2007
Die Wurzel der christlichen Lehre
August 2007


Die Wurzel der christlichen Lehre

Präsident Gordon B. Hinckley hat gesagt, dass wir uns mehr anstrengen müssen, damit das Evangelium uns und allen, die wir lieben und denen wir dienen, noch tiefer ins Herz dringt. Ich glaube, eine Möglichkeit, Präsident Hinckleys Aufforderung nachzukommen, ist, sich intensiv mit dem Sühnopfer Jesu Christi zu befassen.

Vor einigen Jahren hat Präsident Boyd K. Packer, Amtierender Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, über die Barmherzigkeit gesprochen, die der Mittler Jesus Christus uns anbietet: „Dies ist die Wurzel jeglicher Lehre des Christentums. Man kann noch so viel über das Evangelium wissen, das sich von dieser Wurzel aus verzweigt – wenn man aber nur die Zweige kennt und diese Zweige nicht die Wurzel berühren und von dieser Wahrheit abgeschnitten sind, dann haben sie weder Leben noch Inhalt noch Erlösung in sich.“1

Ich möchte drei Anregungen vorstellen, wie wir uns mit dieser Wurzel verbinden können, damit das Evangelium uns und allen, denen wir dienen, noch tiefer ins Herz dringt.

Von den Symbolen für sein Leid nehmen

Beim Tempelinterview werden wir gefragt: „Haben Sie ein Zeugnis vom Sühnopfer Jesu Christi und von seiner Rolle als Erretter und Erlöser?“ Aus meiner Erfahrung als Bischof und Pfahlpräsident kann ich erfreulicherweise berichten, dass ich auf diese Frage immer ein Ja zu hören bekam. Doch ich habe schon lange die Befürchtung, dass wir diese Frage nicht vollständig erfassen. Ich glaube, es ist bedeutsam, dass wir nur über Jesu Rolle als Erretter und Erlöser befragt werden, dabei hat er doch sehr viele Rollen gehabt. Diese beiden Aufgaben müssen eine besonders wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem Tempel spielen – dem Ort, wo er uns durch Bündnisse an sich bindet.

Als Pfahlpräsident fragte ich mich, ob die Mitglieder im Pfahl „ein Zeugnis vom Sühnopfer Jesu Christi und von seiner Rolle als Erretter und Erlöser“ hatten. Ich hatte den Eindruck, dass die meisten Jesus liebten – das bedeutet einiges –, aber ich fürchtete, dass nicht genügend Mitglieder ihn als ihren Erretter (einer, der sie gerettet hat) und ihren Erlöser (einer, der sie erkauft hat) kannten. Als ich mir darüber Gedanken machte, las ich eines Tages 3 Nephi 11, und mir fiel einiges auf, was ich zuvor noch nie entdeckt hatte.

Die Menschen, über die wir in diesem Kapitel lesen, waren der rechtschaffene Überrest, diejenigen, die auf die Warnungen der Propheten gehört hatten. Sie waren darauf vorbereitet, dem Herrn zu begegnen. Als der auferstandene Herr ihnen erschien, „streckte [er] seine Hand aus“ und zeigte seine Wundmale – das Symbol und den Beweis für sein Opfer. Dann „sprach [er] zum Volk, nämlich: Siehe, ich bin Jesus Christus, von dem die Propheten bezeugt haben, er werde in die Welt kommen.“ (3 Nephi 11:9,10.)

Als Nächstes sagte er: „Ich bin das Licht und das Leben der Welt; und ich habe aus jenem bitteren Kelch getrunken, den der Vater mir gegeben hat, und habe den Vater verherrlicht, indem ich die Sünden der Welt auf mich genommen habe; und darin habe ich den Willen des Vaters in allem von Anfang an gelitten.“ (3 Nephi 11:11.)

Das war seine Botschaft. Er ist der Gesalbte, von dem die Propheten Zeugnis gegeben haben. Er ist der Schöpfer der Welt. Er hat für uns gelitten.

Achten Sie darauf, wie die Menschen reagierten: „Als Jesus diese Worte gesprochen hatte, fiel die ganze Menge zur Erde; denn sie erinnerten sich, dass es unter ihnen prophezeit worden war, Christus werde sich ihnen nach seiner Auffahrt in den Himmel zeigen.“ (3 Nephi 11:12.)

Was dann geschah, ist für mich der heiligste Teil dieser Begebenheit. Jesus forderte sie auf, einer nach dem anderen zu ihm zu kommen und etwas Schwieriges zu tun: „Erhebt euch, und kommt her zu mir, dass ihr eure Hände in meine Seite legen und auch, dass ihr die Nägelmale in meinen Händen und in meinen Füßen fühlen könnt, damit ihr wisst, dass ich der Gott Israels und der Gott der ganzen Erde bin und für die Sünden der Welt getötet worden bin.“ (3 Nephi 11:14.)

Diese Menschen konnten die Symbole für sein Leiden mit ihren eigenen Händen berühren. „Die Menge ging hin und legte ihre Hände in seine Seite und fühlte die Nägelmale in seinen Händen und in seinen Füßen; und dies taten sie und gingen einer nach dem anderen hin, bis sie alle hingegangen waren“ (3 Nephi 11:15) – alle 2500 Menschen.

Beachten Sie, was als Nächstes geschah:

„Und als sie alle hingegangen waren und sich selbst überzeugt hatten, riefen sie einmütig aus, nämlich:

Hosanna! Gesegnet sei der Name des allerhöchsten Gottes! Und sie fielen nieder zu Jesu Füßen und beteten ihn an.“ (3 Nephi 11:16,17.)

Als diese Menschen zum zweiten Mal vor Jesus niederfielen, „beteten [sie] ihn an“. Als sie das erste Mal niederfielen, hatte das vielleicht andere Gründe: Angst, Ehrfurcht, weil alle anderen es taten. Doch beim zweiten Mal fielen sie nieder, um ihn anzubeten. Warum reagierten sie anders? Beim zweiten Mal riefen sie einmütig „Hosanna!“, was bedeutet „Rette uns jetzt!“ Warum riefen diese Menschen zu Jesus und baten ihn, sie jetzt zu retten?

Ich möchte Ihnen eine mögliche Antwort vorstellen. Sie waren zwar gehorsam, aber vielleicht hatten sie ihn noch nicht als ihren Erretter kennengelernt, weil sie nicht das Gefühl hatten, sie müssten gerettet werden. Ihr Leben lang hatten sie gute Werke verrichtet. Sie kannten Jesus als Gott und als Vorbild. Aber vielleicht kannten sie ihn noch nicht als Erretter. Sie haben nicht gebetet: „Wir danken dir, dass du uns in der Vergangenheit gerettet hast und uns durch deine Gegenwart heute daran erinnerst.“ Nein, das Gebet war ein Flehen in diesem Augenblick: „Hosanna!“ oder „Rette uns jetzt!“ Daraus leite ich ab, dass sie ihn gerade als ihren Erretter kennenlernten.

Was hat sie von guten, gehorsamen Menschen in gute, gehorsame Menschen verwandelt, die jetzt Jesus Christus als ihren Erretter kannten? Was hat sie dazu gebracht, vor ihm niederzufallen und ihn anzubeten? Sie hatten die Symbole für sein Leiden mit ihren eigenen Händen berührt.

Das brauchten die Mitglieder unseres Pfahles, damit sie Jesus als ihren Erretter und Erlöser kennenlernen konnten: Sie mussten die Symbole für sein Leiden mit ihren eigenen Händen berühren. Aber wie sollte das gehen? Dann kam es mir auf einmal in den Sinn: Wir erleben das jeden Sonntag, wenn wir das Abendmahl nehmen. Wir essen das Brot, ein Symbol für seinen getöteten Leib. Wir trinken das Wasser, ein Symbol für sein vergossenes Blut. Dies sind eindrucksvolle Symbole, die in uns tiefe Dankbarkeit und Ehrfurcht wecken sollen.

Ich glaube, wenn wir vom Abendmahl nehmen, rufen wir im Herzen zu Jesus: „Rette uns jetzt!“, und wir möchten am liebsten niederfallen und ihn anbeten.

Über sein Opfer nachdenken

Wenn das Evangelium uns und denjenigen, denen wir dienen, tief ins Herz dringen soll, müssen auch wir die Ereignisse, die das Sühnopfer Jesu Christi ausmachen, bis ins Einzelne kennenlernen, sie nachempfinden und Einsicht gewinnen. In Lehre und Bündnisse 19 gibt uns der Herr einen eingehenden Bericht aus erster Hand über das Leid, das er ertragen hat:

„Denn siehe, ich, Gott, habe das für alle gelitten, damit sie nicht leiden müssen, sofern sie umkehren; …

Dieses Leiden ließ mich, selbst Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern und aus jeder Pore bluten und an Leib und Geist leiden – und ich wollte den bitteren Kelch nicht trinken und zurückschrecken.“ (Vers 16,18.)

Was für einen Gott beten wir an? Einen Gott, der möchte, dass wir wissen, dass seine Liebe für uns unbegrenzt und ewig ist. Ein Gott, der möchte, dass wir wissen, dass seine Liebe für uns ihm die Kraft gegeben hat, für uns zu leiden. Dieses Wissen sollte doch ausreichen, uns dazu zu bewegen, dass wir uns ihm gehorsam und dankbar unterwerfen.

Vor einiger Zeit hörte ich zufällig eine hitzige Diskussion zwischen zwei Personen über ein Kunstwerk, in dem das Leiden Christi realistisch dargestellt wurde. Einer der beiden lehnte das Werk ab und sagte: „Ich will nicht darüber nachdenken müssen, wie sehr Christus gelitten hat.“ Ich finde, das ist eine merkwürdige Äußerung, denn ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns das Recht hat, sich zu weigern, über sein Leiden nachzudenken, auch wenn wir es nicht vollständig erfassen können.

Ehe Moroni seinen Bericht im Buch Mormon mit der Aufforderung „Kommt zu Christus“ (Moroni 10:32) schloss, schrieb er uns noch einen Brief von seinem Vater ab. Der Brief muss ihn sehr beeindruckt haben, und ich vermute, er hoffte, dass er auch uns beeindrucken würde: „Mein Sohn, sei in Christus treu; und möge das, was ich geschrieben habe, dich nicht so bekümmern, dass es dich zu Tode bedrückt; sondern möge Christus dich erheben und mögen seine Leiden und sein Tod und dass er unseren Vätern seinen Leib gezeigt hat, und seine Barmherzigkeit und Langmut und die Hoffnung auf seine Herrlichkeit und auf ewiges Leben immerdar in deinem Sinn verbleiben.“ (Moroni 9:25.)

Zu dem, woran wir ständig denken sollen, gehören „seine Leiden und sein Tod“. Wir dürfen uns nicht weigern, über den Preis nachzudenken, den er für unsere Seele gezahlt hat. Unsere Kirchenlieder erinnern uns daran:

O sieh seine blutende Hand, wie sie zahlt die Schuld,

könnt je ich vergessen die Liebe und solche Huld?2

Lass, o Herr, uns nie vergessen,

was du einst gelitten hast.3

Losgekaufter, denk an mich,

denk, was einst geschah für dich.

Blut vergoss ich voller Schmerz,

Qualen litt mein wundes Herz,

dass das Wort erfüllet sei:

Durch mein Opfer wirst du frei.4

Vor kurzem las ich in der Abendmahlsversammlung eine bekannte Schriftstelle mit, die der Sprecher vorlas: „Denkt daran, die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes.“ (LuB 18:10.) Dann wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Gedanken im folgenden Vers gelenkt, der mir zuvor noch nie so aufgefallen war. Um zu unterstreichen, wie wertvoll unsere Seele ist, hat der Herr gesagt: „Denn siehe, der Herr, euer Erlöser, erlitt den Tod im Fleische; darum hat er die Schmerzen aller Menschen gelitten, damit alle Menschen umkehren und zu ihm kommen können.“ (LuB 18:11; Hervorhebung hinzugefügt.)

Sein Leiden ist ein Beweis für seine Liebe, aber noch viel mehr. Es ist das Mittel, mit dem er uns bewegen will, dass wir „umkehren und zu ihm kommen“. Wenn wir ein wenig davon begreifen, was er für uns getan hat – und vor allem, was er für uns erlitten hat –, ist unsere natürliche Reaktion als Kind Gottes, dass wir unsere Dankbarkeit und Liebe zeigen wollen, indem wir ihm gehorchen. Ich finde, dieser Vers ist die prägnanteste und tiefgründigste Beschreibung, wie wir das Evangelium in unser Herz dringen lassen können – und sie kommt vom Herrn selbst.

Das ist die beste Methode, Menschen zur Umkehr zu bewegen und dazu, zu Christus zu kommen: Sie sollen darüber nachdenken, was er für uns getan hat, und vor allem, was er für uns erlitten hat. So macht es auch der Herr.

An ihn denken

Vor einigen Jahren hörte ich, wie Elder Gerald N. Lund von den Siebzigern über einen Zeitschriftenartikel über das Bergsteigen sprach. In dem Artikel ging es um das Sichern – die absolut sichere Methode zum Schutz der Bergsteiger. Ein Bergsteiger bringt sich an eine sichere Stelle, befestigt das Seil an einer festen Stelle und ruft dann seinem Kameraden zu: „Du bist gesichert!“, also „Ich hab dich.“ Der Leiter einer Bergsteigerschule, Alan Czenkusch, schilderte dem Verfasser des Artikels, was er mit dem Sichern erlebt hatte:

„Das Sichern hat Czenkusch die schönsten, aber auch die schlimmsten Momente beim Bergsteigen beschert. Czenkusch fiel einmal von einer hohen Felswand, riss dabei drei eingeschlagene Haken aus der Wand und zog seinen Kameraden vom Felsvorsprung. Der Sturz endete – kopfüber – drei Meter über dem Boden, als sein Kamerad alle Gliedmaßen von sich streckte und den Fall mit seinen ausgestreckten Armen aufhielt.

‚Don hat mir das Leben gerettet’, sagt Czenkusch. ‘Wie geht man dann mit einem solchen Menschen um? Schenkt man ihm zu Weihnachten ein gebrauchtes Bergsteigerseil? Nein, man denkt immer an ihn. Man wird immer an ihn denken.‘“5

Präsident Gordon B. Hinckley hat uns gesagt:

„Kein Mitglied der Kirche [darf] jemals vergessen, welch schrecklichen Preis der Erlöser gezahlt hat, indem er sein Leben gab, damit alle Menschen das Leben haben können: die Qualen in Getsemani, den bitteren Hohn beim Gerichtsverfahren, die schmerzhafte Dornenkorne, die ihm das Fleisch aufriss, das blutdürstige Geschrei des Pöbels, der sich vor Pilatus versammelt hatte, die Einsamkeit und die schwere Last auf dem Weg nach Golgota, den furchtbaren Schmerz, als große Nägel seine Hände und Füße durchbohrten. …

Wir können all das nicht vergessen. Wir dürfen es auch niemals vergessen, denn hier hat unser Erretter, unser Erlöser, der Sohn Gottes, sich stellvertretend für alle Menschen geopfert.“6

Mögen wir immer an ihn denken und an den Preis, den er für unsere Seele gezahlt hat.

Nach einer Ansprache anlässlich einer Andacht an der Brigham-Young-Universität am 14. März 2006.

Immer an ihn denken

Bild

„Der verwundete Christus ist der Meister unserer Seele, er, der noch immer die Narben des Opfers, die Male der Liebe, der Demut und der Vergebung trägt.

Damals wie heute lädt er Alt und Jung ein, vorzutreten und diese Wunden zu sehen und zu berühren (siehe 3 Nephi 11:15; 18:25). Dann denken wir daran, dass wir es sind, um derentwillen unser Herr, wie Jesaja sagt, ‚verachtet und … gemieden [wurde], ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut‘ (Jesaja 53:3). An all das können wir denken, wenn ein junger Priester uns auf Knien auffordert, immer an Christus zu denken.“

Elder Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel, „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, Der Stern, Januar 1996, Seite 63

Anmerkungen

  1. „The Mediator“, Ensign, Mai 1977, Seite 56

  2. „Erstaunt und bewundernd“, Gesangbuch, Nr. 118

  3. „Herr, in Demut flehn wir“, Gesangbuch, Nr. 110

  4. „Reverently and Meekly Now“, Hymns, Nr. 185

  5. In Eric G. Anderson, „The Vertical Wilderness“, Private Practice, November 1979, Seite 21

  6. „Das Symbol unseres Glaubens“, Liahona, April 2005, Seite 4