2016
Nähunterricht und eine zweite Chance
September 2016


Nähunterricht und eine zweite Chance

Die Verfasserin lebt in Salta in Argentinien.

Ich hatte die Gelegenheit verpasst, meiner Klavierlehrerin vom Evangelium zu erzählen. Konnte ich das nächste Mal besser auf die Eingebung des Geistes hören?

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sewing classes and a second chance

Als ich 18 war, zog ich mit meiner Familie vom Süden in den Norden Argentiniens, wo mein Vater seine Berufung als Missionspräsident erfüllte. Während der ersten paar Monate fiel uns allen die Eingewöhnung recht schwer. Wir hatten noch keine Freunde gefunden, daher schauten wir uns nach Beschäftigungen um, bei denen wir Kontakte knüpfen konnten. Ich meldete mich zum Klavierunterricht an.

Meine Klavierlehrerin Mabel war die beste Lehrerin, die ich je gehabt hatte. Der Unterricht machte mir großen Spaß und mein Klavierspiel wurde schnell besser. Doch Mabel war an Krebs erkrankt, was ihr sehr zu schaffen machte. Sie war ständig unterwegs und suchte hie und da Heiler, Ärzte und Priester auf. Einige Male musste sie ins Krankenhaus, aber sie erholte sich jedes Mal und unterrichtete dann mit derselben guten Laune und Hingabe weiter.

Tag um Tag wollte ich ihr bei der Klavierstunde von der Hoffnung erzählen, die wir durch Gottes Plan empfangen, von der Hoffnung, die Jesus Christus uns durch seine Macht schenkt, aber ich wusste nicht, wie.

Als nach den Sommerferien der Unterricht erneut begann, war Mabel wieder krank. Nachdem ich eine Weile nichts von ihr gehört hatte, rief ich bei ihr an. Da niemand abnahm, hinterließ eine Nachricht und fragte, wie es ihr gehe. Am Tag darauf erzählte mir ihre Tochter, dass Mabel gestorben war. Tiefe Trauer überkam mich. Ich wusste, dass ich ihr vom Evangelium hätte erzählen sollen. Doch ich hatte es so lange aufgeschoben, bis die Gelegenheit verstrichen war.

Ich fing an, Nähunterricht zu nehmen, und hatte wieder eine ganz tolle Lehrerin. Sie glaubte an Gott, gehörte aber einer anderen Religion an. Während einer Unterrichtsstunde kamen wir auf das Evangelium zu sprechen, und sie fragte mich, welcher Religion ich angehörte. Ich antwortete, dass ich Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sei. Der Name der Kirche sagte ihr nichts, und ich fügte hinzu: „Viele kennen uns auch als Mormonen.“ Sofort war ihre Begeisterung geweckt. „Ich finde die Mormonen klasse!“, rief sie lächelnd aus.

„Ich kann sehen, dass du Mormonin bist“, erklärte sie und zählte ein paar Gründe dafür auf. Ich war glücklich, dass ihr aufgefallen war, wie ich mich bemühte, nach dem Evangelium zu leben. Sie stellte mir einige Fragen über die Taufe in der Kirche. Als ich ihr diese heilige Handlung erklärte, sagte sie gleich: „Ich kann nicht in deiner Kirche getauft werden, weil ich in einer anderen Religion erzogen worden bin.“ Dann erzählte sie mir von ihrem Glauben, und ich merkte, wie viel wir gemeinsam hatten. Ich hatte das ruhige, aber bestimmte Gefühl, ich solle ihr ein Buch Mormon schenken. Ich wusste, dass dies eine Eingebung des Geistes war.

Ich besorgte ein Buch Mormon und schrieb auf einen Zettel eine kurze, aber von Herzen kommende Widmung. Auf der Rückseite notierte ich meine Telefonnummer für den Fall, dass sie Fragen hatte. Ich legte den Zettel in das Buch, wickelte es in Geschenkpapier und band eine Schleife darum. Dann gab ich es ihr in der nächsten Unterrichtsstunde. Sie freute sich sehr darüber und bedankte sich bei mir.

Die ganze Woche über fragte ich mich, was sie wohl beim Auspacken des Geschenks gedacht und ob es ihr gefallen hatte. Zur nächsten Unterrichtsstunde kam ich etwas zu spät. Ich war ganz überrascht von ihrer Reaktion, als ich den Raum betrat. Sie umarmte mich und sagte begeistert: „Ich habe mich unglaublich über dein Geschenk gefreut! Das Buch, das du mir geschenkt hast, ist großartig, und zwar schon ab der Einleitung, wo über die Platten berichtet wird. Es ist einfach wahr! Es sind großartige Schriftstellen darin. Ich habe angefangen, es zu lesen, und bin bereits halb durch. Ich kann es einfach nicht weglegen!“

Die anderen in der Klasse schauten zu uns herüber, als sie ihre Begeisterung mitbekamen, und wollten wissen, was los ist. Eine Klassenkameradin, mit der ich über das Buch Mormon gesprochen hatte, fragte, ob man durch dieses Buch Frieden verspüren könne. Meine Lehrerin antwortete: „Es hat mich zum Weinen gebracht, und zwar nicht, weil ich traurig gewesen wäre, sondern weil ich mich so gesegnet fühlte.“ Sie konnte einfach nicht aufhören, zu lächeln und mich zu umarmen.

Ich war sehr glücklich. In dem Moment wurde mir klar, dass wir nicht beurteilen können, wer bereit ist, das Wort Gottes zu empfangen. Wir können nicht wissen, wie es im Innersten eines Menschen aussieht. Wenn Gott uns eingibt, jemandem vom Evangelium zu erzählen, dann müssen wir handeln, denn er weiß es besser als wir.