2006
Kein gewöhnlicher Heimlehrer
April 2006


Kein gewöhnlicher Heimlehrer

„[Sorgt] für Waisen und Witwen …, wenn sie in Not sind.“ (Jakobus 1:27.)

Nach einer wahren Begebenheit

Am Samstag findet ein Vater-Tochter-Kochkurs statt“, kündigte Schwester Marshall an. In unserer PV-Gruppe war ein freudiges Murmeln zu hören. Wahrscheinlich dachte jedes Mädchen an einen leckeren Nachtisch, an lustige Spiele und zwei ganze Stunden mit seinem Vater. Jedes Mädchen, nur ich nicht. Ich hatte keinen Vater – nicht einmal einen, der mich ab und zu besuchte, wie es bei manchen Mädchen in der Schule der Fall war. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich spürte, dass ich rot wurde, und biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen.

Schwester Marshall hatte meine Reaktion wohl bemerkt. Nach der Versammlung legte sie mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Du darfst natürlich deine Mutti bringen, Tess.“ Sie meinte es gut, aber diese einfachen Worte waren zu viel. Ich begann zu weinen. Damit sie es nicht merkte, senkte ich den Kopf und drehte mich um.

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich zu mir selbst. „Du musst ja gar nicht zu diesem blöden Kochkurs gehen.“ Aber ich wusste, dass es eine Lüge war. Ich hätte alles dafür gegeben, zu einer Familie zu gehören, die keine besondere Anweisung von Schwester Marshall brauchte – eine Familie, wie die anderen sie hatten, die jeden Sonntag auf den Bänken in der Kapelle saßen. Aber mein Vater hatte meine Mutter verlassen, als ich noch ein Baby war. Wir hatten seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, und ich wusste, dass er wohl kaum wie durch Zauberei rechtzeitig für die Aktivität am Samstag wieder auftauchen würde.

„Vergiss es einfach!“, befahl ich mir mindestens zum hundertsten Mal seit unserer Taufe vor drei Jahren. Unsere Familie war sehr viel stärker, seit wir ein Zeugnis vom Plan des himmlischen Vaters hatten, und ich war dankbar für alles, was das Evangelium uns gegeben hatte. Trotzdem war es nicht leicht gewesen, in eine Gruppe Freundinnen hineinzukommen, die sich schon von klein auf kannten und viele Taufen, PV-Aktivitäten und Veranstaltungen in der Gemeinde miteinander erlebt hatten. Ich war das neue Mädchen, und obwohl die anderen sich Mühe gaben, dass ich mich willkommen fühlte, spürte ich doch, dass ich anders war. Manchmal fühlte ich mich wie ein Puzzle, bei dem ein Stück in der Mitte fehlt.

„Wie war der Unterricht?“, fragte Mutti fröhlich, als wir nach Hause fuhren. Sie war seit unserer Taufe ein anderer Mensch, viel glücklicher und selbstbewusster.

„Toll“, schwindelte ich. Ich wollte sie mit dem Kochkurs nicht beunruhigen. Sie konnte ja sowieso nichts daran ändern.

Die Woche ging schnell vorbei. Ich war mit Schulaufgaben, Freunden und damit beschäftigt, im Haushalt zu helfen, und ich vergaß den Kochkurs am Samstag. Bis am Freitagabend das Telefon klingelte.

„Es ist für dich“, sagte meine Schwester und gab mir den Hörer.

„Hallo?“

„Hallo, Tess. Hier spricht Bruder Erickson.“ Bruder Erickson war unser Heimlehrer. Er besaß eine Eisdiele in der Stadt und brachte uns manchmal eine große Portion leckeres Eis. Mit seinen zwinkernden Augen und seinem fröhlichen Lächeln brachte er mich oft zum Lachen. Aber ich hatte keine Ahnung, warum er mich anrief.

Fröhlich sagte er: „Ich wollte fragen, ob ich morgen mit dir zu dem Kochkurs gehen darf.“

Ich hielt den Atem an und warf einen kurzen Blick in die Küche, wo meine Mutter das Geschirr abwusch. Ihre Arme waren voller Schaum, das sah lustig aus. „Sie kann es ihm nicht gesagt haben“, dachte ich. „Sie wusste es ja gar nicht.“ Ich fragte mich, ob Schwester Marshall ihn angerufen hatte.

„Ich habe es letzten Sonntag in den Gemeindenachrichten gelesen“, fuhr er fort. „Das macht bestimmt Spaß.“

„Ach ja, die Gemeindenachrichten.“

„Also was ist? Meinst du, du kannst beim Kochkurs einen alten Mann wie mich ertragen?“

„Sie müssen nicht –“, begann ich.

„Ich möchte aber!“ Dann schwieg er einen Moment. „Bitte.“

„Also gut.“ Um ehrlich zu sein: Ich war mir nicht ganz sicher, ob das wirklich in Ordnung war. So gut kannte ich ihn ja nun auch nicht. Aber ich freute mich jetzt auf den Kochkurs, und die Zweifel verflogen.

Am Samstag brachte mich meine Mutter zur Kirche. Bruder Erickson wartete in einer leuchtend roten Schürze auf mich. Sein Lächeln zerstreute meine Sorgen, und wir gingen zu den anderen Vätern und Töchtern. Wir hatten großen Spaß. Wir backten Kirschkuchen und machten Schlagsahne in der überfüllten Gemeindehausküche. Nicht ein einziges Mal gab er mir das Gefühl, dass er mir lediglich einen Gefallen tat oder nur seine Berufung erfüllte.

Als Mutti mich abholte, gratulierte mir Bruder Erickson zu unserem Erfolg. „Danke, dass ich kommen durfte. Das hat großen Spaß gemacht!“ Ich wusste, dass er es ernst meinte.

Die Jahre vergingen, und Bruder Erickson blieb unser Heimlehrer. Er besuchte uns nicht nur, sondern lud meine Familie auch oft zu einem Spieleabend bei sich zu Hause ein. Er ging mit mir noch zu mehreren Vater-Tochter-Aktivitäten und gab mir, als ich 16 wurde, meinen ersten Job in seiner Eisdiele.

Nach dem College, als ich im Los-Angeles-Tempel heiratete, bat ich Bruder Erickson, Zeuge zu sein. Als ich in den Siegelungsraum kam, saß er auf dem Stuhl, der üblicherweise für den Vater der Braut reserviert ist. Er grinste mich fröhlich an, und ich wusste, dass er genau am richtigen Platz saß. Schließlich war er kein gewöhnlicher Heimlehrer. Er war ein sehr guter Freund geworden.

Tess Hilmo gehört zur Gemeinde Highland 4, Pfahl Highland in Utah.

„[Das Priestertum kann] allen Mitgliedern zum Segen gereichen – durch das Wirken der Heimlehrer.“

Präsident James E. Faust, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, „Vater, komm nach Hause“, Der Stern, Juli 1993, Seite 34.