2008
Das geistige Element der Heilung
Juni 2008


Das geistige Element der Heilung

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Elder Alexander B. Morrison

Der Bericht in den heiligen Schriften über das Leben und die Lehren Jesu enthält eine Fülle von Schilderungen seiner unvergleichlichen Macht, Menschen von Bedrängnissen aller Art zu heilen. In den Evangelien ist von mehr als zwanzig Begebenheiten die Rede, da Jesus die Kranken heilte: vom Sohn des königlichen Beamten in Kafarnaum (siehe Johannes 4:46-53) bis hin zum verletzten Ohr von Malchus, dem Diener des Hohen Priesters (siehe Lukas 22:50,51; Johannes 18:10).

Die heilende Macht Christi vermochte mehr, als nur diejenigen gesund zu machen, die an körperlichen Krankheiten litten. Sie bezwang „alle Krankheiten und Leiden [im Volk]“ (siehe Matthäus 4:23; Hervorhebung hinzugefügt; siehe auch Mosia 3:5; 3 Nephi 17:5-10). Jesus heilte in seinem grenzenlosen Mitgefühl nicht nur Menschen, die körperlich litten, sondern auch diejenigen, die mental oder emotional erkrankt waren.

Solche Heilungen sind ein wesentlicher Bestandteil des Sühnopfers Jesu Christi. Es ist so machtvoll, so allumfassend gültig und wirksam, dass es nicht nur den Preis für die Sünde zahlt, sondern auch jedes irdische Leid heilen kann. Er, der Schmerzen und Bedrängnisse jeder Art litt, damit er genau wisse, wie er seinem Volk beistehen könne (siehe Alma 7:11,12), der die unvorstellbare Last der Sünden aller trug, die der Familie Adams angehören (siehe 2 Nephi 9:21), lässt ebenso seine heilende Macht jedem zukommen, woher sein Leid auch rühren mag. „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53:5.)

Die Rolle des Priestertums

Der Erlöser konnte durch seine göttliche Macht jeden heilen, aber der sterbliche Mensch, der die Vollmacht des heiligen Melchisedekischen Priestertums ausübt, untersteht seinem Willen. Manchmal kann er denjenigen, dem er einen Segen gibt, nicht heilen, weil Gott etwas anderes vorhat. Zum Beispiel flehte der Apostel Paulus den Herrn dreimal an, den nicht näher erklärten „Stachel im Fleisch“, der ihn peinigte, zu entfernen (siehe 2 Korinther 12:7,8). Aber der Herr verwehrte ihm das und erklärte: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“ (2 Korinther 12:9.) Paulus verstand besser als viele andere, dass sowohl Drangsal als auch Leid im Leben nötig und unvermeidlich sind.

Präsident Spencer W. Kimball (1895–1985) erkannte, wie weise es ist, dass der heilenden Macht eines Priestertumsträgers Grenzen gesetzt sind. Er sagte: „Die Macht des Priestertums ist grenzenlos, doch erlegt Gott in seiner Weisheit jedem von uns gewisse Beschränkungen auf. … Ich bin dankbar dafür, dass ich auch mit dem Priestertum nicht alle Kranken heilen kann. Vielleicht würde ich dann Menschen heilen, die eigentlich sterben sollen. … Ich fürchte, dann könnte ich Gottes Absichten durchkreuzen.“1

Vor vielen Jahren wurde ich als junger, unerfahrener Zweigpräsident von einem Mitglied des Zweiges gebeten, gemeinsam mit ihm seiner schwerkranken Frau einen Segen zu geben. Der Mann wollte offensichtlich, dass sie durch meinen Segen wieder völlig gesund würde. Das entsprach genau meiner Absicht, denn beide Eheleute waren eine große Stütze für unseren kleinen Zweig.

Der Mann salbte seine Frau auf die vorgeschriebene Weise mit geweihtem Öl, und ich siegelte anschließend die Salbung (siehe Jakobus 5:14). Zu meinem Erstaunen hörte ich mich etwas sagen, was ich nicht vorgehabt hatte: Die Frau war „für den Tod bestimmt“ (LuB 42:48). Sie sollte nicht von ihrer Krankheit genesen, sondern friedlich einschlafen, geborgen in den liebevollen Armen des Erretters.

Die Frau starb am folgenden Tag. Als ich bei ihrer Beerdigung den Vorsitz führte, war ich voll Trauer, aber auch um eine Erfahrung reicher. Ich hatte etwas sehr Wichtiges gelernt: Wenn wir Kranke segnen, müssen wir uns von dem Gedanken „nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen“ (Lukas 22:42) leiten lassen.

Die göttliche Gabe der Heilung zeigt sich also auf unterschiedliche Weise, darauf abgestimmt, was der jeweilige Kranke braucht. Dafür sorgt der Herr, der die Kranken am besten kennt, weil er sie am meisten liebt. Manchen wird durch die heilende Macht Christi die schwere Last des Leidens ganz vom Herzen genommen, indem eine Fehlfunktion ihres Körpers auf Dauer und vollständig geheilt wird. Andererseits kann es auch sein, dass Menschen, denen ihr Leid oft unerträglich erscheint, den ersehnten Frieden, die Ruhe und die Erleichterung nicht dadurch finden, dass sie in medizinischer Hinsicht geheilt werden, sondern indem sie stärker, verständnisvoller, geduldiger und mitfühlender werden und dadurch ihre Last leichter tragen können. Wie Alma und seine Brüder können sie dann „ihre Lasten mühelos tragen“ und unterwerfen „sich frohgemut und mit Geduld in allem dem Willen des Herrn“ (Mosia 24:15).

Die Rolle der Medizin

Wir dürfen nicht glauben, dass alle, die an Krankheiten unterschiedlichster Ursachen leiden, nur einen Priestertumssegen bekommen müssen, um von ihrer Last befreit zu werden, vielleicht sogar auf Dauer. Ich bin durchaus ein großer Verfechter von Priestertumssegen. Ich weiß durch vieles, was ich selbst erlebt habe, dass der kostbare „Balsam in Gilead“ (Jeremia 8:22), der für eine endgültige und völlige Heilung erforderlich ist, Jesus Christus gehört, und zwar nur ihm allein. Aber ich weiß auch, dass wir mit Gottes Hilfe großartige Erkenntnisse gewonnen haben, die außerordentlich hilfreich dabei sein können, mit Leid umzugehen. Ich denke, wir müssen solche gottgegebenen Informationen in jeder Hinsicht nutzen.

Manche Kranke, die einen Priestertumssegen bekommen und inständig darum gebetet haben, dass ihre Last leichter wird, mögen das Gefühl haben, dass sie viel zu kleingläubig sind, wenn sie wegen ihrer Krankheit bei Fachleuten Hilfe suchen. Möglicherweise nehmen sie sogar ärztlich verordnete Medikamente nicht mehr ein, weil sie irrtümlich meinen, ihr Glaube mache sie unnötig. Eine solche Denkweise ist schlichtweg falsch. Professionellen Rat einzuholen und zu befolgen und dabei Glauben auszuüben, das steht nicht in Konflikt miteinander. Im Gegenteil – unter Umständen muss man sogar den Rat erfahrener medizinischer Fachleute befolgen, um Glauben auszuüben.

Umsichtigen Medizinern und Therapeuten, die fundiert ausgebildet sind, wird zunehmend klar, dass Spiritualität ein bedeutendes Element ihrer therapeutischen Möglichkeiten ist. Vor gerade einmal zehn Jahren boten in den Vereinigten Staaten nur sehr wenige medizinische Fakultäten Kurse über Spiritualität und Heilung an, heute dagegen mehr als die Hälfte von ihnen. Es gibt Hinweise darauf, dass ein spiritueller Ansatz bei der Psychotherapie, beispielsweise bei der Behandlung von Depressionen, insbesondere bei sehr religiösen Patienten mindestens genauso wirksam ist wie ein rein weltlicher Ansatz. Immer mehr Ärzte und Psychotherapeuten setzen heutzutage Methoden mit dieser spirituellen Ausrichtung zur Behandlung von Patienten mit körperlichen und auch psychischen Erkrankungen ein.

Die Rolle des Glaubens

Wer geheilt werden möchte, muss dazu unbedingt Glauben haben (siehe 2 Nephi 26:13; Mosia 8:18; LuB 35:9). Glaube, das „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebräer 11:1), ist eine Gabe des Geistes, die man als Lohn für Rechtschaffenheit erhält (siehe 1 Korinther 12:9; LuB 46:19,20). Ohne Glauben kann das Wunder der Heilung nicht geschehen. „Denn wenn es unter den Menschenkindern keinen Glauben gibt, kann Gott keine Wundertaten unter ihnen wirken; darum zeigte er sich erst, nachdem sie Glauben hatten.“ (Ether 12:12.)

Um völlig geheilt zu werden, auch in geistiger Hinsicht, müssen wir auch verstehen, dass wir Gottes Kinder sind, und in welchem Verhältnis wir zu ihm stehen. In den heiligen Schriften steht, und neuzeitliche Propheten bestätigen das, dass der Mensch aus einem vergänglichen Körper und einem ewigen Geist besteht, und dass beides zusammen die lebendige Seele bildet. Der große Plan des Glücklichseins lehrt uns, dass Körper und Geist im Tod, der auf jeden Menschen zukommt, zwar getrennt, danach aber wieder vereint werden, wenn der Herr die Zeit dafür gekommen sieht. „Und alle Menschen werden unverweslich und unsterblich, und sie … [werden] lebendige Seelen und … [werden] vollkommene Erkenntnis [haben].“ (2 Nephi 9:13; siehe auch Alma 11:42-45).

Wenn wir an einen liebevollen himmlischen Vater glauben und an seinen Sohn, unseren Erlöser, finden wir Frieden im Leben, wenn wir gleichzeitig wissen, dass wir buchstäblich Kinder Gottes sind und uns bemühen können, so zu werden wie er, und wenn wir erkennen, dass seine Liebe für uns immerwährend und beständig ist. Dieser Friede ist von Dauer, selbst wenn die medizinische, psychologische oder soziale Dimension der Krankheit – ob diese nun ursprünglich physisch oder psychisch war – als „Stachel im Fleisch“ bestehen bleibt.

Die Rolle des Leids

Ich glaube, dass unsere geistige Kraft direkt davon abhängt, wie sehr unsere Seele beansprucht wird. Aber wir dürfen weder darauf aus sein, zu leiden, noch über Drangsal jubeln. Leid an sich hat keinen Eigenwert. Leid kann die Seele genauso gut verletzen und verbittern, wie es sie stärken und reinigen kann. Manch eine Seele wird durch Leid stärker, aber eine andere kann daran zerbrechen. Die Schriftstellerin Anne Morrow Lindbergh sagte voll Weisheit: „Wenn Leid allein lehrreich wäre, wäre alle Welt weise, da ja jeder leidet.“2 Wenn wir „Gemeinschaft mit [Christi] Leiden“ haben wollen (siehe Philipper 3:10) müssen wir den Preis dafür zahlen, indem wir von ganzem Herzen danach trachten, ihn zu kennen und ihm nachzueifern. Zu diesem Preis mag Leid gehören, aber hinzukommen müssen Mitgefühl, Empathie, Geduld, Demut und die Bereitschaft, unseren Willen dem Willen Gottes unterzuordnen.

Wie Christus auf wundersame Weise seine Liebe für alle Menschen zeigt, macht denjenigen Hoffnung und Mut, die an den unterschiedlichsten Krankheiten leiden. Seine Liebe ist allgegenwärtig und immer treu. Paulus bezeugte:

„Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? …

Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten

der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Römer 8:35,38,39.)

Jesus, dessen Liebe und Mitgefühl grenzenlos sind, kennt unsere Prüfungen und unseren Kummer, denn er „[gedenkt] eines jeden Volkes …, in welchem Land auch immer sie sein mögen; ja, er zählt sein Volk, und sein herzliches Erbarmen ist über der ganzen Erde“ (siehe Alma 26:37).

Anmerkungen

  1. Lehren der Präsidenten der Kirche: Spencer W. Kimball, Seite 19

  2. „Lindbergh Nightmare“, Time, 5. Februar 1973, Seite 35