nicht, Ihre Last allein zu tragen, und zwingen Sie auch keine andere Schwester, ihre Last allein zu tragen. Sehen Sie ein, daß wir hier auf Erden sind, weil wir uns aus freien Stücken dafür entschieden haben, sowohl Freude als auch Kummer zu erfahren. Es ist etwas anderes, ob Sie jemanden an Ihrem Kummer teilhaben lassen oder ob Sie sich stets und ständig beschweren. Bitte achten Sie darauf, ob eine andere Schwester zu kämpfen hat, bieten Sie Hilfe, wo immer Sie helfen können, hören Sie zu, wenn jemand sein Herz ausschütten möchte. Suchen Sie sich eine teilnahmsvolle Freundin, die Sie versteht und tröstet und stärkt, wenn Sie selbst in Schwierigkeiten stecken. So halten wir unser Netz instand, machen wir jede Faser stark und sorgen dafür, daß unsere Schwesternschaft intakt und gesund bleibt und daß ihre heilende Kraft erhalten bleibt.

Also, Schwestern: Denken Sie an das Netz meines Vaters, und wirken Sie in Ihrer FHV ein lebendiges Netz. Jede Situation in der Familie erfordert Mut, Glaube und Liebe. Unsere Beziehungen als Eltern und Kinder beruhen auf tieferen, älteren Beziehungen als Brüder und Schwestern in Ewigkeit, als Kinder des himmlischen Vaters, der uns liebt und über uns wacht und der sich von Herzen wünscht, daß unser Glaube zunimmt, daß unser Mut andere aufbaut und wir andere in unsere Liebe einhüllen, so wie er uns in seine Liebe einhüllt. Wie der Apostel Paulus sagt:

„Euch aber lasse der Herr wachsen und reich werden in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben, damit euer Herz gefestigt wird und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt.‟ (l Thessalonicher 3:12,13.)

Das es so sein möge, darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.