1990–1999
Die Macht der Güte
Oktober 1995


Die Macht der Güte

Gott hat jedem von uns Macht gegeben - die Macht zu handeln, zu wählen, zu dienen, zu lieben und viel Gutes zu vollbringen.

Eine Mutter hat einmal gesagt: „Ich wünschte, man könnte alle Jugendlichen einfach in den Tempel einschließen, bis sie einundzwanzig Jahre alt sind.‟ Ein Vater hat gesagt: „Ich fühle mich in meiner Familie völlig machtlos. Wir sind nicht mehr Herr der Lage.‟ Welche Kraft oder Macht kann das dringende Verlangen der Menschheit nach mehr Sicherheit, Ordnung, Führung und sogar Frieden besänftigen?

Die Notwendigkeit einer größeren Macht wurde mir zum erstenmal bewußt, als meine Familie umzog; ich kam damals ins dritte Schuljahr. Ich fing gerade an, mich mit neuen Freunden und mit anderen Familien zurechtzufinden. Wenn meine neuen Freunde sich mit Kindern aus der Nachbarschaft unterhielten, wurden Vorteile und Zahlen verglichen - wer einen schattigen Baum hatte, auf dem man sitzen konnte, oder einen Hühnerstall, auf den man klettern konnte. Außer der Frage, wessen Vater der stärkste war, fiel mir auch noch auf, daß viele Kinder älter waren als ich. Zum Glück hatte ich zwei ältere Schwestern mit vielen Freunden. Ich behauptete sogar einmal, wenn nötig würde mir die ganze Schule meiner älteren Schwestern zur Hilfe kommen. Meiner Meinung nach hatte ich genügend Macht, die mir Sicherheit und Schutz gab.

Als Achtjährige wurde meine Welt immer größer. Ebenso wuchs der Bedarf an Fähigkeiten, die es einem erleichtern, in unserer zivilisierten Welt zurechtzukommen. Ich lernte zu schätzen, wieviel Sicherheit Größe, Zahlen und Hilfsmittel vermitteln können. Wir machen schon sehr früh Gebrauch von unserer, wie ich es nenne, persönlichen oder politischen Macht. Die meisten Kinder lernen zuerst etwas über Größe. „Wenn du nicht damit aufhörst, rufe ich Mama.‟ „Wenn Papa nach Hause kommt, kannst du was erleben!‟ Hilfsmittel sind eine wichtige Ergänzung zur Größe. Ein Spielzeug wird zum Stock. Was zunächst ein Schneemann werden sollte, wird zur Festung. Die Welt stand damals im Krieg, aber ich war eine Drittklässlerin. Körperliche Gefahr drohte mir von dem Jungen mit dem Holzgewehr, der mit den Gummiringen von Einweckgläsern schoß. Als Zielscheibe dienten ihm Mädchenbeine. Freunde sagten mir, man könne ihm solche Gummiringe geben, dann würde er nicht mehr auf einen schießen, aber es kam mir wie Verrat vor, sein Arsenal noch zu vergrößern, und außerdem zweifelte ich daran, daß man dem Versprechen eines Leuteschinders trauen konnte. Irgendwann nahm ihm wohl ein Lehrer das Gewehr ab. Ich war sehr dankbar, daß es in meiner Welt Menschen mit Macht gab, wie Eltern oder Lehrer, vor allem, wenn sie faire Regeln hatten.

Im selben Jahr schien sich die ganze Nachbarschaft mit unserer Familie zu freuen, als meine Mutter nach vier Töchtern ihren einzigen Sohn zur Welt brachte. Mein Vater war auch der einzige Sohn, und nun hatte er jemanden, der seinen Namen weitergeben konnte. Innerhalb weniger Monate stellte sich heraus, daß Tommy schwerbehindert war. In unserer Familie entwickelte sich eine Kraft, die im krassen Gegensatz zu meiner Welt außerhalb der Familie stand. Liebe, Zärtlichkeit und Mitgefühl entwickelten sich in nie gekanntem Ausmaß. Ich beobachtete, wie meine Eltern ihre

Lebensweise änderten, um liebevoll für ein Kind zu sorgen, das in seinen fünfeinhalb Jahren niemals sitzen oder sprechen lernte, jedoch mit seinem Lächeln einen ganzen Raum erhellen konnte. Die ganze Stadt schien sanfter, interessierter und mitfühlender zu sein. Meine Angst vor der Außenwelt war verschwunden. Ich fühlte mich ganz sicher, weil meine Mutter und mein Bruder da waren. Meine Eltern waren abends zu Hause. Unser Zuhause schien wärmer und erfüllter zu sein. Eine ganz andere Macht war zu spüren, die von innen heraus zu wachsen schien. Sie war dauerhafter, ganz anders als die Macht, die ich manchmal bei meinen Freunden empfunden hatte. Sie war ruhig und friedlich - die Macht der Güte, die Macht der Liebe.

Die Güte ist eine Macht, die viele in der Familie kennenlernen. Wenn sie fehlt, herrscht Leere. Ich kenne eine Familie, die ihr „gutes Leben‟, wie sie es nannte, zurückließ, um Gutes zu tun. Sie hatten sich auf ein großmütiges Vorhaben geeinigt, das sie für ein Jahr auf die Philippinen führte. Die Mutter berichtete: „Wir waren bestürzt, daß es so schwer war.‟ Zunächst fehlte ihnen nur die gewohnte Routine und Bequemlichkeit ihres Zuhauses, aber sonst hatte sich nichts geändert. Dann legten sie einen neuen Tagesplan fest: Sport um 5.30 Uhr morgens und Schriftstudium um 6.30 Uhr, danach Frühstück und Schule. Jeden Nachmittag besuchten sie Waisenhäuser, um dort mit den Kindern zu spielen.

Langsam bemerkte die Familie eine Veränderung - Geduld, Dankbarkeit und Achtung nahmen zu. Sie begannen, miteinander zu reden - wirklich zu reden und wirklich zuzuhören. Die Mutter sagte: „Ich werde nie vergessen, was ich mit meiner Familie gelernt habe an dem Tag, als man ein fünf Monate altes Baby ins Waisenhaus brachte, dem die Zunge abgeschnitten und ein Auge ausgeschlagen worden war.‟ Als sie erfuhren, daß die Mutter, eine Bettlerin, ihr Kind so zugerichtet hatte, sahen sie die sozialen Probleme, die sie zu Hause diskutiert hatten, in einem anderen Licht. Sie entwickelten Mitgefühl, wie sie es vorher nicht gekannt hatten, und größere Achtung vor der Heiligkeit des Lebens. Diese Familie setzte ihr „Vertrauen in den Geist, der dazu bewegt, Gutes zu tun‟ (LuB 11:12), und mit der Zeit lernten sie die Macht kennen, die eine innere Wandlung bewirkt.

Die Mächte des Himmels sind jedem durch Rechtschaffenheit zugänglich. Mormon lehrt: „Alles, was einlädt, Gutes zu tun, und dazu bewegt, daß man an Christus glaubt, geht von der Macht und Gabe Christi aus.‟ (Moroni 7:16.)

Joseph Smith erhielt eine Offenbarung über Macht, als sich die politische Macht gegen ihn gewandt hatte und er im Gefängnis von Liberty gefangen war. In seiner ersten flehenden Bitte bat er den Herrn, sich an seinen Feinden zu rächen. Er betete: „Laß deinen Zorn sich gegen unsere Feinde entzünden.‟ (LuB 121:5.) Der himmlische Vater antwortete mit einer größeren Segnung: „Mein Sohn, Frieden deiner Seele!‟ (Vers 7.) Dann verhieß er Joseph Smith, sofern er ausharrte und treu blieb: „Gott [wird] dich hoch erhöhen; du wirst über alle deine Feinde triumphieren.‟ (Vers 8.)

Während Joseph Smith im Gefängnis war, unterwies ihn Gott über die Macht des Priestertums. „Kraft des Priestertums kann und soll keine Macht und kein Einfluß anders geltend gemacht werden als nur mit überzeugender Rede, mit Langmut, mit Milde und Sanftmut und mit ungeheuchelter Liebe.‟ (LuB 121:41.) Die Macht des Priestertums wird dazu angewandt, zu dienen, zu predigen, zu lehren, zu taufen, zu ordinieren, zu heilen, zu siegeln, wiederherzustellen, zu segnen, zu prophezeien, Zeugnis zu geben, Gutes zu tun.

Dagegen kann politische Macht als Kraft zum Guten oder als Kraft zum Schlechten eingesetzt werden. Sie ist immer nur vorübergehend. Wir alle haben politische Macht. Wir alle brauchen sie. Wir müssen sie dazu einsetzen, Gutes zu tun. Wenn wir diese Macht nicht in der richtigen Weise gebrauchen, können wir unsere Freiheit verlieren. Vielleicht gibt es dann keine Kirchen mehr. Natürlich brauchen wir Regeln. Wir brauchen Gesetze. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es in der heiligen Schrift heißt: „Die Himmelskräfte können nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden.‟ (LuB 121:36.)

Eine treue Schwester hat einmal Zeugnis gegeben, wie die Macht der Güte ihr Leben beeinflußt hat. Sie schreibt:

„Bis zu meinem achten Lebensjahr wußte ich nichts davon, daß meine Mutter ernsthafte Beschwerden hatte, die später als Multiple Sklerose diagnostiziert wurden. Als ich zwölf war, erwachte ich an einem Morgen im Mai und mußte erfahren, daß meine Mutter vom Hals abwärts gelähmt war. Sie war bereits blind.‟

Diese mutige Frau, die nun ans Bett gefesselt war, wurde zum Mittelpunkt der ganzen Familie. Ihre Tochter schreibt:

„Einmal war ich an der Reihe, den Backofen zu reinigen, eine Aufgabe, an die ich mit viel Selbstmitleid und Murren heranging. Ich ging ins Schlafzimmer meiner Mutter, um ein bißchen zu jammern, da sah ich, daß sie weinte. Sie sagte:, Weißt du, wieviel ich darum geben würde, daß ich jetzt aufstehen könnte, um den Backofen zu schrubben?’ Von da an sah ich Arbeit in einem anderen Licht. Bis zum heutigen Tag muß ich immer an dieses Erlebnis denken, wenn der Backofen gereinigt werden muß.‟

Sie fährt fort:

„Eine ungewöhnliche Segnung war für mich, daß meine Mutter immer da war. Sie hörte meinen jugendlichen Sorgen und Fragen geduldig zu. Sie gab mir das Gefühl, der wichtigste und interessanteste Mensch auf der ganzen Welt zu sein. Sie war immer zu Hause - aufmerksam, interessiert und einfach immer da.‟

Die Mutter starb im Frühjahr während des letzten Schuljahres der Tochter, die darüber sagt:

„Einer der schwersten Augenblicke in meinem jungen Leben war der Tag, an dem ich von der Schule in ein leeres Haus zurückkehrte und den langen Flur zu ihrem Schlafzimmer entlangging. Meine Ratgeberin und Vertraute, die sozusagen zum Inventar gehört hatte, war nicht mehr da, aber sie hatte mir etwas nicht Greifbares, etwas Ewiges geschenkt: Liebe, Weisheit und Anerkennung. Ich werde immer dankbar sein für ihre Güte.‟

Diese starke Frau, obgleich körperlich hilflos, hatte die Macht zu lieben, zu motivieren, zu inspirieren, Rechtschaffenheit zu bewahren, Gutes zu tun.

Mein Wunsch ist, daß wir erkennen, daß Gott jedem von uns Macht gegeben hat - die Macht zu handeln, zu wählen, zu dienen, zu lieben und viel Gutes zu vollbringen. Vielleicht ist es an der Zeit, unser Leben in die Hand zu nehmen. Unser Prophet, Gordon B. Hinckley, hat uns aufgefordert, treu zu sein und Gutes zu tun. Er hat gesagt: „Wir haben nichts zu fürchten. Gott führt uns. … Er wird Segen auf diejenigen herabschütten, die den Geboten gehorchen.‟ (Der Stern, Juli 1995, Seite 65.) Ich bete darum, daß wir in unserem Leben nach der Macht der Rechtschaffenheit trachten, indem wir den Rat des lebenden Propheten befolgen und nach den Lehren unseres Erretters, Jesus Christus, leben. Im Namen Jesu Christi. Amen.