2002
Gistige Krokodile
Oktober 2002


Gistige Krokodile

Ich habe mich schon immer für Tiere und Vögel interessiert. Als ich lesen lernte, habe ich in Büchern über Vögel und Tiere gestöbert und mir auf diese Weise viel Wissen angeeignet. Im Teenageralter kannte ich fast alle Tiere, die es in Afrika gab. Ich konnte einen Klippspringer von einer Schwarzfersenantilope und eine Gemsantilope von einem Gnu unterscheiden.

Ich wollte immer einmal nach Afrika fahren und diese Tiere sehen, und schließlich bot sich mir die Möglichkeit dazu. Meine Frau und ich bekamen den Auftrag, Südafrika zu bereisen. Wir hatten einen vollen Terminkalender und weihten innerhalb von sieben Tagen acht Gemeindehäuser.

Zum Terminplan für den 10. September wollte sich der Missions-präsident nicht so recht äußern. (Das war zufällig mein Geburtstag.) Ich ging davon aus, dass wir nach Johannesburg zurückfliegen würden. Aber er hatte andere Pläne. „Ganz in der Nähe gibt es einen Tierpark“, erklärte er. „Ich habe ein Auto gemietet, und wir werden den morgigen Tag – Ihren Geburtstag – damit zubringen, uns die Tiere in Afrika anzuschauen.“

An dieser Stelle muss ich vielleicht erklären, dass die Tierparks in Afrika ungewöhnlich sind. Die Menschen kommen in einen Käfig, und die Tiere dürfen frei herumlaufen. Es gibt ein gesichertes Gelände, wo die Parkbesucher die Nacht verbringen. Dort bleiben sie bis nach Tagesanbruch sozusagen hinter hohen Zäunen eingesperrt. Sie dürfen zwar umherfahren, ihr Auto aber nicht verlassen.

Weil unser Abendessen erst spät kam, war es draußen schon lange dunkel, als wir uns mit dem Auto auf den Weg zu unserer abgelegenen Holzhütte machten. Wir fanden auch die richtige Abzweigung und fuhren den schmalen Weg hinauf. Kurz darauf blieb der Motor plötzlich stehen. Wir bewaffneten uns mit einer Taschenlampe und ich öffnete die Motorhaube, um nach dem Rechten zu schauen. Als der Schein der Taschenlampe über die staubige Straße glitt, fielen mir als Erstes Löwenspuren auf!

Als ich wieder im Auto saß, überlegten wir uns, dass es vielleicht am besten sei, an Ort und Stelle zu übernachten! Glücklicherweise wur-den wir vom Fahrer eines Tanklastzuges, der das gesicherte Gelände aufgrund technischer Probleme erst zu später Stunde verlassen hatte, aus dieser prekären Lage befreit.

Am Morgen wurden wir wieder in das gesicherte Gelände gebracht. Wir hatten nun kein Auto, und es gab auch keine Möglichkeit, vor dem späten Nachmittag Ersatz zu bekommen. Der Tag im Park war ruiniert, und ich musste auf die Erfüllung eines Lebenstraumes verzichten.

Ich unterhielt mich mit einem jungen Ranger. Er war erstaunt, dass ich so viele afrikanische Vögel kannte. Dann bot er an, den Tag zu retten: „Wir bauen gerade eine neue Aussichtsplattform oberhalb einer Wasserstelle unge-fähr 30 Kilometer von hier entfernt“, sagte er. „Die Plattform ist noch nicht ganz fertig, aber sie ist sicher. Dorthin werde ich mit Ihnen fahren. Wir nehmen auch etwas zu essen mit. Dort können Sie genauso viele Tiere sehen wie beim Herumfahren, vielleicht sogar noch mehr.“

Auf dem Weg zu der Aussichts-plattform bot er an, uns ein paar Löwen zu zeigen. Er bog von der Straße ab, durch das Unterholz, und es dauerte gar nicht lange, da sahen wir ein Rudel von siebzehn Löwen schlafend daliegen. Er fuhr mitten durch sie hindurch.

Wir hielten an einer Wasserstelle, um die Tiere zu beobachten, die zur Tränke kamen. Es herrschte gerade eine lange Dürreperiode, und deshalb war die Wasserstelle ziemlich ausgetrocknet. Eigentlich sahen wir nur schlammige Stellen. Wenn die Elefanten in den weichen Boden traten, bildete sich in ihren Fuß-stapfen Wasser, das die Tiere dann tranken.

Die Antilopen waren besonders nervös. Sie näherten sich der Wasser-stelle, drehten sich aber gleich wieder um und jagten voller Angst davon. Ich konnte sehen, dass keine Löwen in der Nähe waren, und fragte den Führer, warum sie denn nicht tranken. Er antwortete – und das ist die Lektion –: „Krokodile.“

Das konnte ja nur ein Witz sein. Deshalb fragte ich noch einmal mit ernster Stimme: „Wo liegt das Problem?“ Er antwortete wieder: „Krokodile.“

„Unsinn“, sagte ich. „Hier gibt es keine Krokodile. Das kann doch jeder sehen.“

Ich dachte, er würde sich einen Scherz auf Kosten eines ausländischen „Tierexperten“ erlauben, und so forderte ich ihn schließlich auf, uns den wahren Grund zu nennen. Denken Sie daran: Ich wusste gut Bescheid. Ich hatte viele Bücher gelesen. Außerdem weiß doch wohl jeder, dass sich ein Krokodil nicht in den Fußstapfen eines Elefanten verstecken kann.

Er sah, dass ich ihm nicht glaubte. Wahrscheinlich wollte er mir nun eine Lektion erteilen. Wir fuhren zu einer anderen Wasserstelle und stellten uns mit dem Auto auf eine Böschung oberhalb des trüben Wassers, so dass wir nach unten schauen konnten. „Dort“, sagte er. „Sehen Sie selbst.“

Ich sah aber nichts – nur Schlamm, ein wenig Wasser und nervöse Tiere in der Ferne. Dann auf einmal sah ich es! Es war ein großes Krokodil, das es sich im Schlamm bequem gemacht hatte und auf ein argloses Tier wartete, das Durst hatte und trinken wollte.

Nun war ich überzeugt! Als er merkte, dass ich jetzt bereit war, ihm zuzuhören, sprach er weiter. „Die Krokodile sind über den ganzen Park verteilt“, erklärte er, „nicht nur in den Flüssen. Es gibt hier nicht eine einzige Stelle mit Wasser, wo kein Krokodil in der Nähe wäre. Darauf können Sie sich verlassen!“

Der Führer war netter zu mir, als ich es verdient hatte. Beim ersten Mal, als er mich auf Krokodile hinwies, hatte ich mich als Besserwisser gezeigt. Eigentlich hätte er da ja mit Fug und Recht sagen können: „Dann gehen Sie doch hin und schauen Sie selbst nach!“

Ich konnte sehen, dass es dort keine Krokodile gab, und war mir meiner Sache so sicher, dass ich wahrscheinlich geradewegs zur Wasserstelle marschiert wäre, um nachzuschauen, was es dort wirklich gab. Solch arrogantes Verhalten hätte tödlich enden können! Aber der Führer war geduldig und erklärte mir, wie es wirklich war.

Hoffentlich seid ihr klüger, wenn ihr mit euren Führern sprecht, als ich es damals war. Die arrogante Vorstellung, ich wüsste alles, war meiner eigentlich nicht würdig, und sie ist auch eurer nicht würdig. Ich bin nicht gerade stolz darauf, und ich würde mich auch schämen, euch überhaupt davon zu erzählen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass ich euch damit helfen könnte.

Diejenigen, die älter sind als ihr, haben schon ein wenig die Wasserstellen sondiert und warnen nun vor Krokodilen. Damit sind nicht nur die großen, grauen Echsen gemeint, die einen in Stücke reißen können, sondern auch die geistigen Krokodile, die unendlich gefährlicher und trügerischer und viel weniger greifbar sind als die Reptilien in Afrika mit ihrer Tarnfarbe.

Diese geistigen Krokodile können eure Seele töten bzw. verstümmeln. Sie können euch und denen, die euch lieben, den Seelenfrieden rauben. Ihr müsst vor ihnen gewarnt werden, und es gibt in unserem Erdenleben kaum eine Wasserstelle, wo sie nicht lauern.

Während einer weiteren Afrika-reise sprach ich mit einem anderen Ranger in einem anderen Tierpark über dieses Erlebnis. Er versicherte mir, dass sich ein Krokodil tatsächlich im Fußabdruck eines Elefanten verstecken kann – sogar ein Krokodil, das groß genug ist, einen Menschen zu zerfleischen.

Dann zeigte er mir eine Stelle, wo sich ein tragisches Unglück zugetragen hatte. Ein junger Engländer hatte während der Saison im Hotel des Tierparks gearbeitet. Trotz wiederholter Warnungen hatte er das gesicherte Gelände verlassen, um sich etwas anzuschauen, was er auf der anderen Seite einer Pfütze entdeckt hatte, die nicht einmal tief genug war, dass sie seine Tennisschuhe bedeckt hätte.

„Er hatte noch keine zwei Schritte getan“, erzählte der Ranger, „als ein Krokodil ihn gepackt hatte. Und wir konnten nichts tun, um ihn zu retten.“

Anscheinend ist es fast gegen unsere Natur – vor allem in jungen Jahren –, von anderen Rat anzunehmen. Aber es gibt Zeiten, wo unser Leben im wahrsten Sinne des Wortes davon abhängt, dass wir auf Führer hören, und zwar unabhängig davon, wie viel wir zu wissen meinen und wie sehr wir uns etwas wünschen.

Es ist schon ein schrecklicher Gedanke, sich vorzustellen, wie der junge Mann vom Krokodil gefressen wurde. Aber das ist noch lange nicht das Schlimmste, was einem passieren kann. Es gibt etwas im sittlichen und geistigen Bereich, was noch viel schlimmer ist, als von einer Monster-Echse zerfleischt zu werden.

Glücklicherweise gibt es in unserem Leben genug Führer, die so etwas vorhindern, sofern wir bereit sind, hin und wieder Rat anzunehmen. Wenn ihr auf den Rat eurer Eltern, Lehrer und Führer hört, solange ihr noch jung seid, könnt ihr lernen, wie man dem besten Führer überhaupt folgt – nämlich den Eingebungen des Heiligen Geistes. Das nennt man persönliche Offenbarung. Es gibt etwas, was uns vor geistigen Gefahren warnen kann. So gewiss, wie der besagte Führer mich gewarnt hat, so gewiss könnt ihr Signale empfangen, die euch vor den geistigen Krokodilen warnen, die auf euch lauern.

Glücklicherweise gibt es geistige erste Hilfe für alle, die gebissen worden sind. Der Bischof der Gemeinde ist dafür zuständig, diese erste Hilfe zu leisten. Er kann auch alle behandeln, die von geistigen Krokodilen sittlich schwer verletzt worden sind –und miterleben, wie sie wieder vollständig genesen.

Das Erlebnis in Afrika hat mir erneut gezeigt, dass Jesus Christus mich führt und ich ihm folgen muss. Ich folge ihm, weil ich es so will. Ich bezeuge, dass er lebt, dass Jesus der Messias ist. Ich weiß, dass er einen Körper aus Fleisch und Gebein hat, dass er diese Kirche lenkt und dass er uns alle sicher in seine Gegenwart zurückführen möchte.

Nach einer Ansprache auf der Generalkonferenz im April 1976.