2011
Betrachtungen
August 2011


Betrachtungen

„Ich vertraue auf Gott.“ (Psalm 56:5)

Ich hängte meine Schultasche in den Schrank und sah mein Spiegelbild in dem großen Spiegel an der Tür. Ich hielt inne und betrachtete den lockeren Pferdeschwanz, mein zerknittertes T-Shirt und meine ausgeleierten Socken. Mir kam in den Sinn, was meine PV-Lehrerin gesagt hatte: „Du bist eine ganz besondere Tochter unseres Vaters im Himmel. Er hält für deine Zukunft viele Segnungen bereit.“

Ich lehnte mich weiter vor und starrte in den Spiegel. Könnte ich doch nur meine Zukunft sehen! Wie werde ich mit 12 oder mit 22 sein? Werde ich hübsch sein? Werde ich klug sein? Werde ich im Tempel heiraten? Werde ich niedliche Kinder haben? Das waren meine Träume, aber waren es auch die Segnungen, die Gott für mich bereithielt?

„Was schaust du denn an?“, fragte Mama sanft.

Im Spiegel sah ich, dass meine Mutter hinter mir in der Tür zum Flur stand.

„Mich“, antwortete ich. „Das bin nur ich im Spiegel.“

Mama kam zu mir und schaute mir über die Schulter. „‚Nur du‘, das ist aber jemand ganz Besonderes“, meinte sie.

„Das hat auch meine PV-Lehrerin gesagt. Sie hat gesagt, der Vater im Himmel halte viele Segnungen für mich bereit. Was erwartet mich im Leben?“

„Komm in mein Zimmer. Ich will dir etwas zeigen“, sagte Mama.

In ihrem Schlafzimmer öffnete Mama eine kleine Schachtel und holte einen silbernen Handspiegel hervor.

„Ist der schön!“, rief ich aus und fuhr mit den Fingern über den Buchstaben B, der auf der Rückseite eingraviert war.

„Er gehörte meiner Großmutter“, erklärte Mama. „Wenn ich den Spiegel poliere, versuche ich mir vorzustellen, was Oma Beatrice gesehen hat, wenn sie hineingeschaut hat. Vielleicht hat sie am Anfang ein junges Mädchen gesehen, eines wie du, das von seiner Zukunft träumt.

Ich kann mir vorstellen, dass sie sah, wie ihre Augen vor Freude strahlten, als sie vor ihrer Taufe ihre langen Zöpfe betrachtete. Weißt du, dass sie sich erst mit achtzehn taufen lassen konnte?“

Ich schüttelte den Kopf: „Nein.“

„Nachdem sie Opa geheiratet hatte, bekamen sie ein kleines Mädchen. Es lebte nur zwei Tage. Sicher waren ihre Augen vom Weinen ganz verquollen, wenn sie in den Spiegel blickte.

Viele Jahre später sah sie sicher ihr Gesicht vor Freude strahlen, als sie sich bereit machte, in den Tempel zu gehen, um an ihren Mann und an ihre drei Kinder gesiegelt zu werden.

Als sie dann älter war, hat sie vielleicht in den Spiegel geschaut, um ihren Hut zurechtzurücken, bevor sie zu einer FHV-Versammlung ging.

Und schließlich, als Witwe mit grauem Haar, hat sie vielleicht die tapfere Entschlossenheit in ihren Augen gesehen, als sie viele Jahre lang allein lebte, aber bis ans Ende treu blieb.“

„Hat der Vater im Himmel Uroma gesegnet?“, fragte ich.

„Ja, ganz bestimmt“, antwortete Mama.

„War Uroma zufrieden mit ihrem Leben?“

„Ja. Es verlief nicht genau so, wie sie es geplant hatte. Sie erlebte manch schwere Zeit, aber sie vertraute auf Gott, und ihre Erfahrungen haben ihr geholfen, ihm ähnlicher zu werden.“

„Wahrscheinlich brauche ich die Zukunft gar nicht zu sehen“, sagte ich und legte den silbernen Spiegel behutsam zurück in die Schachtel. „Ich vertraue einfach auf den Vater im Himmel und folge ihm.“

„Ich bin sicher, dass Gott ein wunderbares Leben für dich bereithält“, meinte Mama. „Wenn du ihm folgst, wird das Gesicht, das du am Ende im Spiegel siehst, sein Antlitz widerspiegeln. Dann ist wirklich ein Traum wahr geworden.“

Illustration von Dilleen Marsh