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25 Zieht weiter nach Westen


„Zieht weiter nach Westen“, Kapitel 25 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 1, Das Banner der Wahrheit, 1815–1846, 2018

Kapitel 25: „Zieht weiter nach Westen“

Kapitel 25

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Männer zu Pferde

Zieht weiter nach Westen

Als Jennetta Richards im August 1837 einen kurzen Ausflug nach Preston unternahm, hatten ihr ihre Freunde Ann und Thomas Walmesley viel zu erzählen. Es ging um eine Gruppe Missionare aus Amerika.

Ann war jahrelang krank gewesen und immer schwächer und magerer geworden, bis sie fast nur noch Haut und Knochen war. Als Heber Kimball ihr das Evangelium verkündigte, verhieß er, sie werde geheilt werden, wenn sie Glauben habe, umkehre und ins Wasser der Taufe steige. Bald darauf ließ sich Ann taufen und schloss sich gemeinsam mit acht anderen der neuen Kirche an. Von da an verbesserte sich ihr Gesundheitszustand stetig.

Viele der Neubekehrten stammten aus der Kirchengemeinde von James Fielding. Pastor Fielding hatte den Missionaren zwar erlaubt, in seiner Kirche zu predigen, aber er selbst wollte sich nicht taufen lassen, und mit der Zeit ärgerte er sich auch über den Verlust seiner Gemeindemitglieder.1

Jennetta war fasziniert von der Botschaft der amerikanischen Missionare. Sie lebte in einer kleinen Landgemeinde namens Walkerfold, fünfundzwanzig Kilometer entfernt von Preston mit seinen Schornsteinen und seinen verstopften Straßen. Ihr Vater war Geistlicher, sie war also mit dem Wort Gottes aufgewachsen.

Jennetta feierte in wenigen Wochen ihren zwanzigsten Geburtstag und wollte mehr über Gottes Wahrheit erfahren. Als sie die Walmesleys besuchte, begegnete sie dort Heber und war erstaunt, was er über Engel, einen alten Bericht auf Goldplatten und einen lebenden Propheten berichtete, der wie die Propheten vor alters Offenbarung von Gott empfing.

Heber lud Jennetta zu seiner Predigt am Abend ein. Sie folgte seiner Einladung, hörte sich die Predigt an und wollte noch mehr hören. Am folgenden Tag ging sie wieder zu Hebers Predigt. Sie wusste, dass er die Wahrheit verkündete.

Am nächsten Morgen bat Jennetta ihn, sie zu taufen. Er und Orson Hyde begleiteten sie zu den Ufern des Ribble, und Heber tauchte sie im Wasser unter. Dann konfirmierten sie sie am Ufer des Flusses.

Nach ihrer Taufe wäre Jennetta gern bei den anderen Heiligen in Preston geblieben, aber sie musste ja zu ihren Eltern nach Walkerfold zurückkehren. Sie konnte es kaum erwarten, ihnen von ihrem neuen Glauben zu erzählen, war sich aber unsicher, wie ihr Vater ihre Entscheidung, sich den Heiligen anzuschließen, aufnehmen würde.

„Der Herr wird das Herz deines Vaters erweichen“, sagte Heber. „Ich werde in seiner Kirche predigen dürfen.“

Jennetta hoffte, er werde Recht behalten, und bat Heber, für sie zu beten.2


Im gleichen Sommer reiste Joseph nach Kanada, um die Heiligen in Toronto zu besuchen. In seiner Abwesenheit sprach Joseph Sr. in einem Sonntagsgottesdienst im Kirtland-Tempel über die in die Krise geratene Safety Society. Er verteidigte den Charakter seines Sohnes und verurteilte das Verhalten der Abtrünnigen, die am anderen Ende des Raumes saßen.

Während der Patriarch noch zu den Heiligen sprach, stand Warren Parrish auf und verlangte Gehör. Joseph Sr. sagte ihm, er solle ihn nicht unterbrechen, aber Warren sprang quer durch den Raum und drängte sich vor bis zum Podium. Er packte Joseph Sr. und versuchte, ihn vom Rednerpult fortzuziehen. Der Patriarch rief Oliver Cowdery, der auch der örtliche Friedensrichter war, um Hilfe, aber Oliver stand seinem alten Freund nicht bei.

Dafür sprang William Smith auf, als er sah, dass seinem Vater Gefahr drohte. Er warf die Arme um Warren und zerrte ihn vom Podium herunter. Daraufhin preschte John Boynton nach vorn und zückte ein Schwert. Er richtete die Klinge auf Williams Brust und drohte, seinen Bruder im Apostelamt niederzustechen, falls dieser einen weiteren Schritt mache. Andere Abtrünnige zogen Messer und Pistolen aus den Taschen und umzingelten William.

Im Tempel brach Chaos aus. Die Leute rannten zu den Ausgängen oder flohen durchs nächste Fenster. Wachtmeister stürmten herein, drängten sich durch die fliehende Menge und rangen mit den Bewaffneten.3

Als Joseph wenige Wochen später nach Kirtland zurückkehrte und erfuhr, was geschehen war, berief er eine Krisenkonferenz der Heiligen ein und legte jeden einzelnen Führer der Kirche zur Bestätigung im Amt vor.4 Die Heiligen bestätigten ihn und die Erste Präsidentschaft, lehnten aber John Boynton, Luke Johnson und Lyman Johnson als Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel ab.5

Das Vertrauen, das die Mitglieder ihm aussprachen, war beruhigend, aber Joseph wusste, dass die Probleme in Kirtland bei weitem noch nicht überwunden waren. Als der einzige Pfahl der Kirche sollte Kirtland eigentlich ein Sammlungsort für die Heiligen sein. Aber der Ort steckte wirtschaftlich und geistig in Schwierigkeiten, und die Abtrünnigen brachten Mitglieder, die dafür anfällig waren, gegen ihn auf. Für viele war Kirtland nicht länger ein Ort des Friedens und der geistigen Kraft.

Der Herr hatte Joseph unlängst in einer Vision aufgefordert, weitere Pfähle Zions zu gründen und die Grenzen der Kirche zu erweitern. Joseph und Sidney glaubten nun, dass es an der Zeit war, nach Missouri zu gehen, die neue Siedlung Far West zu begutachten und weitere Pfähle als Sammlungsorte für die Heiligen aufzurichten.6

Joseph musste auch aus anderen Gründen nach Missouri. Er war besorgt, dass sich die Abtrünnigkeit in Kirtland auch auf die Führer der Kirche in Zion übertragen hatte. Als John Whitmer und William Phelps Far West gegründet hatten, hatten sie sich nicht mit der Bischofschaft oder dem Hoherat beraten, wie sie durch Offenbarung angewiesen worden waren. Außerdem hatten sie mit Spendengeldern in eigenem Namen Land gekauft und es zu ihrem eigenen Gewinn weiterverkauft.

Beide Männer hatten ihren Fehler zwar eingestanden, aber Joseph und andere Führer der Kirche vermuteten, dass sie bei der Verwaltung des Landes in Missouri nach wie vor unehrlich waren.7

Eine weitere Sorge für Joseph war der Einfluss der Mitglieder seiner eigenen Ersten Präsidentschaft, die sich vorbereiteten, nach Far West zu ziehen. Frederick Williams hatte sich wegen der Verwaltung der Kirtland Safety Society mit Joseph angelegt, und ihre Freundschaft hatte darunter gelitten.8 Unterdessen störte sich auch Oliver immer mehr daran, dass Joseph sich vermehrt in wirtschaftliche und politische Angelegenheiten einschaltete. Wie David Whitmer, der Präsident der Kirche in Missouri, war Oliver der Meinung, dass Joseph in seiner Rolle als Prophet zu großen Einfluss in weltlichen Belangen ausübte.9

Die beiden Männer waren zwar nicht mit Warren Parrish und den anderen Abtrünnigen im Bunde, aber ihre Loyalität gegenüber Joseph war in den vergangenen acht Monaten abgeflaut, und er befürchtete, sie könnten in Zion Schwierigkeiten auslösen.

Ehe Joseph aus Kirtland abreiste, bat er seinen Bruder Hyrum sowie Thomas Marsh, noch vor ihm nach Far West zu gehen und die treuen Heiligen über die zunehmende Entfremdung zwischen ihm und den beiden Männern aufzuklären.10 Hyrum nahm den Auftrag an, obwohl er dafür seine Frau Jerusha zurücklassen musste, die nur wenige Wochen vor der Entbindung ihres sechsten Kindes stand.11


Olivers Entzweiung mit dem Propheten ging über unterschiedliche Ansichten, wie die Kirche zu führen sei, hinaus. Seit sich Joseph im Laufe der inspirierten Übersetzung der Bibel mit der Mehrehe auseinandergesetzt hatte, wusste er, dass Gott zuweilen seinem Volk gebot, diesen Grundsatz anzuwenden. Joseph hatte dieses Wissen nicht sofort in die Tat umgesetzt, aber ein paar Jahre darauf hatte ihm ein Engel des Herrn geboten, eine weitere Frau zu heiraten.12

Nachdem Joseph das Gebot erhalten hatte, bereitete es ihm Mühe, seine natürliche Abneigung gegen diese Vorstellung zu überwinden. Es war abzusehen, dass die Mehrehe Prüfungen nach sich ziehen würde, und dem wollte er sich entziehen. Aber der Engel drängte ihn, das Gebot zu erfüllen, und wies ihn an, nur denen, deren Treue unerschütterlich war, von der Offenbarung zu erzählen. Außerdem trug der Engel ihm auf, es für sich zu behalten, bis der Herr es für richtig hielt, diesen Brauch durch seine erwählten Diener publik zu machen.13

In den Jahren, in denen Joseph in Kirtland lebte, arbeitete eine junge Frau namens Fanny Alger im Haus der Familie Smith. Joseph kannte ihre Familie gut und vertraute ihr. Ihre Eltern waren treue Heilige, die sich schon im ersten Jahr der Kirche angeschlossen hatten. Fannys Onkel, Levi Hancock, war im Lager Israel mitmarschiert.14

Wie der Herr es geboten hatte, machte Joseph mit Unterstützung von Levi und der Zustimmung ihrer Eltern Fanny einen Heiratsantrag.15 Fanny nahm Josephs Lehren und seinen Antrag an, und ihr Onkel nahm die Trauung vor.16

Da die Zeit noch nicht gekommen war, in der Kirche die Mehrehe zu verkünden, hielten Joseph und Fanny die Ehe geheim, wie der Engel es Joseph aufgetragen hatte.17 Aber es verbreiteten sich Gerüchte in Kirtland.18 Im Herbst 1836 war Fanny fortgezogen.19

Oliver betrachtete Josephs Beziehung zu Fanny mit großem Missfallen, wobei nicht bekannt ist, wie viel er darüber wusste.20 Was Emma über die Ehe wusste, ist ebenfalls unklar. Nach einiger Zeit heiratete Fanny einen anderen Mann und lebte nicht mehr bei der Kerngruppe der Heiligen. Jahre später erhielt sie einen Brief von ihrem Bruder, der sie wegen der Mehrehe mit Joseph befragte.

„Das geht nur uns etwas an“, schrieb Fanny zurück, „ich habe dir nichts darüber mitzuteilen.“21


Im Herbst 1837, als sich Joseph und Sidney auf den Weg nach Far West machten, lebte Wilford Woodruff als Missionar unter Fischern und Walfängern auf den Fox Islands im Nordatlantik.22 Er und sein Mitarbeiter, Jonathan Hale, waren in den letzten Augustwochen auf den sturmgepeitschten Inseln angekommen. Keiner von beiden wusste viel über diesen von struppigen immergrünen Bäumen bedeckten Ort, aber sie wollten mithelfen, Jesajas Prophezeiung zu erfüllen, dass sich das Volk des Herrn von den Inseln des Meeres sammeln werde.23

Vor ihrer Abreise aus Kirtland hatten einige Abtrünnige versucht, Jonathan von dieser Mission abzuhalten. Er werde auf den Fox Islands keine Menschenseele taufen, hatten sie erklärt. Jonathan wollte nicht, dass sie Recht behielten.24

Wilford und Jonathan arbeiteten bereits seit mehreren Monaten zusammen. Nach ihrem Aufbruch aus Kirtland hatten sie zunächst versucht, Wilfords Verwandtschaft in Connecticut das Evangelium zu bringen, aber nur ein Onkel, eine Tante und ein Cousin ließen sich taufen.25 Phebe Woodruff war kurz darauf zu ihnen gestoßen, und sie waren gemeinsam die Küste entlang nach Maine gereist, wo Phebes Eltern lebten. Dort blieb Phebe, während sie ihre Mission fortsetzten.26

Einer der Ersten, die Wilford und Jonathan auf den Fox Islands kennenlernten, war ein Geistlicher namens Gideon Newton. Er hatte Wilford und Jonathan eingeladen, bei seiner Familie etwas zu essen, und sie hatten ihm ein Buch Mormon gegeben. Danach gingen die Missionare mit ihm zu seiner Kirche, und Wilford predigte aus dem Neuen Testament.27

Die Tage darauf predigten Wilford und Jonathan täglich, oft in Schulhäusern. Sie stellten fest, dass die Menschen auf den Fox Islands aufgeweckt, fleißig und freundlich waren. Gideon und seine Familie besuchten die meisten ihrer Zusammenkünfte. Der Geistliche befasste sich intensiv mit dem Buch Mormon, und der Heilige Geist bezeugte ihm, dass es wahr war. Trotzdem wusste er nicht, ob er es annehmen konnte, da es schließlich bedeutete, dass er seine Kirchengemeinde aufgeben musste.28

Nachdem Wilford und Jonathan bereits mehr als eine Woche auf den Inseln verbracht hatten, predigte Wilford eines Morgens vor einer großen Zuhörerschaft in Gideons Kirche. Die Predigt wurde so offen aufgenommen, dass der Geistliche sich Sorgen machte. Noch am gleichen Tag stellte er die Missionare deswegen zur Rede. Er sagte ihnen, er habe jetzt genug vom Buch Mormon gelesen und könne es nicht annehmen. Er wolle allen Einfluss, den er auf den Inseln habe, geltend machen, um sie vom Predigen abzuhalten.

Danach ging Gideon zur Kirche, um selber zu predigen, und Wilford und Jonathan blieben zurück und fragten sich, ob ihre Arbeit auf der Insel wohl noch Erfolg bringen konnte. Als Gideon jedoch bei seiner Kirche ankam, war sie leer. Niemand war gekommen, um ihn predigen zu hören.29

Wilford und Jonathan übernachteten im Haus eines Kapitäns namens Justus Eames und seiner Frau Betsy. Justus und Betsy waren an der Botschaft der Missionare sehr interessiert, und nach einer Zusammenkunft an einem Sonntag forderte Wilford sie auf, sich taufen zu lassen. Zu seiner großen Freude nahmen sie die Aufforderung an.30

Wilford dachte an die Abtrünnigen, die ihnen vorausgesagt hatten, sie würden auf den Inseln keinen Erfolg haben, und wandte sich an Jonathan. „Tauf du ihn“, sagte Wilford zu ihm und deutete auf Justus. „Beweise diesen Männern, dass sie falsche Propheten sind.“31


Indes kam Hyrum seinem Auftrag in Far West nach und wartete auf die Ankunft seines Bruders. Er hoffte Tag für Tag, Joseph werde ihm Nachricht von Jerusha bringen. Thomas und Hyrum hatten bei ihrer Ankunft in Far West eine Siedlung vorgefunden, die sich prächtig entwickelte. Die Heiligen hatten bereits breite Straßen und großzügige Flächen für Häuser und Gärten vermessen. Lachende Kinder spielten auf den Straßen und wichen den Pferden und den vorbeirumpelnden Wagen und Kutschen aus. In der Stadt gab es Häuser und Blockhütten, ein Hotel und mehrere Geschäfte und Läden, darunter auch ein Vorratshaus des Bischofs. In der Mitte der Stadt war ein Platz für den Tempel vorgesehen.32

Joseph und Sidney erreichten Far West Anfang November, aber sie hatten keine Neuigkeiten für Hyrum. Als sie Wochen zuvor in Kirtland losgeritten waren, hatte Jerusha noch nicht entbunden.33

Joseph berief rasch eine Konferenz in Far West ein, um zu besprechen, wie man die Siedlung für künftiges Wachstum erweitern konnte. Er und Sidney sahen, dass in der Gegend genügend Platz war und dass die Heiligen sich sammeln und ausbreiten konnten, ohne dass sich Nachbarn bedrängt fühlten. So riskierten sie keine weitere Gewalt. Auf der Konferenz kündigte Joseph seine Pläne für die Erweiterung an und stellte jede weitere Arbeit am neuen Tempel zurück, bis der Herr seinen Willen in Bezug auf das Gebäude offenbarte.

Außerdem legte der Prophet den Heiligen in Far West die Führer der Kirche zur Bestätigung vor. Dieses Mal wurde Frederick Williams seines Amtes in der Ersten Präsidentschaft enthoben, und Sidney Rigdon schlug vor, dass Hyrum dessen Platz einnehmen solle.l Die Heiligen stimmten dem zu.34

Ein paar Tage später erhielt Hyrum die lang erwartete Nachricht in einem Brief aus Kirtland. Aber nicht Jerusha hatte den Brief geschrieben, sondern Hyrums Bruder Samuel. „Lieber Bruder Hyrum“, schrieb Samuel, „heute Abend komme ich meiner Pflicht nach und schreibe dir, denn ich weiß ja, dass jeder vernünftige Mann genau wissen will, wie es seiner Familie geht.“

Hyrums Augen glitten rasch über die Zeilen des Briefes hin und her. Jerusha hatte ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht, war aber nach der Geburt sehr erschöpft gewesen. Familie Smith hatte alles getan, um sie wieder gesund zu pflegen, aber sie war ein paar Tage später gestorben.35


Hyrum und Joseph bereiteten sich sofort auf die Rückkehr nach Kirtland vor. Ehe er abreiste, traf sich Joseph noch mit Thomas und Oliver.36 Sie sprachen über Olivers ablehnende Haltung gegenüber Josephs Ehe mit Fanny Alger, konnten aber ihre Meinungsverschiedenheiten nicht beheben.37 Schließlich reichte Joseph Oliver die Hand und sagte, er wolle jede Unstimmigkeit zwischen ihnen begraben. Oliver gab ihm die Hand und sie gingen ihrer Wege.38

Ein paar Wochen später kamen Joseph, Sidney und Hyrum wieder in Kirtland an. Hyrums fünf Kinder waren bei Verwandten untergekommen. Sie trauerten immer noch um ihre so plötzlich verstorbene Mutter, die auf einem Friedhof neben dem Tempel begraben lag. Hyrum, der nun der Ersten Präsidentschaft angehörte, wusste nicht, wie er seine Aufgaben erfüllen und selbst für seine Kinder sorgen sollte.39

Joseph legte seinem Bruder nahe, wieder zu heiraten, und empfahl ihm Mary Fielding.40 Sie war freundlich, gebildet und der Kirche stets treu. Sie würde Hyrum eine ausgezeichnete Gefährtin und seinen Kindern eine fürsorgliche Mutter sein.

Kurze Zeit später machte Hyrum Mary einen Antrag. Mary war sechsunddreißig und hatte schon mehr als einen Heiratsantrag bekommen, aber immer abgelehnt. Ihre Mutter hatte sie einmal davor gewarnt, jemals einen Witwer mit Kindern zu heiraten. Wenn sie Hyrums Antrag annahm, wäre sie im Nu Mutter von sechs Kindern.

Mary dachte über den Antrag nach und nahm ihn an. Sie mochte und bewunderte Familie Smith sehr, betrachtete Joseph als ihren Bruder und hatte große Achtung vor Hyrum, weil er ein so demütiger Mann war.41 Sie heirateten einen Tag vor Weihnachten.42


Viele Heilige waren erleichtert, dass Joseph wieder in Kirtland war, aber jede Hoffnung, er könne die Eintracht in der Kirche wiederherstellen, verflüchtigte sich rasch. Warren Parrish, Luke Johnson und John Boynton trafen sich wöchentlich mit Grandison Newell und anderen Feinden der Kirche, um die Erste Präsidentschaft anzuprangern. Ehemals standhafte Mitglieder wie Martin Harris schlossen sich ihnen bald an, und am Ende des Jahres hatten die führenden Abtrünnigen eine eigene Kirche gegründet.43

Kurz darauf schrieb Vilate Kimball ihrem Mann in England über den Zustand der Kirche in Ohio. Sie wusste, wie viel Luke Johnson und John Boynton, die ja mit ihm im Kollegium der Zwölf gewesen waren, Heber bedeuteten, und zögerte deshalb, ihm die furchtbaren Neuigkeiten zu berichten.44

„Ich bin sicher, es wird dir größten Kummer bereiten“, schrieb sie Heber. „Sie geben vor, an das Buch Mormon und das Buch Lehre und Bündnisse zu glauben, aber ihre Taten sprechen dagegen.“45

Am Ende des Briefes fügte Marinda Hyde noch ein paar Zeilen an ihren Mann Orson hinzu. Luke Johnson war Marindas älterer Bruder, und seine Abkehr vom Glauben brach ihr fast das Herz. „Solche Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, hast du in Kirtland nie gesehen“, schrieb sie, „es scheint, als ob jegliches gegenseitige Vertrauen verschwunden wäre.“ Sie müsse selbst wachen und beten, um in diesen gefährlichen Zeiten den rechten Weg beizubehalten.

„Falls ich dich jemals bei mir haben wollte, dann jetzt“, schrieb sie Orson.46

Nichts schien die Gefühle der Abtrünnigen zu besänftigen. Sie behaupteten, Joseph und Sidney hätten die Kirtland Safety Society heruntergewirtschaftet und die Heiligen betrogen. Warren war der Ansicht, ein Prophet müsse frommer sein als andere Menschen, und er führte den Niedergang der Safety Society als Beweis dafür an, dass Joseph diesem Anspruch nicht genüge.47

Nachdem der Hoherat in Kirtland monatelang vergeblich versucht hatte, eine Aussöhnung mit den führenden Abtrünnigen herbeizuführen, schloss er sie aus der Kirche aus. Daraufhin nahmen die Abtrünnigen den Tempel für ihre eigenen Kirchenversammlungen in Besitz und drohten, jeden aus Kirtland zu verjagen, der dem Propheten noch treu war.

Vilate war sich sicher, dass die Abtrünnigen, die sich von den Heiligen abwandten, im Unrecht waren, aber sie verspürte keinen Ärger, sondern hatte Mitleid mit ihnen. „Nach allem, was ich über diese abtrünnige Gruppe gesagt habe, gibt es doch einige unter ihnen, die ich von Herzen liebhabe“, schrieb sie Heber, „und ich empfinde großes Erbarmen für sie.“48 Sie wusste, dass der Zusammenbruch der Safety Society eine große Prüfung für sie gewesen war, geistig wie materiell. Auch sie war der Meinung, dass Joseph bei der Verwaltung dieser Einrichtung Fehler gemacht hatte, aber sie hatte ihren Glauben an den Propheten nicht verloren.

„Ich habe allen Grund zu glauben, dass Joseph sich vor dem Herrn gedemütigt und Umkehr geübt hat“, sagte sie Heber. Und sie vertraute darauf, dass die Kirche dem Sturm standhalten werde.

„Der Herr sagt, dass alle, die Züchtigung nicht ertragen wollen, sondern den Herrn leugnen, nicht geheiligt werden können“, schrieb sie. Das konnte bedeuten, dass sie in Kirtland ganz alleine Feindseligkeiten ausgesetzt war, während sie und die Kinder auf Hebers Rückkehr von Mission warteten. Oder, falls es noch schlimmer kam, konnte es bedeuten, dass sie ihr Haus zurücklassen und nach Missouri ziehen musste.

„Wenn wir fliehen müssen, werde ich fliehen“, schrieb sie Heber.49


Das neue Jahr brach heran, und die Abtrünnigen in Kirtland wurden immer verbitterter und aggressiver. Drohungen, der Pöbel werde Gewalt anwenden, hingen wie eine dunkle Wolke über der Kirche, und der Prophet war ständig wegen der Schulden der Kirche und ungerechtfertigter Klagen vor Gericht in Bedrängnis. Schon bald wurde Joseph von einem Sheriff mit Haftbefehl gesucht. Sollte Joseph gefangen genommen werden, standen ihm eine kostspielige Gerichtsverhandlung und möglicherweise eine Gefängnisstrafe bevor.50

Am 12. Januar 1838 bat der Prophet den Herrn um Hilfe und empfing eine Offenbarung. „Die Präsidentschaft meiner Kirche soll ihre Familie nehmen“, lautete die Anweisung des Herrn, „und weiter nach Westen ziehen, sobald der Weg klar vor ihnen liegt.“

Der Herr forderte zudem Josephs Freunde und deren Familien auf, sich in Missouri zu sammeln. „Habt Frieden untereinander, o ihr Einwohner Zions“, verkündete er, „oder es wird keine Sicherheit für euch geben.“51

Die Smiths und die Rigdons fingen sofort an, ihre Flucht zu planen. Joseph und Sidney sollten noch in derselben Nacht Kirtland heimlich verlassen, und ihre Familie sollte bald darauf mit Wagen folgen.

Spät am selben Abend, als die Dunkelheit über Kirtland hereingebrochen war, stiegen Joseph und Sidney aufs Pferd und ritten aus der Stadt.52 Bis zum Morgen ritten sie gen Süden und legten eine Strecke von fast einhundert Kilometern zurück. Als ihre Pferde erschöpft waren, hielten die Männer an, um auf ihre Frau und ihre Kinder zu warten.

Weder Joseph noch Sidney erwarteten, Kirtland je wiederzusehen. Als die Familien eintrafen, setzten sich die Männer zu ihren Angehörigen in den Wagen und machten sich auf den Weg nach Far West.53