2004
Der Käfig
September 2004


Der Käfig

„Der Heilige Geist … wird … euch an alles erinnern“ (Johannes 14:26).

Eine wahre Begebenheit

Ich wuchs in Dänemark auf und meine Freunde und ich spielten als Kinder gern Fangen. Doch eines Tages fanden wir es langweilig, immer das gleiche, alte Spiel zu spielen. Also überlegten wir uns etwas Neues und Spannendes.

„Gehen wir doch zum Hafen“, schlug ein Freund vor. „Wir können die Schiffe anschauen und die Fischer beobachten.“

Der Vorschlag gefiel uns, also schwangen wir uns auf das Rad. Dort war wirklich viel mehr los! Die Seeleute putzten die Schiffe und Fischer wuschen und verkauften Fische. Bis zum Verkauf wurden die Fische lebendig in Käfigen gehalten, schwimmenden Kästen mit kleinen Löchern, damit das Wasser hinein- und herausfließen konnte. Die Käfige schwammen zwischen den Schiffen und stießen aneinander, wenn eine Welle sie erfasste.

Aber schon bald machte es uns keinen Spaß mehr, nur zuzusehen.

„Spielen wir doch fangen“, schlug ein Freund vor.

„Schon wieder?“, stöhnte ein anderer.

Mein Freund zeigte grinsend auf die Käfige. „Dort.“

Schon bald sprangen wir alle von einem Käfig zum anderen. Das war viel spannender als daheim Fangen zu spielen. Die glitschigen Käfige wackelten jedes Mal, wenn eine Welle ankam. Auf einmal rutschte ich ab und landete im Wasser. Ich spuckte das Meerwasser aus, zog mich an einem Käfig hoch und sprang von dort auf einen anderen. Aber ich brach mit dem Fuß ein! Die Fische schnappten nach meinen Zehen. Das kitzelte und ich lachte laut auf.

„Hallo, ihr Jungs da!“, rief eine barsche Stimme. Ich schaute auf und sah einen verärgerten Fischer auf uns zukommen. „Geht von den Käfigen weg, sonst macht ihr sie noch kaputt. Wenn ihr hier nicht verschwindet, sage ich es euren Eltern!“

Wir kletterten wieder ans Ufer, zogen unsere nassen Socken aus, befestigten sie am Fahrradlenker und fuhren davon. Unsere Kleidung trocknete im Fahrtwind, als wir nach Hause fuhren.

Meine Sachen waren zwar trocken, aber der Fischgeruch verriet mich. Als ich das Haus betrat, roch meine Mutter das sofort und fragte, was geschehen war.

„Ich bin mit meinen Freunden am Hafen gewesen. Ich habe auf einem Fischkäfig gespielt, bin abgerutscht und ins Wasser gefallen“, gab ich zu.

Zu meinem Erstaunen traten meiner Mutter Tränen in die Augen. „Jens, du darfst dort nie wieder spielen. Stell dir mal vor, was hätte passieren können! Du hättest dich verletzen oder gar ertrinken können.“ Sie drückte mich fest an sich. „Ich würde doch traurig sein, Jens. Was würde ich denn ohne dich machen? Du musst mir versprechen, nie wieder dort zu spielen.“ Ich gab Mutter mein Wort.

Aber ein paar Wochen später kamen meine Freunde vorbei und fragten, ob ich mit zum Hafen kommen wolle. Ich dachte daran, wie viel Spaß das letztes Mal gemacht hatte, stieg auf mein Fahrrad und fuhr mit ihnen. Das Versprechen, das ich meiner Mutter gegeben hatte, hatte ich völlig vergessen.

„Hast’n!“ Ein Freund klatschte mich ab und sprang auf einen hin und her schaukelnden Käfig.

Ich wollte ihm schon hinterher, da sah ich plötzlich das Gesicht meiner Mutter, so, als stünde sie genau vor mir, und sie hatte Tränen in den Augen. Ich blieb stehen und fühlte mich ganz elend. Ich hatte mein Versprechen gebrochen!

„Ich muss jetzt nach Hause“, rief ich meinen Freunden zu.

„Was?“, maulte einer. „Wieso denn? Wir sind doch gerade erst angekommen.“

„Ich muss nach Hause“, wiederholte ich und stieg auf mein Rad.

Meine Freunde schimpften und wollten mich überreden zu bleiben, aber ich hörte nicht auf sie. Einer nach dem anderen fuhren wir dann alle nach Hause.

Ich stellte mein Fahrrad so leise wie möglich ab und ging in mein Zimmer. Ich schämte mich so sehr, dass ich dort gewesen war, obwohl ich doch Mutter versprochen hatte, nicht mehr hinzugehen.

Nach einer Weile kam Mutter in mein Zimmer. „Irgendetwas stimmt doch mit dir nicht, Jens. Was ist los?“

Mit hängendem Kopf sagte ich leise: „Ich bin heute mit meinen Freunden zum Hafen gefahren. Ich hatte vergessen, dass ich dir versprochen hatte, es nicht mehr zu tun. Doch kaum war ich dort, ist es mir wieder eingefallen und bin gleich wieder nach Hause gefahren. Meine Freunde sind auch heimgefahren. Mutti, es tut mir Leid, dass ich es vergessen habe!“

Als ich aufblickte, strahlte Mutter mich an. „Jens! Ich freue mich so sehr, dass du daran gedacht hast. Und dadurch warst du ein Vorbild für deine Freunde, und keinem von euch ist etwas zugestoßen.“

Etwas später brachte sie mir ein Glas Milch und ein Stück frisch gebackenen Kuchen. Mutter machte den besten Kuchen auf der ganzen Welt. Ich war dankbar für den frisch gebackenen Kuchen – aber noch dankbarer war ich für das gute Gefühl, dass ich daran gedacht hatte, das Rechte zu tun.

Jens Kristoffersen gehört zum Zweig Horsens im Pfahl Aarhus in Dänemark.

„Die Gabe des Erinnerns … [wird] durch die Gabe des Heiligen Geistes zuteil.“

Elder Henry B. Eyring vom Kollegium der Zwölf Apostel, „Gedenken und Dankbarkeit“, Der Stern , Januar 1990, Seite 11.